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Dreizehntes Kapitel

Endlich war Prinz Roger zu seinem königlichen Vater vorgedrungen. Er fand ihn in einem größeren Salon, umgeben von den Ministern und zahlreichen höheren Offizieren, mit dem Kronprinzen in ihrer Mitte. Vor dem sitzenden König sank er auf die Kniee nieder und sprach mit flehend erhobenen Händen:

»Gehen Sie nicht weiter, Majestät! Ich flehe Sie an im Namen des Vaterlandes und aller gutgesinnten Untertanen. Lassen Sie es das Volk durch irgend eine Kundmachung wissen, daß es nichts mehr zu befürchten hat. Die Deputierten werden den unseligen Antrag zurückziehen, wenn man ihnen jetzt Versöhnung anbietet. Aber wenn nichts geschieht, Majestät, wird es zu den beklagenswertesten Ereignissen kommen.«

Der König forderte ihn nicht auf sich zu erheben. Er sah auf ihn nieder und sagte mit nervöser Bewegung der Kinnlade zornig lachend:

»Da bist du ja, Roger der Volksfreund! Mußt natürlich etwas tun! Aber es hilft dir nichts, 's ist ein undankbares Geschäft, laß dir's gesagt sein. Auf der Nase wollten sie mir tanzen, für einen faulen Schmerbauch haben sie mich gehalten. Jetzt sollen sie mich kennen lernen, wenn sie Geschichten machen. Dir könnte es passen, den Retter zu spielen. Hier steht dein Bruder, der Kronprinz, der hat die Gewalt von mir. Du bist nichts, du hast zu schweigen! Steh auf und grüß mir deine Frau.«

Roger stand auf, verneigte sich vor seinem Vater und ging, mühsam Haltung wahrend, hinaus. Es folgte ein höchst unbehagliches Familienfrühstück, unter dem Vorsitze des Königs, dem die Kronprinzessin und Clara Eugenie zur Seite saßen. Neben dieser hatte auf der anderen Seite der Kronprinz Platz genommen. Der König trank viel und warf in die eisige Stimmung Scherze, die man zu belächeln sich verpflichtet fühlte. Im übrigen wurde Gleichgültiges besprochen und jede Andeutung des ernsten Augenblickes ängstlich vermieden.

Nach dem Frühstück fand Golo Gelegenheit, auf einen kurzen Augenblick Constanze beiseite zu sprechen. Seit Beatens Verheiratung bildete sie mit ihren beiden Schwestern allein die Mädchenwelt des Königshauses, eine Situation, unter der sie heute wieder schwer gelitten hatte.

»Du wirst wohl zum ersten Mal im Hotel Royal übernachten,« sagte Golo zu ihr. »Ich wüßte aber ein anderes Quartier, das mir lieber wäre für dich.«

»Ach Golo, was wird werden?« entgegnete Constanze. »Ich glaube fast, ich fürchte dich.«

»Alle mögen es, ja sie sollen es, nur du nicht, mein Mädchen!« sagte Golo.

»Sei barmherzig, Golo!«

»Wie meinst du das?«

»Ich ahne, daß es darum gehen wird.«

»Sag mir was, das ich im Sinn behalte.«

Constanze sah ihn mit ernster Zärtlichkeit an und sagte:

»Constanze soll nicht um dich weinen. Daran denke.«

In der Stadt war überall angeschlagen, daß der Belagerungszustand erklärt sei, und die öffentlichen Lokale hatten die Weisung, um elf Uhr nachts zu schließen. Man fühlte aus dem Straßenleben instinktiv eine erregtere Stimmung heraus, aber Polizei- und Militärpatrouillen bekamen keine Gelegenheit einzugreifen. Erst nach dem ungewohnt frühen Schluß der Gasthäuser sammelte sich müßiges Volk auf den Straßen, das noch nicht Lust hatte nach Haus zu gehen. Da kam es an manchen Stellen zu Reibereien mit den Polizisten, und es setzte einige blutige Köpfe ab. Etwas anderes nahm die Aufmerksamkeit der nachtwachenden Behörden viel mehr in Anspruch. Die an zwei verschiedenen Bahnhöfen einlaufenden Spätzüge waren in ganz ungewöhnlicher Weise überfüllt, und die den Bahnhöfen zur Stadt entströmenden Mengen zerstreuten sich rasch nach allen Richtungen, ohne daß die Gasthöfe und Herbergen besonders beansprucht worden wären. Mit den ersten Frühzügen trat dann dasselbe Bild wieder in Erscheinung. Jetzt kamen aber auch Nachrichten, in den äußersten Vororten ringsum die Stadt vollzögen sich offenbar genau organisierte Zusammenrottungen von Mengen vorzugsweise jüngerer Männer. Dann folgte die Meldung, die Mengen setzten sich geordnet in Bewegung, und aus gewissen Häusern würden Gewehre und Munition verteilt. Weitere Nachrichten besagten, die sich entgegenstellende Polizei sei da und dort überwältigt worden, Schüsse seien gefallen, es gab einige Tote und Verwundete. In gewissen Zugangsstraßen zum Mittelpunkt der Stadt herrschte eine kurze Weile aufgeregtes Leben, dann wurde es auf einmal ganz still. Die eben geöffneten Geschäfte ließen wieder die Rolladen herab, nur an den Fenstern zeigten sich neugierige Köpfe.

Der Kronprinz hatte noch während der Nacht die Order zur Marschbereitschaft für die Truppen der Hauptstadt ergehen lassen, und weiter noch ein Regiment Kavallerie in einem nahen Garnisonsort und ein Regiment Infanterie in einer etwas entfernteren Nachbarstadt angewiesen, frühmorgens in Sonderzügen einzutreffen. Schon lange hatte man sie erwartet. Jetzt, um neun Uhr, traf von beiden Regimentern die Nachricht ein, sie hätten die Sonderzüge verlassen müssen, weil die Gleise zerstört waren, und zögen auf der Landstraße im Eilmarsche heran. Diese Zerstörungen mußten erfolgt sein, alsbald nachdem die Zuzüge der Rebellen aufgehört hatten. Daß dabei die Telegraphenlinien noch unbeschädigt waren, erklärte sich dadurch, daß die Rebellenführer sich diese wohl selber zur Verfügung zu halten Anlaß hatten.

Der Kronprinz, der bisher die kaltblütigste Ruhe gewahrt hatte, gab jetzt, den Stadtplan zur Hand, den Befehl, die Artillerie sollte sich in der großen Avenue, die Geschütze gegen das Zentrum gerichtet, aufstellen, und das Infanterieregiment die beiden, durch eine breite Straße verbundenen Hauptmarktplätze besetzen. Dann sagte er zu den ihn umgebenden höheren Offizieren:

»Ich werde in wenigen Minuten bereit sein, die Gardereiter selbst zu führen. Wir drängen die Bande der Infanterie und Artillerie entgegen. Einige von Ihnen begleiten mich, die anderen eilen den anrückenden Truppen entgegen und führen sie in die Stadt herein an die Stelle, wo sie bis dorthin nötig sein werden.«

Die Offiziere drangen jetzt in ihn, daß er seine Person nicht der Gefahr aussetzen dürfe. Einige äußerten die Absicht, zum König zu eilen und dessen Einspruch herbeizuführen.

»Lassen Sie Seine Majestät unbehelligt,« befahl der Kronprinz mit gellender Schärfe. »Wir dürfen nicht schon jetzt anfangen, die Gesundheit meines allergnädigsten Herrn Vaters durch Aufregung zu gefährden.«

Und als die Offiziere noch nicht beschwichtigt waren, sagte er:

»Der ganze Lärm gilt ja nur mir. Also muß ich mich doch sehen lassen.«

Dann drehte er sich um und ging sich anzukleiden.

Die prinzlichen Herrschaften, mit Ausnahme der Kronprinzessin, die sich noch im Bade befand, saßen beim Morgentee beisammen, als sie von diesen Vorgängen erfuhren. Man geriet in umso größere Aufregung, als jetzt auch Prinz Adolar und der Sohn des Prinzen Achilles sich entschlossen erklärten, ihren dienstlichen Platz einnehmen zu wollen, und diesen Entschluß auch sofort ausführten, indem sie sich fluchtartig dem gar nicht mehr hofmäßigen Stimmengewirr entzogen, aus dem Constanze, die sich nicht rühren durfte, mit tiefer Erbitterung höchst unfreundliche Worte über Golos Vorgehen heraushörte, das ihm auf keinen Fall Ruhm bringen werde, wohl aber ihm zeitlebens nicht verziehen würde.

Jetzt ritt der Kronprinz auf den Schloßplatz heraus. Er saß auf einem prächtigen Rappen. Der goldene Küraß, über dem das große Ordensband des Königshauses sich breitete, funkelte wie der Helm in der Morgensonne. Er trug auch die weißen Lederhosen und die hohen, glänzenden Stiefel, die zum Galakleide gehörten. Die Reiter, die bisher das Schloß umstellt hatten, formten sich auf dem großen Platze in breitgestreckten Gliedern. Der Kronprinz nahm die Spitze. Jetzt sahen die hohen Herrschaften, die scheu hinter den Fenstervorhängen lauerten, aus der Altstadt eine dunkle Masse heranrücken, die mit Gewehren bewaffnet, in nicht ganz fester, aber sichtlich militärisch gewollter Ordnung heranrückte und, durch den Anblick der Reiter oder vielleicht auch des Schlosses veranlaßt, in ein wildes Geschrei ausbrach, wobei Gewehre und Kopfbedeckungen in der Luft geschwenkt wurden. Schrill gellten die Trompetenstöße. Die Säbel flogen aus den Scheiden. Der Kronprinz löste sich von den Offizieren los und jagte allein voran. Man sah vom Schloß nur noch, daß die Aufrührer zum Stehen gebracht und Gewehre an die Schulter gelegt wurden. Dann war alles in Staub gehüllt. Schüsse krachten, aber in wirrer Vereinzelung, und zugleich klang deutlich ein Geschrei zum Schloß herüber, das ganz anders, heller, gedehnter klang als kurz vorher. Die Damen stürzten ins Zimmer zurück, bedeckten die Augen mit den Händen oder falteten diese zum Gebet. Constanze blieb aufrecht am Fenster stehen, aber sie war totenbleich, und die Beine zitterten ihr. Als der Staub langsam sich verflüchtigte, sah man Menschen regungslos hingestreckt liegen, andere saßen auf der Erde, wieder andere liefen in rasender Eile oder schleppten sich mühsam über den Platz, auf dem ein lediges Pferd herumgaloppierte und auch einige wenige anscheinend verwundete Reiter zu Fuß gegen das Schloß heranschritten. Der König gesellte sich jetzt zu seinen Verwandten.

»Guten Morgen ist heute keine passende Redensart,« sagte er, »Golo macht einen absonderlichen Morgenritt. Ich hab's ihm nicht aufgetragen, ich nicht, daß er selber meine Landeskinder niederreiten soll. Aber er muß wissen, was er tut, und Gott möge ihn schützen.«

Die Tränen kamen ihm in die Augen. Ein mitleidiges Andrängen wehrte er mit lässiger Handbewegung ab, und dann fuhr er, sich in einen Sessel schwerfällig niederlassend, fort:

»Alberne Sentimentalität, die mich packt. Sie müssen gezüchtigt werden. Sie – müssen gezüchtigt – werden!«

Jedes Wort betonend schrie er den letzten Satz heraus.

»Gründlich soll er es ihnen geben. Aber es ist traurig, höchst traurig. Meine Bankerotterklärung vor der Geschichte. Jeder König erzieht sich sein Volk selbst, und miserable Schulmeister sind es, die schließlich nur mehr mit Prügeln durchkommen. Das hätten sie mir altem Mann wirklich nicht antun sollen. Das ist eben gemein gewesen von diesem Parlament. Eine ganz gottlose Einrichtung, die nirgendwo was taugt, überall nur Unfrieden stiftet.«

Immer spärlicher kamen die Nachrichten in das königliche Schloß. Man wußte schließlich nur, daß im Innern der Stadt ein furchtbarer Straßenkampf tobe und daß es unmöglich sei, zum Kronprinzen, der mitten im Getümmel sei, vorzudringen. Endlich erschien Baron Avia mit einer genauen Meldung vor dem König. Ohne einen Auftrag erhalten zu haben, hatte sich der Baron in seine Stallmeisteruniform gesteckt und auf ein Pferd gesetzt. Unter großen Schwierigkeiten war es ihm endlich gelungen, zu seinem Gebieter und wieder zurück zu gelangen. Ungefähr zehntausend Revolutionäre waren in den Gassen eingekeilt, zwischen der Infanterie und den beiden Reiterregimentern. Das erwartete auswärtige war um Mittag erschienen. Die Revolutionäre seien in die Privathäuser eingedrungen und schössen aus den Fenstern auf das Militär, das dann auch in die Häuser dringe, in deren Innern sich die erbittertsten Kämpfe von Stube zu Stube, von Stockwerk zu Stockwerk abspielten, wobei alles verwüstet werde. Der Kronprinz komme in dem blutigen Gedränge, in dem Mann gegen Mann kämpfe, nur mühsam vorwärts. Er habe aber die Absicht, die ganze Stadt zu durchqueren und zwar deshalb, weil sein Erscheinen geradezu wunderbar wirke. Die Rebellen hörten sofort zu schießen auf, suchten zu fliehen oder sich zu verstecken, und wo das unmöglich sei, streckten sie willig die Waffen. Gefangene hätten geäußert, auf das persönliche Erscheinen des Kronprinzen seien sie nicht gefaßt gewesen, und sie fänden nicht den Mut, die Waffe gegen ihn zu heben, der kaltblütig wie ein Kriegsgott einherreite, nachdem er erst in seiner Attacke durch seine todesmutige Kühnheit die bewaffneten Menschen wie eine Vision gelähmt habe. Er habe den ernstlichen Willen, dem Gemetzel ein baldiges Ende zu machen. Deshalb werde er die Artillerie aus der Stadt auf benachbarte Höhen ziehen, um einige belanglose öffentliche Gebäude beschießen zu lassen und vielleicht durch den Schrecken des Kanonendonners die Niederwerfung des Aufstandes noch rascher zu erzielen.

Baron Avia war bleich und erzählte mit sichtlich starker Erregung. Er sagte, daß auch der Kronprinz von den furchtbaren Szenen dieses Kampfes erschüttert sei und sich nur mit eiserner Willenskraft beherrsche. Der König dankte dem Baron mit matter Stimme und mattem Händedruck. Fast blöde starrte er vor sich hin, und seine Kinnlade hing tief herab, so daß der Mund weit geöffnet war.

Man fragte Avia besorgt nach den beiden jungen Prinzen. Sehr kühl antwortete er, die jungen Herren seien bei den die Altstadt umzingelt haltenden Reiterabteilungen außerhalb jeder Gefahr. Er erklärte dann, er wolle wieder an den Kampfplatz zurück und später neue Botschaft bringen. Constanze richtete es so ein, daß sie etwas abseits zu stehen kam und Avia, als er sich entfernte, an ihr vorbei mußte. Sie sah ihn an, und er verstand sie.

Jetzt dröhnte der erste Kanonenschuß über die Stadt hin, dem bald ein zweiter, dritter und vierter folgten. Um dieselbe Zeit machte die umzingelnde Kavallerie eine kleine Lücke auf, durch die sich das Gewühl der Altstadt in wilder Hast herausdrängte. Die Reiter jagten diese Flüchtlinge durch die breiten Avenuen. Sie stellten sich teilweise zu kurzen Kampfepisoden. Nach einer Pause sprachen wieder die Kanonen. Aus der dicken Zwiebelhaube des Rathausturmes brachen Flammen hervor, und wenige Minuten darauf brannte das große steile Dach eines alten Gymnasiums. Der Kronprinz war jetzt auch durch die Öffnung des Kavalleriegürtels in die Avenuen gedrungen. Er sah bleich, ernst aus und saß nicht mehr so stolz aufrecht, sondern wie etwas ermattet im Sattel. Wieder führte sein bloßes Erscheinen zu Waffenstreckungen. Aber hier stürzten jetzt auch die friedlichen Bürger aus den Häusern, umringten ihn und schrieen, während noch immer von Zeit zu Zeit Kanonenschüsse fielen:

»Gnade, Gnade!«

Als die ersten Kanonenschüsse gefallen waren, war der Ministerialassessor Graf Leander Coriolani auf die Straße gestürzt und zu solchen Bekannten geeilt, deren Wohnungen noch zugänglich waren. In kurzer Frist waren mit deren weiterer Hilfe hundert Männer der besten Kreise zusammengebracht, die nun Equipagen und andere Fuhrwerke requirierten und mit großen weißen Tüchern an Stangen die Stadt, vor allem das Kampffeld der inneren Stadt durchfuhren und in den Wagen aufrecht stehend den Ruf erschallen ließen:

»Die Waffen nieder! Die Waffen nieder!«

Der ruhig gebliebene Teil der Bürgerschaft raffte sich jetzt auf und zwang die Aufrührer, sich zu ergeben, Frauen liefen auf die Gassen und schrieen den Ruf weiter. Mittlerweile war es Nacht geworden. Im Königsschloß waren erst am späten Nachmittag telegraphische Nachrichten eingelaufen, daß auch in verschiedenen Städten der Provinz Unruhen ausgebrochen seien, und daß namentlich in der zweitgrößten Stadt des Landes, die ein großer Industrieplatz war, die Lage des einzigen Infanterieregimentes sehr schwierig sei. Da brach der König ganz zusammen.

»Das ganze Land ist wider mich!« rief er händeringend. »Ich habe zu wenig Soldaten! Meinem Volk zuliebe habe ich daran gespart, und das läßt mich jetzt dafür büßen!«

Als dann die Kanonenschüsse hörbar wurden, schrie er auf:

»Meine schöne Hauptstadt! Das soll er nicht, das habe ich nicht gewollt.«

Dann rief er auf einmal, in kurzen Schritten zwischen den ihn umgebenden Personen herumtrippelnd:

»Die Gräfin! Ja, um Gottes willen, was ist's denn mit der Gräfin! Sie muß geholt werden, gleich, nur schnell!«

Er glaubte eine Bewegung in der Umgebung zu bemerken. Da schrie er kreischend:

»Hier will ich sie haben, geholt muß sie werden. Das paßt euch vielleicht nicht? Ich will's aber, und was ich will, geschieht. Hier wenigstens, hier bin ich noch Herr!«

Er bekam einen Hustenanfall. Als dieser vorüber war und man ihn beschwichtigt hatte, daß bereits nach der Gräfin Zerpa eine Hofequipage geschickt sei, die aber jedenfalls Umwege machen müsse, sagte er:

»Und der Coriolani soll auch kommen. Meine Freunde will ich jetzt um mich haben.«

Graf Coriolani kam noch vor der Gräfin Zerpa und stürzte in tiefer Bewegung auf seinen königlichen Herrn zu, ihm die Hand zu küssen.

»Was sagst du, alter Kamerad?« redete ihn der König an. »Weit haben wir es gebracht, he?«

»Die Monarchie steht aufrecht, und die Hochverräter sollen mit dem Tode büßen,« antwortete Coriolani.

»Strenges Gericht willst du also haben?« entgegnete der König. »Das wird aber auch über mich kommen. König Arthur begann seine Regierung mit einem Krieg, der das Reich ruinierte und beendete sie mit blutiger Unterdrückung der freiheitlichen Bewegung seines Volkes. So wird es heißen.«

»In den Büchern der Menschen vielleicht, nicht aber im Buche Gottes.«

»Laß gut sein, da sind solche Leute wie ich auch nicht mit goldenen Lettern eingeschrieben. Du hast mich die langen Jahre getreulich begleitet, bis zuletzt, wo ich auch an dir unrecht getan habe und undankbar geworden bin. Ja, siehst du, die Fehler der Könige habe ich alle, aber nicht die Vorzüge. Heute bitte ich dich um Verzeihung und du sollst eine besondere Genugtuung haben.«

Der Graf wurde von den Prinzen ins Gespräch gezogen und gefragt, was er von der Lage in der Stadt wisse. Er war still zu Hause gesessen, schweren Herzens über die Dinge nachsinnend. Seine Söhne waren draußen, zu welchem Zwecke wußte er nicht.

Die Gräfin Zerpa kam. Der König schritt ihr entgegen und fragte besorgt nach ihrem Befinden. Bei den übrigen Herrschaften fanden ihre hofmäßigen Verbeugungen sehr kühle Antwort, der König aber nötigte sie auf einen Stuhl zu seiner Seite. Jetzt erschien wieder Baron Avia und meldete, die Aufständischen hätten sich völlig ergeben, und der Kronprinz rücke mit allen Truppenteilen an den Schloßplatz heran, um dem König zu huldigen. Er habe vorher noch nach der Standarte der Gardereiter und der Fahne des Infanterieregimentes und auch nach den Musikkapellen geschickt, die nicht mit ausgerückt waren.

Wenige Minuten später hörte man ferne Musik und stürzte an die Fenster. Die Infanterie marschierte voraus unter den Klängen der Königshymne und formte sich in Paradestellung. Jetzt schmetterten die Trompeten der Reiter dieselbe Hymne, und Prinzessin Constanze wollte durch einen lauten Aufschrei dem berstenden Herzen Luft machen. Mit gesenktem Pallasch, gesenkten Hauptes ritt Kronprinz Golo allein, in größerem Abstand vor seinen Reitern. Jetzt bog er aus, die Reiter ordneten sich, hinten bog die Artillerie in scharfer Kurve ein. Die Parade stand. Der Kronprinz hob den Pallasch. »Es lebe der König!« brauste es über den Schloßplatz, die Trompeten bliesen, die Trommeln rührten, rauschend fiel das Spiel ein. Da oben an den Schloßfenstern winkten sie mit den Tüchern. Der König schwenkte den Arm und rief selber: »Es lebe der König! Es lebe der König!« daß er dunkelrot im Gesicht wurde. Dann fingen sie ihn auf. Er hatte sich schnell erholt und fragte mit etwas erschöpfter Stimme:

»Er wird doch gleich heraufkommen?«

Man sagte, der Kronprinz sei ans Tor herangeritten und springe eben aus dem Sattel.

»Soll alles hier herein!« befahl er mit nervöser Handbewegung.

In anstoßenden Räumen waren schon den ganzen Nachmittag die Minister und die höheren Hofbeamten versammelt. Der Salon war dicht besetzt, als der Kronprinz raschen Schrittes eintrat, zweimal Haltung einnahm und dann dicht an den König herantretend sagte:

»Majestät, die Hauptstadt liegt zu Ihren Füßen!«

Seine Augen leuchteten fieberisch aus tiefen Höhlen, um seinen Mund zuckte die heftigste Erregung.

Der König umarmte ihn, er aber fuhr alsbald fort:

»Ich habe in Euer Majestät Namen strenges Gericht gehalten. Jetzt aber bitte ich um Gnade. Die Gefängnisse zu füllen hat keinen Wert, den Soldaten aber kränkt es, wenn der Henker an seine Stelle tritt.«

Der König nahm eine feierliche Haltung an und sprach:

»Die Gnade wird deine Sache sein, mein Sohn! Ich lege die Regierung nieder, deren neuer Aufgabe ich mich nicht gewachsen fühle. Für das vergossene Blut bin ich verantwortlich. Du trittst dein Regiment mit einem Gnadenakte an.«

Es entstand eine lebhafte Bewegung unter den Anwesenden und der Kronprinz selbst sah betroffen darein. Der König aber nahm wieder das Wort:

»Ich weiß, ein pensionierter König ist keine sonderlich glückliche Figur. Aber man muß die Stunde verstehen. Die Herren Minister bitte ich, sogleich eine Abdankungsurkunde bereit zu stellen. Wir alle aber rufen jetzt: ›Es lebe König Golo!‹«

Der Ruf schallte laut durch die Räume. Der König selber war der erste, der seinem Sohn mit einer tiefen Verneigung huldigte, worauf ihn dieser neuerdings umarmte. Er umarmte dann auch seine Gemahlin, und wieder rief der alte König:

»Es lebe die Königin!«

Die Mitglieder des Königshauses, unter denen noch die jungen Prinzen fehlten, traten eines nach dem andern vor, verbeugten sich vor Golo und Eudoxia, die nebeneinander standen, und nahmen eine Umarmung entgegen. Als der neue König alle Huldigungen entgegengenommen hatte, erbat er sich von seinem Vater kurzen Urlaub.

Draußen in der Stadt sorgten sie um die Toten und Verwundeten und standen in Gruppen umher, zu debattieren über Geschehenes und über das, was nun kommen würde. Weder unter den Toten, noch unter den Verwundeten und Gefangenen fand man das Haupt der Erhebung, den Rechtsanwalt und Abgeordneten Simoni. Gleich anderen, die man vermißte, mußte er in irgend einem Verstecke oder auf der Flucht sein.

Am Spätnachmittag war Carlo Coriolani, der Maler, in die Stadt gegangen, nach dem Stand der Dinge zu sehen, und hatte sich ziemlich weit an den Kampfplatz herangewagt. Durch einen Strom Fliehender war er in eine stille, enge Seitengasse getrieben worden, die zu dem ältesten Teil der Stadt gehörend, mit einem ganzen Netze solcher Gäßchen ein übel berüchtigtes Quartier bildete. Es schien, als übte selbst in diesen Stunden der Not die Gewohnheit ihre Macht, daß man diese Schlupfwinkel des Lasters und Verbrechens, die niederzulegen schon lange geplant war, nicht gerne betrat. Das Gesindel, das sonst hier hauste, mochte wohl auf dem Kampffelde sich irgendwie betätigen. Carlo Coriolani sah nur viele schmutzige Kinder und hinter scheu beiseite geschobenen Fenstervorhängen grob geschminkte Dirnengesichter. Auch zu solcher Zeit gaben diese Geschöpfe ihr Geschäft nicht auf und lockten den Maler. Es mochten sich da in der Tat auch gute Verstecke für Flüchtlinge finden. Der häßlichen Örtlichkeit schnell wieder zu entrinnen, bog Carlo sofort um eine Ecke und rannte unmittelbar gegen einen ebenso eilfertigen, wohlgekleideten Mann ohne Kopfbedeckung. Es war Simoni.

»Jetzt bin ich wohl verloren,« sagte dieser stehen bleibend.

»Meinetwegen etwa?« entgegnete Carlo. »Ich bin kein Aufpasser. Sie sind auf der Flucht und suchen vielleicht in einer dieser Höhlen ein Versteck? Das rate ich Ihnen nicht. Es wird nicht lange dauern, und man erinnert sich dieser Gegend, die dann sicher nach Flüchtlingen durchstöbert wird.«

»Ich habe im Augenblick keine andere Wahl. In der Nacht suche ich aus der Stadt zu kommen.«

»Kommen Sie mit mir,« sagte jetzt Carlo in raschem Entschluß. »Es dürfte möglich sein, auf einem Umweg unser Haus zu erreichen. In meinem Atelier, das im Garten liegt, sind Sie geborgen, denn den Rebellenführer sucht niemand im Hause des Grafen Coriolani. Wenn Sie nur wenigstens einen Hut auf dem Kopfe hätten, Ihre Barhäuptigkeit fällt auf.«

»Herr Graf!« rief Simoni beglückt. »Das würden Sie, ein Aristokrat, für mich tun?«

»Aber natürlich. Ihr Kopf gehört dem Henker, wenn Sie erwischt werden. Das will ich doch nicht, wenn Sie auch Schauderhaftes angerichtet haben.«

»Das konnte niemand ahnen, daß dieser Golo selber sich in die Gefahr begeben würde. Sonst hat man in derlei Fällen immer nur die Schergen losgelassen.«

»Also fort jetzt. Zum Reden ist keine Zeit. Sie haben eben das Spiel verloren, und jetzt heißt es, wenigstens das Leben retten.«

Sie wählten ihren Weg mit höchster Vorsicht, mußten aber doch eine Straße überqueren, durch die zahlreiche Flüchtlinge gekommen sein mußten, denn es lagen viele Hüte umher.

»Das kommt gelegen,« sagte der junge Coriolani. »Suchen Sie sich rasch einen passenden aus.«

Im Gartenatelier Carlos geborgen, dankte Simoni diesem noch einmal in überschwenglicher Weise, und als er sich um seine Familie besorgt zeigte, versprach ihm der junge Graf, auch hier nach dem Rechten sehen zu wollen. Dann setzten sich die beiden Männer zusammen und sprachen, während der Kanonendonner an ihr Ohr schlug, von den Ereignissen.

»Das möchte ich vor allem von mir wälzen, als ob ich aus dem Kampf feig geflohen wäre. Ich wurde im Gewühle geradezu in eine Seitengasse hinausgedrängt und konnte nicht mehr zurück, wenn ich nicht unmittelbar in die Reihen der vordringenden Soldaten geraten wollte. Von irgend einer Führung konnte überhaupt nicht mehr die Rede sein. Es wehrte sich eben jeder einzelne, wie er konnte, um sein Leben, und wo der Kronprinz erschien, geschah das Unbegreifliche. Da hatten sie den so bitter gehaßten Mann im Bereiche ihrer Flinten und wagten sich nicht an dies Leben. Offenbar hielten sie es wirklich für geheiligt. Sie waren es gewohnt, vor jedem vorüberfahrenden Hofwagen stehen zu bleiben und den Hut zu ziehen, und auf einen solchen Prinzen zu schießen, das war ihnen jetzt eine Ungeheuerlichkeit unter dem Drucke einer Suggestion, die aus den alten, unbewußt wirkenden monarchischen Instinkten kam. Revolution wollten sie machen, aber nicht gegen leibhaftige Personen des Königshauses vorgehen. In der Provinz dürfte die Sache anders verlaufen. Wenn die Nachricht von der Niederlage in der Hauptstadt kommt, ist aber wohl auch dort alles vorbei.«

»So hat man sich also in dem Kronprinzen doch getäuscht,« bemerkte Carlo Coriolani.

»Ob er selbst auf den Gedanken kam,« entgegnete Simoni, »oder ob er ihm eingegeben wurde, er war genial und rechnete besser mit der Volkspsychologie als wir Idealisten. Es wird nicht lange dauern, und man feiert ihn als Volkshelden. Ein Bluff war das Ganze, und ein geschickter Einfall im richtigen Augenblick wirft bei der Masse alles über den Haufen, was sie eine Minute vorher noch begeistert oder zum Haß gespornt hat. Der Aberglaube, nicht der Glaube übt die große Macht. Der Aberglaube sah in diesem prinzlichen Panzerreiter eine zwingende Erscheinung. Romantik spukt unausrottbar in den Köpfen.«

»Und wenn die Leute nach diesem geschickten Überfall, wie Sie es deuten, wieder zur Besinnung ihres Hasses kommen?«

»Das werden sie nicht. Er kann ihnen den Fuß auf die Nacken setzen, wie er will. Ein starker Monarch ist unüberwindlich, mag er tun, was er mag, denn er wird selbst unter Haß bewundert. Wir hatten anders gerechnet. Der Alte hat seine klügste Tat getan, daß er die hergebrachte Eifersucht gegen den Nachfolger überwand und ihm die Macht gab. Ich wußte, daß es Eile hatte, aber es war doch zu spät.«

»Sie haben also doch schon mehr von Golo erwartet als andere?«

»Ja, in der letzten Zeit, als er sich so auffallend ruhig verhielt, obwohl die Macht ihm schon übertragen war. Er konnte sich beherrschen. Das war mir verdächtig. Ich glaubte aber, ihm fehlten jetzt noch die Mittel zur Kraft. Er hat sie in seiner eigenen Person ersetzt. Eine kühne List, die gelang.«

»Und wie denken Sie jetzt über Ihr Ideal einer republikanischen Staatsverfassung?« fragte Carlo Coriolani.

»Ich glaube jetzt erst recht, daß sie die einzige der Menschenwürde entsprechende Staatsform ist,« antwortete Simoni, »denn sie allein befreit vom Götzendienst, in dem der Mensch sich selbst erniedrigt.«

»Und die armen Opfer, die ihr Leben einbüßten oder lange Jahre in Gefängnissen schmachten werden?«

Simoni senkte den Kopf und antwortete erst nach einer Weile:

»Kein Glaube hat ohne Leiden gesiegt, und wem es nur um das Leben zu tun ist, der darf sich nicht wundern, wenn ihn der Stärkere an eine Hundehütte kettet. Ich glaube, es wird immer wieder zur Gewalt zwischen den Menschen kommen, denn nie wird eine Gerechtigkeit unter ihnen herrschen und nie wird ein unfehlbarer höchster Richter einen zwingenden Wahrspruch fällen.«

»Sie glauben also doch nicht an ein künftiges goldenes Zeitalter?«

»Ich habe Derartiges nie geäußert und nie gedacht. Wir streben zum höchsten Guten, weil wir den Gott in unserer Seele ahnen und ihn zum Licht bringen möchten, aber unser Dasein wird immer bedingt sein.«

Carlo Coriolani plauderte noch lange mit dem Flüchtling, holte selber einen Imbiß für ihn und ließ ihn auch eine gute Weile auf dem Diwan ruhen, daß er Kräfte sammle. Als die Nacht vorgeschritten genug schien, weckte er den Schlafenden, gab ihm, der nur wenig Geldmittel bei sich führte, noch eine Summe, die ihn über eine Reihe von Tagen wegbringen konnte. Dann ging Simoni allein auf die Straße, nachdem er noch einmal mit überschwenglichen Dankesworten ihn als rechten Edelmann mit ritterlicher Seele gerühmt.

Das war der Mann, den Carlo nie so recht hatte leiden mögen. Jetzt fühlte er eine besondere Genugtuung gerade darin, daß dieser es war, dem er sich hilfreich hatte erweisen können. Ein großer Augenblick hatte die kleinen, aus Unbedeutendem, Oberflächlichem kommenden Hemmungen sofort beseitigt und den Menschen für den Menschen fühlen lassen. Lehre war es ihm für eine tiefere Kunst des Umgangs.



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