Gunther Plüschow
Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau
Gunther Plüschow

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Der letzte Tag

Die Belagerung nahm ihren planmäßigen Fortgang. Immer näher gruben sich die Japaner an uns heran, immer mehr schwere Geschütze hatten sie in Stellung gebracht, und mehrere Male hatten größere japanische Infanteriemassen nächtliche Sturmversuche auf unsere Infanteriewerke gemacht, wobei sie allerdings gründlich abgeschlagen wurden. Nun wurden die Infanteriewerke und besonders die davor liegenden Drahtverhaue unter einem ständigen feindlichen Artilleriefeuer gehalten, und auch unsere Geschütze schwiegen kaum noch. Leider waren wir gezwungen, mit der wenigen Munition, die wir besaßen, sparsam umzugehen.

Die außerordentliche Länge der Belagerung, das dauernde Artilleriefeuer und die furchtbare Spannung, in der wir lebten, fing allmählich an zu wirken.

Auch meine Nerven begannen zu streiken.

Zum Essen konnte ich mich kaum noch zwingen, und schlafen konnte ich bald überhaupt nicht mehr. Wenn ich nachts die Augen schloß, dann hatte ich sofort im Geiste meine Karte vor mir und sah unter mir das Schutzgebiet liegen, zerrissen von den feindlichen Gräben und Stellungen. Und dazu brummte mir der Kopf und sausten mir die Ohren von dem Radau des Propellers, und dazwischen hörte ich immer wieder die Worte des Chefs des Stabes: 87

»Plüschow, denken Sie daran, daß Sie jetzt für Tsingtau wichtiger sind als das tägliche Brot! Kommen Sie mir ja zurück und halten Sie das Flugzeug heil! Und dann denken Sie daran, wie wenige Granaten wir haben, und daß wir sie auf Ihre Beobachtungen hin verschießen. Seien Sie sich der Verantwortung bewußt!«

Ja, weiß Gott, das war ich mir!

Und ich hatte nichts mehr weiter im Kopfe als die feindlichen Stellungen, und stundenlang überkreuzte ich sie im Geiste immer wieder und ging mit mir zu Rate, ob ich das, was ich gemeldet, wirklich gesehen, ob ich mich nicht vielleicht getäuscht hätte, und ob nicht dadurch die wenigen Granaten, die wir besaßen, durch meine Schuld nutzlos verschossen wurden.

Und wenn ich dann mein Hirn stundenlang zermartert hatte, schlief ich manchmal gegen drei Uhr morgens, an Geist und Körper zerschlagen, ein. Und kaum, daß ich eingeschlafen war, da kam die Pflicht, und mein Monteur stand vor mir und meldete mir mein Flugzeug klar.

Da gab's dann kein Zögern mehr.

Und bald stand ich an meiner Taube und prüfte alle Teile noch einmal genau.

Oft wollten mir dann meine Nerven noch schnell einen Streich spielen, und auch mein Magen klappte zusammen.

Aber wenn ich erst auf meinem Führersitz saß, den Gashebel in der Hand hatte und meinen Leuten mit dem Kopfe ein Lebewohl zugenickt 88 hatte, dann gab's nur eins für mich: Ruhe und den eisernen Willen, meinen Auftrag auszuführen.

Und wenn erst der Start hinter mir und ich glücklich einige hundert Meter hoch war, dann war alles wieder in schönster Ordnung.

Eins kam hinzu, was mich besonders niederdrückte: das war die furchtbare Einsamkeit, das ewige Alleinsein in meinem Flugzeug. Ja, hätte ich einen Kameraden mit mir gehabt, und wäre es auch nur gewesen, um ihm ab und zu zunicken zu können, das würde für mich eine wahre Erleichterung gewesen sein.

Und wenn ich mehrere Tage des schlechten Wetters oder meines Propellers wegen nicht hatte fliegen können und wieder über den feindlichen Linien schwebte, dann hatte sich so furchtbar viel verändert.

Eine wahre Verzweiflung packte mich dann oft in der Luft.

Wo sollte ich bei dem vielen Neuen, das es da unten gab, bloß anfangen? Wie sollte ich mich aus dem Gewirr von Gräben, Zickzacks und Stellungen herausfinden? Ganz mutlos ließ ich dann die Karte sinken.

Aber das waren nur Sekunden.

Dann aber raffte ich mich zusammen, nahm meinen Bleistift zur Hand und sah nach unten. Und bald darauf hörte und merkte ich nichts mehr um mich herum und sah nur noch den Feind und meine Aufzeichnungen. 89

Der siebenundzwanzigste Oktober war für uns ein Jubeltag. Da traf von Seiner Majestät Kaiser folgendes Telegramm ein:

»Mit Mir blickt das gesamte deutsche Volk voll Stolz auf die Helden von Tsingtau, die getreu den Worten ihres Gouverneurs ihre Pflicht erfüllen. Seien Sie alle Meines Dankes bewußt!«

Da gab es wohl keinen in Tsingtau, dem das Herz nicht höher schlug. Unser Oberster Kriegsherr, der zu Hause so schwer zu arbeiten hatte, vergaß seine getreue kleine Schar hier im fernen Osten nicht.

Da gelobte sich wohl ein jeder in seinem Innersten nochmals, so zu kämpfen und seine Pflicht bis zum letzten zu tun, daß sein Kaiser mit ihm zufrieden sein könnte.

Bald rückte der einunddreißigste Oktober, der Geburtstag des Mikado, heran. Durch Kundschafter hatten wir erfahren, daß die Japaner an diesem Tage Tsingtau bestimmt nehmen wollten. Den Tag zu beschreiben ist unmöglich.

Die Japaner hatten bis zu dieser Nacht ihre sämtlichen Landbatterien fertig gebaut, und in der Frühe um sechs Uhr dieses einunddreißigsten Oktober Neunzehnhundertvierzehn donnerten auf einmal von Land und See sämtliche feindlichen Geschütze und warfen ihren furchtbaren Eisenhagel auf uns herab.

Als erstes schossen die Japse die Petroleumtanks in Brand, und bei dem herrlichen blauen 90 Himmel mit vollkommener Windstille stand die riesige, dicke Qualmsäule wie ein drohendes Rachezeichen aufrecht da. Die Japaner schossen von Land in erster Linie mit schweren Haubitzen bis zum Achtundzwanzig-Zentimeter-Kaliber hinauf, und von See krachten die schwersten Schiffsgeschütze. Das Fauchen und Herabsausen der Haubitzgeschosse, das Zischen der Flachbahngeschosse, das Aufschlagen der Granaten und Sprenggranaten und die Detonation beim Krepieren, dann das Bellen der zerplatzten Schrapnells und das Dröhnen unserer eigenen schweren Geschütze – das war ein Lärm, als ob die Hölle selbst losgelassen wäre.

Und wie wurden die Werke und all das in der Nähe liegende Gelände mitgenommen! Ganze Bergkuppen wurden abgetragen, tiefe Krater ausgestampft.

Endlich kam der Abend, und die Heftigkeit des feindlichen Feuers ließ nach. Wir sowohl wie der Feind glaubten bestimmt, daß unsere sämtlichen Werke niedergekämpft seien, denn sie glichen zum Teil nur noch Trümmerhaufen. Aber als unsere braven blauen Jungens an ihre Kanonen eilten, die zum Teil aus Erd- und Steinmassen förmlich herausgegraben werden mußten, fanden sie fast sämtliche Geschütze noch heil oder nur gering beschädigt.

Da fingen plötzlich mitten in der Nacht, als wir hören und sehen konnten, wie die feindlichen Sturmkolonnen sich sammelten, unsere sämtlichen 91 Eisenschlünde an zu feuern und überschütteten die feindlichen Batterien und die heranrückenden Feinde mit ihrem vernichtenden Feuer. Die Wirkung dieser Beschießung muß für die Japaner verheerend gewesen sein.

Es erfolgte kein Sturm, wie beabsichtigt, und am nächsten Tage setzte das feindliche Artilleriefeuer gegen Mittag sehr flau wieder ein. Allerdings war es noch so kräftig, daß das kleine Fort Hu-Chuin-Huk allein fünfzig Volltreffer aus schwersten Haubitzen erhielt.

Die Japaner zogen aus dieser Nacht ihre Lehren. Und acht furchtbare Tage und Nächte folgten für uns, an denen das feindliche Artilleriefeuer auch keine Minute mehr stockte.

Bei diesem furchtbaren Feuer hätte nach menschlicher Berechnung kein Einziger von uns am Leben bleiben dürfen. Aber wie durch ein Wunder blieben unsere Menschenverluste gering. Die japanische Artillerie schoß vorzüglich, was nicht überraschte, da ein Teil ihrer Artillerieoffiziere bei uns in Jüterbog auf Schießschule gewesen war. Aber ihre Munition war schauderhaft. Und das war unser Glück.

Trotz des starken Feuers und der schweren Steilfeuergeschütze ist es ihnen keinmal gelungen, eine Kasematte, einen der bombensicheren Räume oder ein Infanteriewerk zu durchschlagen. Dieses und eine enorme Anzahl von Blindgängern war Grund unserer geringen Verluste. Und den Nörglern in Deutschland, die ich leider getroffen 92 habe, die meinten, der geringen Verlustzahl wegen wäre Tsingtau nichts Rechtes gewesen, möchte ich eines vor Augen halten: Wir hatten nur eine Verteidigungslinie mit fünf kleinen Infanteriewerken, einer Brustwehr und einem kümmerlichen, schmalen Drahthindernis.

Und diese Linie war sechstausend Meter lang und wurde von dreitausend Mann gehalten. Eine zweite Stellung und eine zweite Linie, und vor allen Dingen Menschen, die diese hätten besetzen können, gab es nicht mehr, denn wir waren ja im ganzen nur etwas über viertausend Mann!

Und als daher nach diesem achttägigen, schwersten Artilleriefeuer das Drahthindernis weggeblasen war und die Brustwehr weggeschossen, da war es den dreißigtausend Japanern, denen wir wochenlang standgehalten hatten, ein leichtes, durchzustoßen und Tsingtau zur Übergabe zu zwingen.

In den ersten Tagen des November bereiteten wir uns auf den Endkampf vor.

Am ersten November nachts wurde unser treuer Bundesgenosse, der österreichische Kreuzer »Kaiserin Elisabeth«, nachdem er seine letzte Granate verschossen hatte, von seiner wackeren Besatzung in die Luft gesprengt und versenkt.

Einige Tage darauf folgte ihm unser letztes Schiff: das tapfere kleine Kanonenboot »Jaguar«.

Dann folgten unser Dock und unser Riesenkran, und bald darauf war die Werft ein Trümmerhaufen. 93

Unsere Geschütze hatten sich verschossen, einige waren durch das feindliche Artilleriefeuer vernichtet, die meisten sprengten wir selbst in die Luft, nachdem sie ihre Pflicht erfüllt hatten.

Am fünften November Neunzehnhundertvierzehn mußte auch ich ans Zerstören gehen, und zwar galt es diesmal meinem Doppeldecker. Durch mühsamste Arbeit hatte ich mit Hilfe des früheren österreichischen Fliegerleutnants Clobuczar und der Werft einen wundervollen, großen Wasserdoppeldecker gebaut. Dieser war nun fertig geworden, und ich wollte ihn jetzt einfliegen und mit ihm meine Erkundungen fortsetzen, da ich meinen Landflugplatz, der, nur vier- bis fünftausend Meter vom Feinde entfernt, von diesem dauernd unter Artilleriefeuer gehalten wurde, nicht mehr benutzen konnte.

Nun wurde doch nichts mehr aus meinem Doppeldecker.

All unsere Arbeit und Mühe war leider vergebens gewesen.

Dann am Nachmittage, da stand ich vor meinem Gouverneur, und er sagte zu mir:

»Wir erwarten stündlich den Hauptsturm der Japaner! Sehen Sie zu, daß es Ihnen gelingt, morgen früh die Festung auf Ihrem Flugzeuge zu verlassen. Ich fürchte allerdings, der Japaner wird Ihnen keine Zeit mehr dazu lassen. Und nun, Gott befohlen, und kommen Sie gut durch.

Und haben Sie Dank für die Arbeit, die Sie für Tsingtau leisteten!« 94

Und damit gab er mir die Hand.

»Ich melde mich gehorsamst aus der Festung!«

Damit war ich entlassen.

Und nun folgte ein kurzes Abschiednehmen von meinen Vorgesetzten und Kameraden, und ein großer Stoß Privatbriefe wurde mir mitgegeben.

Dann ging ich zum letzten Male in meine Villa und nahm Abschied von meinen Räumen, vielen liebgewordenen Gegenständen, machte meine Stalltür auf und ließ mein Pferdchen und meine Hühner laufen, und dann ging's runter zu meinem Flugzeug, um es zu seinem letzten Flug klarzumachen.

Dann saß ich über meine Karte gebeugt, lernte sie fast auswendig und rechnete und rechnete.

Und dann ging ich nachts hinauf zum letzten mal zu der Punkt-Kuppe, wo mein guter Freund, der Oberleutnant zur See Aye, seit Wochen trotz schwersten Artilleriefeuers bei seiner kleinen Batterie ausharrte, und von wo aus man einen herrlichen Ausblick über ganz Tsingtau und das gesamte Vorgelände hatte. Überwältigt von den Anblick, der sich hier bot, blieb ich lange Zeit wie gebannt auf der höchsten Felsspitze sitzen. Unter mir wogte ein züngelndes Heer greller Blitze, die von den Mündungsfeuern der wütend hämmernden feindlichen Geschütze herrührten; und wie ein goldenes Band zog sich von Meer zu Meer das Gewehr- und Maschinengewehrfeuer, welches unsere Leute dort unten im Tale abgaben. Dicht über meinem Kopfe da war ein 95 Fauchen, Zischen und Sausen von Tausenden der schwersten Geschosse, welche ganz dicht über diese Kuppe hinwegfegen mußten, damit sie ihr Ziel noch erreichen konnten. Hinter mir dröhnten unsere eigenen Haubitzen ihre allerletzten Grüße herüber, und von ganz weither, vom letzten Südzipfel Tsingtaus, grollten die Einundzwanzig-Zentimeter des Forts Hsiauniwa ihren ehernen Schwanengesang.

Zerwühlt im Innersten meiner Seele kehrte ich zu Aye zurück, und nach einem herzlichen kameradschaftlichen Abschiede, bei dem er mir zu meinem kommenden Fluge alles Gute wünschte, drückten wir uns kräftig die Hand und trennten uns.

Ich war der letzte Offizier in Tsingtau, der ihm Hand geschüttelt hat. Wenige Stunden später fiel er in heldenmütigem Kampfe gegen dreißigfache japanische Übermacht samt seiner kleinen Schar, als sie die Geschütze nicht übergeben wollten.

Ein leuchtendes Beispiel edlen Heldentums.

Die mir jetzt noch bleibende Zeit blieb ich mit meinen vier braven Leuten bei meinem Flugzeuge klar stehen, um jeden Augenblick, falls die Japaner stürmen und durchstoßen würden, meinen Auftrag ausführen zu können.

Am sechsten November Neunzehnhundertvierzehn frühmorgens, als der Mond noch hell schien, stand mein Flugzeug klar am Start, und vergnügt brummte der Propeller sein Morgenlied.

Zeit war nicht mehr zu verlieren. Der Platz 96 war dadurch, daß er von den Japsen unter Granat- und Schrapnellfeuer gehalten wurde, höllisch ungemütlich geworden. Kurz prüfte ich nochmals meine ganze Maschine, dann gab's noch einen kräftigen Händedruck meiner vier braven Leute zum Abschied, und noch einmal streichelte ich den Kopf meines treuen Hundes, dann gab ich Vollgas, und wie ein Pfeil schoß die Taube in die Nacht hinaus.

Da plötzlich, als ich eben dreißig Meter hoch und etwa über der Mitte des Platzes war, erhielt mein Flugzeug einen furchtbaren Stoß, und nur mit eiserner Faust konnte ich die Maschine zur Ruhe zwingen und vor dem Absturz bewahren. Eine feindliche Granate war gerade unter mir krepiert, und der Luftdruck der Detonation hätte mich beinahe zu Boden geschleudert.

Aber gottlob! Außer einem faustgroßen Loch, das ein Granatsplitter in meine linke Tragfläche gerissen hatte, war kein Schaden angerichtet.

Nun kamen nur noch die üblichen Schrapnells hinter mir her. Das waren die letzten Abschiedsgrüße der Japaner und ihrer englischen Bundesbrüder für mich.

Als ich hoch genug war, drehte ich noch einmal um.

Da lag das liebe, kleine Tsingtau, das so viel durchgemacht und so viel noch auszuhalten hatte, unsere geliebte zweite Heimat, das Paradies auf Erden!

Bis in meine einsame Höhe drang das Dröhnen 97 der Geschütze, das Krachen der Granaten und das Knattern der Gewehre und Maschinengewehre.

Ein unendliches Meer von aufzuckenden Blitzen ließ deutlich die beiden Kampflinien erkennen. Das alles waren die Anzeichen des begonnenen Sturmangriffes und der verzweifelten Gegenwehr.

Ob wir diesen dritten Sturmangriff auch noch aushalten würden?

Mit der Hand winkte ich nach unten. Lebwohl, Tsingtau! Lebt wohl, ihr treuen Kameraden, die ihr dort unten kämpft!

So unendlich schwer wurde mir dieser Abschied, es würgte mir etwas in der Kehle, und schnell riß ich mein Flugzeug herum und nahm Kurs auf Kap Jäschke.

Und als die Sonne in all ihrer Pracht aufging, schwebte ich schon hoch oben im blauen Äther und über südlich liegenden wilden Gebirgen.

Der modernste »Blockadebruch« war mir gelungen! 98

 


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