Gunther Plüschow
Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau
Gunther Plüschow

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Die Flucht

Mit der Zeit wurde die Gefangenschaft unerträglich. Keine Briefe von Hause, nicht die vielen herrlichen Pakete, die mir von lieber Hand gesandt wurden, halfen mir; auch nicht die treuen Kameraden, nicht das Hockeyspiel, dem ich mich mit einem derartigen Eifer hingab, daß ich abends wie tot vor Müdigkeit hinsank.

Nichts half, alles war vergebens.

Endlich hatte auch mich, wie so unendlich viele vor mir, schon die Gefangenenkrankheit gepackt.

Die Krankheit der furchtbarsten Verzweiflung, der vollständigsten Hoffnungslosigkeit.

Trostlos!

Stundenlang lag ich wie viele andere im Grase und starrte mit weit geöffneten Augen den blauen Himmel an, und meine ganze Seele sehnte sich empor zu den weißen Wölkchen dort oben und wanderte mit ihnen nach der fernen, lieben Heimat. Und wenn gar ein englischer Flieger ruhig und sicher am blauen Firmament vorbeiflog, dann krampfte sich das Herz zusammen, und wilde verzweifelte Sehnsucht schüttelte mich. Der Zustand wurde immer schlimmer, ich wurde gereizt und nervös und unfreundlich gegen meine Kameraden und kam seelisch und körperlich herunter. Und dabei konnte ich doch eigentlich noch zufrieden sein, ich hatte wenigstens was mitmachen können und viel erlebt! Aber so viele andere waren schon 189 in den ersten Gefechtstagen verwundet in Feindeshand gefallen, und die unglücklichsten waren die, welche bei Beginn des Krieges aus Amerika gekommen waren, dort ihr Hab und Gut, ihr alles hatten stehen und liegen lassen, um ihrem Vaterland zu dienen, um dann durch den Verrat der Engländer, bevor sie überhaupt die Heimat gesehen hatten, gefangengenommen zu werden.

Unsere Stimmung wurde sehr beeinträchtigt dadurch, daß wir keinerlei Kriegsnachrichten aus Deutschland erhielten. Und wenn wir auch selbstverständlich den englischen Lügenmeldungen nicht Glauben schenkten, es hatte mit der Zeit doch gewaltigen Einfluß auf uns, daß wir wochen- und wochenlang nichts als Gemeinheit gegen Deutschland und nichts als Niederlagen, Revolution und Hungersnot über Deutschland lasen. Die Ungewißheit war auch hier das Schrecklichste, und ganz besonders traf uns die Nachricht von dem gemeinen Verrat Italiens.

Das Triumphieren in den englischen Zeitungen!

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Es mußte etwas geschehen, wenn ich nicht gänzlich verzweifeln wollte.

Tag und Nacht hatte ich geplant, gegrübelt und überlegt, wie ich dieser elenden Gefangenschaft entrinnen könne. Pläne über Pläne hatte ich entworfen und wieder verwerfen müssen. Mit größter Ruhe und Überlegung mußte hier ans Werk gegangen werden, falls etwas gelingen sollte. 190

Stundenlang ging ich nun an den verschieden Seiten der Hindernisse auf und ab, dabei unauffällig jeden Draht und jeden Pfahl beobachtend. Stundenlang lag ich im Grase in der Nähe einzelner Stellen, die mir günstig schienen, tat als ob ich schliefe, beobachtete dabei aber scharf jede einzelnen Gegenstand und die Wege und die Gewohnheiten jedes einzelnen Postens.

Die Stelle, an der ich über den Stacheldraht wollte, stand bei mir fest. Nun handelte es sich bloß noch darum, wie weiterkommen, wenn erst das Hindernis überwunden war. Wir besaßen weder Karte von England, noch Kompaß oder Fahrplan, noch irgendein Hilfsmittel. Sogar die genaue Lage von Donington Hall war uns gänzlich unbekannt. Den Weg bis Donington Castle kannte ich, den hatte ich mir ja auf dem Hinmarsche gründlich eingeprägt. Durch einen Offizier, der zufällig statt von Donington Castle von Derby im Auto gefahren war, erfuhr ich daß seiner Schätzung nach Derby etwa fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer nördlich von Donington Hall liegen müsse und daß er, bevor das Auto in das Dorf eingebogen wäre, eine große Brücke passiert hätte. Nun freundete ich mich mit einem alten biederen englischen Soldaten an, schenkte ihm gelegentlich auch einige Zigarren und lud ihn ab und zu zu einem Glase Bier in die Kantine ein. Nachdem wir schon mehrere Male zusammengesessen hatten, sagte ich ihm, es müsse doch sehr langweilig sein, dauernd 191 in Donington zu sitzen, ob er denn gar keine Abwechslung habe. O ja, meinte er, ab und zu fahre er Rad, und manchmal führe er auch damit in Kientopp nach Derby.

»Was, Derby?« fragte ich, »das ist ja viel zu weit für Sie, dazu sind Sie ja viel zu alt!«

»Ich und zu alt? No, Sir! Da kennen Sie einen englischen Tommy schlecht, wenn ich auf meinem Rade sitze, da nehme ich es mit jedem Jungen auf, und in drei bis vier Stunden habe ich die Strecke nach Derby schon zurückgelegt.«

An diesem Tage hatte ich genug erfahren. In der nächsten Woche traf ich meinen alten Freund wieder. Wir begrüßten uns, und ich drückte ihm ein paar Zigarren in die Hand, die ich, trotzdem ich Nichtraucher bin, stets bei mir führte.

»He, sag mal, Tommy,« fing ich plötzlich an, »da habe ich gestern eine Wette mit einem Kameraden gemacht. Ich behaupte, Derby liegt nördlich von uns, mein Kamerad behauptet, es läge südlich. Wenn ich gewinne, kriegst du einen ordentlichen Topf Bier mit ab.«

Das Whiskyauge meines Freundes glänzte freudig auf, und er versicherte mir mit heiligen Eiden, daß ich recht habe, und daß Derby ganz bestimmt nördlich von Donington Hall läge.

Nun war ich klar.

Und mit einem meiner Marinekameraden, dem Oberleutnant zur See Trefftz, der vorzüglich Englisch sprach und England genau kannte, beschloß ich, gemeinsame Sache zu machen. 192

Der vierte Juli Neunzehnhundertfünfzehn war zu unserer Flucht festgesetzt, alles dazu einexerziert und klappte, alle Vorbereitungen waren getroffen.

Am vierten Juli früh meldeten Trefftz und ich uns krank.

Bei der Frühmusterung um zehn Uhr wurde beim Aufrufen unserer Namen »krank« gemeldet, und nach beendeter Musterung kam der wachthabende Sergeant auf unsere Stuben und fand uns krank in den Betten vor.

Alles in schönster Ordnung.

Der Nachmittag und die Entscheidung rückten heran.

Gegen vier Uhr zog ich mich an, nahm alles, was ich zur Flucht mitzunehmen nötig erachtet hatte, an mich, aß noch einige dicke Butterbrotstullen und nahm dann Abschied von meinen Stubenkameraden und besonders von meinem treuen Freunde Siebel, den ich leider nicht mitnehmen konnte, da er nicht Seemann war und kein Englisch sprach.

Der Verfasser als »Vagabund« in London

Draußen war ein heftiges Gewitter im Gange, und wolkenbruchartig strömte der Regen vom Himmel herab. Die Posten standen naß und frierend in ihren Schilderhäuschen, und daher fiel es auch keinem auf, daß trotz des Regens noch zwei Offiziere Lust verspürten, im Park spazierenzugehen. Im Park befand sich eine von Büschen umgebene Grotte, von der aus man den ganzen Park und den Stacheldraht übersehen, selbst aber nicht gesehen werden konnte. 193

Hier hinein verkrochen sich Trefftz und ich.

Ein kurzer Abschied noch von S., der uns mit Gartenstühlen zudeckte, und wir waren allein.

Nun konnte nur noch die Vorsehung und unser Glück für uns weitersorgen.

In atemloser Spannung warteten wir. Die Minuten wurden zu Ewigkeiten, doch langsam und sicher verstrich eine Stunde nach der anderen. Als die Turmuhr laut und vernehmlich sechs Uhr schlug, klopfte uns gewaltig das Herz. Wir hörten, wie zur Musterung geklingelt wurde, das Kommando »Stillgestanden!«, dann wurde mit lautem Geräusch das Drahthindernis der Taggrenze geschlossen. Bange Viertelstunden durchlebten wir. Wir wagten überhaupt nicht zu atmen. Jeden Augenblick erwarteten wir, bei unseren Namen gerufen zu werden. Es wurde sechs Uhr dreißig, nichts ereignete sich. Ein Alp wich von unseren Herzen. Gott sei Dank, der erste Akt war geglückt. Denn nachdem bei der Musterung bei unseren Namen wiederum »krank« gemeldet war und die Offiziere wegtreten durften, liefen ein Kamerad für mich und ein anderer Kamerad für Trefftz so schnell wie möglich hinten ums Gebäude herum und legten sich in unsere Betten. Und als der Feldwebel kam, konnte er zufrieden feststellen, daß die beiden Kranken anwesend wären. Da also alles in Ordnung war, wurde wie an jedem Abend das Nachthindernis geschlossen, ja sogar die Posten vom Taghindernis eingezogen, und damit waren wir uns selbst überlassen. Der 194 außerordentliche Regen kam uns sehr zu statten, denn sonst pflegten die englischen Soldaten abends in unserem Park herumzutollen, wobei ein Entdecktwerden sehr leicht möglich gewesen wäre.

Stunde um Stunde verrann. Stumm lagen wir da, nur ab und zu stießen wir uns gegenseitig an und nickten uns zu vor Freude, daß bis jetzt alles so gut geklappt hatte.

Um zehn Uhr dreißig abends wuchs unsere Erregung aufs äußerste. Die zweite Probe mußte bestanden werden. Deutlich hörten wir das Signal zum Schlafengehen, und aus dem geöffneten Fenster meines früheren Zimmers erscholl kräftig »Die Wacht am Rhein«. Das war das Zeichen für uns, daß alles auf dem Posten wäre.

Der wachthabende Offizier mit einem Sergeanten schritt sämtliche Stuben ab und überzeugte sich, daß keiner fehlte. Durch wochenlange Beobachtungen hatte ich festgestellt, daß die wachthabenden Offiziere stets denselben Weg wählten, um nach der Ronde auf dem kürzesten Wege in ihre Behausungen zu gelangen. So war es auch heute. Die Ronde fing in dem Zimmer an, wo Trefftz fehlte. Es war selbstverständlich, daß ein anderer bereits in dessen Bett lag.

»All present?«

»Yes Sir!«

»All right, good night, gentlemen!«

Und so ging die Ronde weiter. Kaum war sie um die Ecke gebogen, als auch schon zwei der anderen Kameraden in entgegengesetzter Richtung 195 herum und in mein Zimmer liefen, und so war es selbstverständlich, daß auch hier alles »present« war.

Die Aufregung und die gespannteste Erwartung, in der wir uns während dieser Zeit befanden, kann man sich kaum vorstellen. Im Geiste erlebten wir ja alles mit, und da es merkwürdig lange still blieb, befürchteten wir schon, daß alles verloren sei. Mit eiskalten Händen, kaum atmend, das Gehör bis auf das äußerste angespannt, lagen wir da.

Endlich um elf Uhr abends erscholl ein lauter Jauchzer. Das war unser verabredetes Signal, daß alles geglückt war. 196

 


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