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Es war eben Schichtzeit! Das Glöckchen im Schachthause ließ seinen geschwätzigen Ton weithin vernehmen. Auf dem schwarzen Wege, welcher zwischen wuchernden Schutthalden vom Werk herabführte in das Arbeiterheim, drängte sich die abgelöste und die ablösende Mannschaft Kein Wort, kaum ein flüchtiger Gruß wurde gewechselt. Wie die schwarz in der Luft sich abhebenden gewaltigen Triebriemen, vom Maschinenhause lautlos sich kreuzend, herüberlieben in den Schachtturm, so bewegte sich die dunkle Schar aneinander vorüber, auf und ab in mechanischer Rücksichtslosigkeit. Die vor dem grellen Tageslicht erbleichenden schmutzig gelben Flämmchen, der bei jedem Schritte sich schwingenden Grubenlampen erhöhten das Düstere des Auftrittes. Plötzlich stockten die Züge, die Abgelösten stießen sichtlich gerade da, wo der Weg am engsten war, auf ein Hindernis. Die Heraufkommenden wandten sich; der Ruf »Obacht« ging nach rückwärts.

Man drängte sich, reckte sich und schob sich. Da tauchten Pferdeköpfe auf, eine ganze Kavalkade! Der Graf? Die Gräfin! ging es durch die Reihen.

Das war noch nicht dagewesen, geradezu eine Verletzung der Alltäglichkeit, welche diese Leute wohltätig einschläferte, ihre Begierden tötete.

Die wenigsten hatten den Herrn der Werke und seine Tochter in der Nähe gesehen, man sprach nur immer von seinem unermeßlichen Reichtum, von der »Märchenpracht« des Schlosses. Man hatte nichts für ihn, und nichts gegen ihn, er stand völlig außer aller Gesichtskreis. Selbst die Unzufriedenen dachten nicht daran, ihn für irgend einen Mißstand verantwortlich zu machen, für schlechte Löhne, Gedinge. Daran waren lediglich seine Beamten schuld, die ihn wohl selbst übervorteilten. Auch der allgemein sich regende Haß gegen den Tyrannen »Kapital« fand an ihm sein geeignetes Objekt. Der Arbeiter rechnete ihn nicht zu dieser Klasse, er war und blieb der »Graf.« Der Vorzug der Geburt erschien den Leuten in viel milderem Licht, als der des plumpen Geldes. Ein unbewußter Idealismus sprach hier mit.

Die Leute drängten sich auf die Seiten, einen schmalen Gang freilassend für die Reiter. Man übersah die übrigen über dem Grafen und Kitty.

Ein stattlicher Herr! Sein joviales Gesicht, in dem keine Spur von Härte oder Stolz zu lesen war, sein freundlicher und doch vornehmer Gruß gewann ihm alle Herzen, und erst die junge Gräfin! Sie nickte jedem zu und schwenkte von weitem schon die Hand. Und wie schön sie war, und wie sie auf dem Pferde saß! Man lachte ihr von allen Seiten ins Gesicht. Der Anblick war zu lustig, und das nagelneue Zaumzeug und die Pferde!

Man dachte in diesem Augenblick nicht an Neid, an gewisse Vergleiche, unwillkürlich freute man sich an diesem frohen, schönen Bild aus einer andern Welt, vor dem sich an einer Biegung rasch wieder die qualmenden, eintönigen Kohlenhalden schlossen.

»Na, das haben wir ja gut getroffen!« bemerkte Georg von Prechting, als sie die Arbeiter glücklich passiert hatten und sich dem Schachthause näherten.

»Und hast du nur einen gehässigen Blick bemerkt?« fragte Franz.

»Das haben wir wohl deiner Begleitung zu danken,« meinte Georg.

Kitty kühlte mit dem Taschentuch die glühenden Wangen, noch ging ihre Brust hoch.

»Offen gesagt, ein bißchen bange war mir auch. Es war mir, als müßte ich vom Pferde heruntersteigen. Aber die Leute sind ja reizend! Ich glaube immer, man muß sie sich nur näher anschauen, wir kennen sie zu wenig und sie uns.«

»Damit hast du alles gesagt, Kitty. Wir kennen sie zu wenig und sie uns. Wir durchforschen das Innere von Afrika und kennen eine Welt nicht, in deren Mitte wir leben,« bemerkte Franz, während er absaß und Kitty aus dem Sattel hob.

Das ganze Werk geriet in Aufregung. Ein solcher Besuch war unerhört in den Annalen von »Schwarzacker.«

Der Direktor kam eilig aus dem Bureau, den Herrn Grafen zu begrüßen. An der Tür der umliegenden Werkstätten drängten sich rußige Köpfe.

Die jungen Herren in ihren eleganten Reittrachten nahmen sich sonderbar aus inmitten der verbrauchten Schuppen und Baulichkeiten, der wie Ameisen hin und her eilenden Arbeiter, des tosenden Lärmes, der aus dem Sortierhaus herausdrang, der flammenden Schmiedeessen, an welchem dunkle Schatten sich hin und her bewegten.

Kitty, die in ihrem Reitkleid aus dunkelblauen Cheviot als eine tadellose Amazone erschien, ergriff gerne den gebotenen Arm ihres Führers Franz. Ein banges Gefühl erfaßte sie jetzt schon bei den unzähligen, fremden Leuten, die sie umdrangen, dem dumpfen Rollen der Hunde, den schrillen Pfiffen der Dampfpfeifen, dem Surren des großen Schwungrades im Maschinenhause. Etwas Drohendes, Dämonisches lag für sie darin und doch Prickelndes, ihre Neugierde Reizendes.

Der alte Graf begab sich auf das Bureau, er hatte eine unüberwindliche Scheu vor der Tiefe. Die Herren begaben sich in das Ankleidezimmer, um die nötigste Grubentoilette zu machen, während Kitty von der Frau eines Steigers in wenigen Minuten in einen strammen Hauerjungen verwandelt wurde.

Sie vergaß ganz ihre Bangigkeit über dem drolligen Anblick im Spiegel. Die schwarze Filzkappe auf den widerspenstigen, hinaufgebundenen Zöpfen kleidete sie vortrefflich und rasch hatte sie ihrem kleinen Kollegen, der sie durch das Fenster beobachtete, die charakteristischen Bewegungen abgelauscht, das absichtlich geschwärzte Gesicht vollendete die Verwandlung.

Als die Herren in ihren Leinenanzügen aus dem Ankleidezimmer traten, gingen sie achtlos an dem frechen Jungen vorüber, der, die Daumen in die weiten Taschen gehakt, mit gespreizten Beinen vor ihnen stand und sie angrinste.

Als jetzt Franz herauskam mit der brennenden Lampe, im abgenutzten Arbeitskleide, nach seiner Gewohnheit etwas vornübergebeugt, da stutzte Kitty und vergaß ihre Rolle. So sah sie ihn gestern nacht in dem sonderbaren Bilde, über welches sie so lachen mußte – gerade so' – und es war ihr, als müsse sie tun, was sie gestern getan, ihn umfassen, ihn halten – ihn ...

Franz fiel das sonderbare Wesen des Jungen auf, er trat auf ihn zu, da reichte sie ihm eine kleine schneeweiße Hand.

»Kennst du deinen Kollegen nicht einmal?«

»Kitty!«

Franz dämpfte noch zur rechten Zeit seinen überraschten Ausruf. Niemand achtete auf den schmutzigen Jungen, der mit Franz sprach.

»Jetzt gehören wir ganz zusammen! Freut dich das?«

Franz drückte innig ihre Hand. »Ich werde es dir nie vergessen, Kitty.«

Man rief nach Kitty, man fragte nach Franz nach der Komtesse. Da trat der Hauerjunge hervor.

»Gentleman, I am ready!«

Die Heiterkeit war groß. Man war jetzt schon Franz dankbar für die famose Idee, über die man sich gestern geärgert. Komtesse Kitty als Hauerjunge; das war eine Pikanterie, gegen welche eine Schnitzeljagd verschwinden mußte.

Selbst Georg von Prechting imponierte die Idee, er hatte Kitty noch nie solche Schmeicheleien gesagt, und was die vollendete Amazone bis jetzt noch nicht bewirkt, brachte der Hauerjunge zustande. – Es stieg der Gedanke auf in Georg, daß es höchste Zeit sei, dieses reizende Geschöpf einzuheimsen.

Der Beamte führte die Gesellschaft zu dem Fördergerüst. Eine Gruppe Arbeiter wartete eben auf den Fahrstuhl. Zitternd, in hastiger Eile, aber völlig lautlos glitten die schwarzen Seile auf und ab, an denen die eisernen Fahrgerüste hingen, nur die Lichtblitze im abgeschliffenen Geflecht ließen überhaupt die Bewegung erkennen.

Kitty drückte sich ängstlich an Franz, auf die schwarze Schachtöffnung deutend, aus der ein kalter Wind heraufzog.

»Da hinunter? O wie schauerlich!«

Auch die Herren wurden schweigsam, trotz ihres oft bewährten Mutes. Das Ungewohnte, die Schauer der Tiefe ließen einen kalten Strom den Rücken herunterrieseln.

Jetzt drang ein leiser Lichtschimmer herauf und lief über die von feuchtem Schleim überzogene Verzimmerung des Schachtes, und plötzlich wie eine Erscheinung stieg der Förderkorb in die Höhe mit seinem dicht gedrängten schwarzen Insassen, in der gelben Beleuchtung der Grubenlampen.

Ein Klingelzeichen, der Korb schnappte ein. Die Männer traten heraus, die durchnäßten Kleider klebten an den mageren Körpern. Jetzt hieß es einsteigen! Kitty mußte alle ihre Energie zusammennehmen; ohne Franz an ihrer Seite, das fühlte sie, hätte sie es nie vermocht. Auch die schlechten Witze der Herren klangen gezwungen. Georg war der einzige, der eine solche Fahrt schon mitgemacht.

Das Gitter legte sich vor den Eingang. Der Mann am Signal gab das Zeichen. Ein Schwung nach aufwärts, der Kitty einen Schrei entlockte, dann schoß das Gefährt abwärts. Das triefende Zimmerwerk schien aufwärts zu fliehen, Wasser rieselte an den Wänden, von unten herauf ein dumpfes Rollen und Brausen.

Kitty schloß die Augen und klammerte sich an Franz. Jetzt war es herrlich, als ob sie mit ihm auf- und davonflöge!

»Es ist gleich vorüber!« tröstete Franz.

»O, wie schade!« erwiderte sie wie traumverloren.

Mit einem, elastischen Schwung hielt der Korb. Eine niedere gewölbte Halle nahm die Gesellschaft auf. An einem Pfeiler hing ein großes Kruzifix, an dessen Stamm eine rote Ampel brannte.

Dem Ernst des Ortes konnte sich niemand entziehen.

Kitty betrachtete jetzt die Arbeiter, welche die gefüllten Hunde auf Schienen zum Förderkorb schoben, mit einer gewissen Ehrfurcht.

Dem Beamten folgend, beging man die nächste Strecke. Sie war sauber ausgezimmert und erlaubte den aufrechten Gang. Das »Glück auf« der entgegenkommenden Arbeiter wurde unisono beantwortet.

Hier in der Tiefe von fünfhundert Meter unter dem Getriebe der Erdenbewohner machte sich ein Gefühl natürlicher Zusammengehörigkeit geltend, über das man oben im Licht gelacht hätte.

Kitty machte die sonderbarsten Beobachtungen. So fiel es ihr auf, daß alle die Kavaliere in ihren schmutzigen Grubenanzügen, mit ihrer gebückten Haltung, dem schleppenden Gang, sich äußerlich in nichts von den Arbeitern unterschieden, deren eckiger, unschöner, ihr Auge verletzender Anblick ihr stets so peinlich war. Das gab ihr, die ihrer ganzen Entwicklung zufolge, in den letztern eine besondere, von der Natur selbst minder bevorzugte Rasse erblickte, viel zu denken.

Donnerartiges Rollen drang immer näher. Sie drängte sich enger an Franz. Ein Pferd, in dem engen Raum bei dem Licht der Lampen riesengroß erscheinend, war vor einen ganzen Zug gefüllter Kohlenhunde gespannt, der sich, wie eine schwarze schillernde Schlange auf den Schienen, in der Mitte der Strecke, ihren Windungen folgend, dahinbewegte. Sie dachte der »Wildrose« in ihrer mit Porzellantafeln ausgelegten »Box« und der übrigen edeln Rosse im väterlichen Stalle und verglich deren Schicksal mit dem des armen, zu ewiger Nacht und Finsternis verurteilten Geschöpfes.

Überall ein willkürliches Schicksal, das allen Lebenden von Geburt aus zugeteilt schien. Warum? Nach welchem Recht? Zu welchem Ziel? Sie schauerte bei dem Gedanken, daß es auch sie anders hätte treffen können.

Der Beamte bog in einen Schacht ab. Kohlengasgeschwängerte Luft hemmte den Atem und jedes Aufrichten des Kopfes wurde mit einer Beule bestraft.

Franz erklärte Kitty den Aufbau des Gesteins, die Schichtenlagerungen, die Verzimmerung. Plötzlich sahen sie sich allein. Die übrige Gesellschaft war wohl in einen Seitenschacht oder einen Abbau verschwunden.

Kitty lachte darüber. »Jetzt können wir allein umherkriechen! Laß sie nur laufen! Das ist ja reizend! Tief unter der Erde wie einst vor Jahren oben im Buschwerk des Parkes, bei hellem Sonnenlicht ...«

»Komm, Franz, ich will ja gar nicht, daß wir sie finden.« Sie zog ihn seitwärts in einen finstern Gang.

»Und wenn wir uns verirren? Ich bin hier nicht so bekannt wie zu Hause,« erwiderte Franz zagend.

»A pah, dann irren wir halt einige Stunden umher! Wir kommen früh genug wieder in die langweilige Oberwelt.«

»So sprichst du, Kitty, und du liebst sie ja so.«

»Heute einmal nicht! Heute liebe ich die Unterwelt, in der ich dein Kamerad sein darf, jeder Etikette zum Trotz. Beide einfache Arbeiter, weiter nichts.«

»Könntest du dich denn in diese Lage hineindenken, ohne Entsetzen?« fragte Franz.

»Warum nicht?«

»Allerdings, du sprachst gestern auch davon, doch knüpftest du eine Bedingung daran.«

»Welche denn?« fragte Kitty.

»Wenn sie dir etwas Besonderes bieten würde, etwas, was dir die andere Welt nicht bietet, so sagtest du.«

»Ich ja, ich erinnere mich und jetzt weiß ich, was ich meinte mit dem Besonderen!«

»Wirklich, Kitty?« Franz wandte sich plötzlich und beleuchtete mit der Lampe ihr Antlitz.

Sie lächelte spitzbübisch unter der Filzkappe hervor, die ihr schief auf den blonden Gelock saß.

»Einen guten Kameraden!« Das Lächeln verschwand. »Wie du, Franz,« setzte sie dann innig hinzu.

Franz lachte kurz auf und marschierte weiter. Ein kleines gelbes Sternchen tauchte auf, in blauem Dunst erstrahlend, unendlich ferne scheinbar. Franz beschleunigte seine Tritte, er fürchtete jetzt die Einsamkeit mit Kitty, deren Haupt sich jeden Augenblick auf seine Schulter legte, wenn es galt, sich tiefer zu bücken.

Der dumpfe Schlag eine Hacke, das Rascheln und Rieseln sich lösender Kohlen wurde laut. Der Gang wurde immer enger, die Luft immer dicker. Sie kamen »vor Ort«, wie der Bergmann den Platz der Arbeit nennt. Ein bärtiger Mann lag seitwärts gebeugt in einer Höhlung des Gesteins und löste in dieser Stellung mit der Spitzhacke die Kohlen. Die Flamme des Lämpchens, welches von der niedern Wölbung herabhing, trieb ihr Lichtspiel in den flammenden Kohlenwandungen der Höhle.

Das war ein Märchen für Kitty, dieser lichterfüllte Ausschnitt inmitten der nächtlichen Umgebung. Ein wonniges Gefühl durchschauerte sie, das sie an die Kinderstube erinnerte, und sie legte die Hand auf die Schulter ihres Begleiters. »Sieh nur!« lispelte sie und ihre Lippen streiften sein Ohr.

Er ergriff schweigend ihre Hand. So standen sie lange, bis der Arbeiter sich etwas erhob. Die nackte ruß- und schweißbedeckte Brust glänzte.

Er wischte sich mit dem Rücken der Hand die triefende Stirn.

Dieser Anblick weckte Kitty aus ihrem Traume vom verwunschenen Schloß, dem sie sich erlösend nahte mit ihrem Ritter – da war nichts als rauhe Wirklichkeit.

Mit gespannter Neugierde betrachtete sie die jetzt wieder zusammengekauerte Gestalt, wie etwas Unbegreifliches, Fabelhaftes!

»Glück auf!« rief Franz.

Der Mann sah erstaunt auf und erwiderte den Gruß.

»Was wollt ihr denn da?«

Er hielt sie offenbar für Arbeiter. Kitty war jetzt stolz darauf und drückte die Kappe weit in das Gesicht.

»Wir haben uns vergangen. Wo kommt man denn da auf Strecke 16?« fragte Franz.

Der Mann gab die Richtung an.

»Rasten wir ein wenig,« meinte Kitty.

Der Mann betrachtete sich bei dem weichen Ton der Stimme die Ankömmlinge näher.

»Ah, so, ihr gehört zu den Herrschaften? Haben grade nach euch gefragt.« Dabei schob er diensteifrig das Gestein zurecht, zu einem bequemen Sitz.

»Das Fräulein Gräfin, nicht wahr? Das ist schön, daß Sie sich auch einmal zu uns herunter trauen. Ist gar nicht so übel da, was? Ein Schluck Schnaps gefällig?« Dabei bot er die irdene Flasche.

Kitty setzte sie mutig an die Lippen, um keinen Preis hätte sie den Mann kränken wollen. Das häßliche Getränk trieb ihr das Wasser in die Augen, verzerrte ihre Züge, trotz aller Kraftanstrengung diese Wirkung zu verbergen.

Franz fragte nach dem Verdienst. – Drei Mark täglich, im Durchschnitt! – Nach der Familie. – Eine Frau mit sechs Kindern!

Der Mann faßte Zutrauen zu Franz, als er erfuhr, daß er einen Bergmann vor sich habe, und wurde in seiner schwerfälligen Weise gesprächig.

Er deckte sein ganzes dürftiges Leben auf, Freud und Leid. Wie seine Frau vor wenigen Monaten erkrankte und das älteste, ein Mädchen von zwölf Jahren, das ganze Hauswesen führte. Er mußte seine schöne Wohnung mit zwei Zimmern aufgeben und hat sich mit einem beholfen, Uta die Krankheitskosten zu decken. Das kleinste war vor einigen Wochen gestorben. Es hat ausgesehen wie ein Prinz, so zart, und hat die grobe Kost nicht ausgehalten und den ständigen Wasserdampf in der Stube. Und der Kaffee ist wieder aufgeschlagen um zehn Pfennig und wird immer schlechter. Eine neue Familie ist eingezogen im Hause, aus Böhmen, die alles durcheinander bringt. Der Mann immer besoffen, die Frau ein Zankeisen, und was die Kinder da alles zu sehen und zu hören bekommen. Aber sonst sei es schon zum Leben, wenn nur daheim wieder alles gesund ist und ihm kein Unglück zustößt, wie seinem Zimmernachbar vor etlichen Tagen, den sie mit zerschlagenen Füßen nach Hause brachten zu seiner Frau und drei kleinen Kindern.

Kitty horchte gespannt den schlichten Worten des Mannes. Sie wagte keine Zwischenfrage. Unsagbares Grauen packte sie vor den Bildern, mit denen er die enge Höhle füllte, dann wieder stumme Bewunderung der Gelassenheit, mit der er sein Schicksal trug.

Sie übersah in ihrer Unerfahrenheit den falschen Maßstab, den sie anlegte. – Als er den Unfall seines Kameraden schilderte, da war es ihr, als ob sich die Höhle mit seinem Blut füllte, das für sie vergossen ward für ihre tausenderlei Bedürfnisse, ihre Freuden und Vergnügen. Und nicht einmal gesprochen wurde in ihrem Hause von dem unglücklichen Mann und seinen darbenden Kindern.

Das trieb ihr die Schamröte in das Gesicht. Nie mehr wird sie froh und frei genießen können, immer wird sie der Qual denken müssen, aus der ihr Reichtum quillt, dieses auf dem Rücken liegenden Mannes in dem Kohlenloch, des verstümmelten Unglücklichen. – Sie faßte die besten Vorsätze, wie sie Glück und Freude bringen wollte in diese finstere Welt, die sie jetzt mehr haßte und verabscheute denn je.

Gleich jetzt wollte sie damit beginnen. Sie durchsuchte die Taschen, aber sie waren leer, ihre Börse war im Reitkleide geblieben.

Franz erriet ihre Absicht und drückte sich erhebend dem Arbeiter ein Geldstück in die Hand. Für den Schnaps, fügte er, das Ehrgefühl der Leute wohl kennend, hinzu.

Die Dankesworte des Mannes waren für Kitty nur der Vorgeschmack eines neuen köstlichen Sportes, dem sie jeden andern opfern wollte in ihrer schnell aufschäumenden Leidenschaftlichkeit.

Frans: schlug den angewiesenen Weg ein.

Kitty atmete erleichtert auf, als sie sich mit ihm allein sah.

»Weiß denn mein Papa, wie es da herunten aussieht? Wie diese Männer sich quälen müssen?« fragte sie.

»Natürlich weiß er es.«

»Aber er ist doch sonst so gut, so herzlich, wie kann er das zulassen? Das verstehe ich nicht.«

»Soll er diese Schätze ruhen lassen? Das wäre ja noch schlimmer. Sie bilden ja neue Werte, von denen wieder Tausende sich nähren. Das ist das Gesetz der Arbeit, unter dem die ganze Menschheit steht, ohne das sie zugrunde, gehen müßte.«

»Außer uns, den Reichen, den Glücklichen, wir stehen natürlich nicht darunter,« entgegnete Kitty.

»Ebenso, Kitty, Ebenso! Ihren Besitz für das Gemeinwohl so nutzbringend zu verwenden als möglich, das heißt, durch ihn möglichst viel Arbeit und zwar lohnende Arbeit zu schaffen, nicht ihn als willkürliches Machtmittel zu betrachten im törichten Kampfe gegen die Arbeit – das ist das Arbeitsgesetz der Reichen, das sie auch ungestraft nie verletzen.«

»Das kann ich nicht verstehen, aber eines kann ich, wenn ich einmal der Herr bin, die Ställe leeren, die unnützen Diener alle entlassen, alles Entbehrliche verkaufen und mit den armen Leuten teilen. O, das müßte ein Vergnügen sein, wie ich noch keins genossen!«

»Das wäre ebenso töricht als nutzlos«, entgegnete Franz »Du kannst deine Pferde behalten und deine Dienerschaft und alles Schöne was du besitzen wirst, und trotzdem ein Engel sein für deine Arbeiter! Grade du als Frau!«

»O, wie das, Franz, wie das? Lehre mich das?«

»Das brauche ich dich nicht zu lehren, Kitty, dein gutes Herz wird das schon besorgen.«

»Nein, Franz, von dir will ich es wissen.«

Sie standen plötzlich vor einer mannshohen Öffnung, welche in ihrer Verzackung einem gotischen Fenster glich. Die Kohle bildete hier eine mächtige Schicht und wurde terrassenförmig abgebaut. Man bückte in eine scheinbar unermeßliche Tiefe, in welcher die Grubenlichter der Arbeiter wie Irrlichter umhertanzten, während diese selbst in dem bläulichen Kohlenneben wie riesige Schatten in grotesker Bewegung sich ausnahmen. Das Rasseln der von Terrasse zu Terrasse geschütteten Kohle, der dumpfe Hackenschlag und das Stampfen einer irgendwo aufgestellten Maschine zu Ventilations- oder Wasserbeförderungszwecken vermischte sich zu einer charakteristischen Arbeitssinfonie.

Kitty blieb lange versunken in den eigenartigen Anblick. Sie setzte sich auf die Kante des natürlichen Fensters, von welchem eine Leiter nach abwärts führte, und hielt sich an Franz fest.

»Sprich, Franz, hier wird es sich für immer in meine Seele graben! Was kann ich tun für diese Armen? Wie ihr Los verbessern? Wenn du selbst sagst, diese Arbeit hier unten muß geschehen.«

»Ja, sie muß geschehen! Und hier unten kannst du, brauchst du nichts zu ändern, Kitty. Auch ist diese Arbeit kein Unglück, keine Qual, wie häßlich und hart sie dir auch scheinen mag. Oben wäre dein Feld, in der Familie des Arbeiters. Da ist für ihn oft die Hölle. Schaffe ihm ein menschenwürdiges Heim, von dem sein Körper, sein Geist Erholung findet, in dem er sich als Mensch fühlt und atmet, nicht als Tier, das nur unterkriecht, um sich vor der Unbill der Witterung zu schützen. – Sorge für die Erziehung der Kinder, sei selbst die Lehrerin der Frauen. Betrachte alle als zu deiner Familie gehörig und lasse allen zugute kommen, was du an Schätzen des Geistes und Herzens vor ihnen voraus hast. Lasse dich nicht irre machen durch verfehlte Versuche, durch Undank, durch das Lachen der Welt, die dich vielleicht eine Närrin nennen wird. – Kurz, Kitty – was spreche ich denn lang – lerne diese Menschen kennen und lieben, dann findest du sofort das Rechte und du wirst ein Glück genießen, von dem du bis jetzt keine Ahnung hast.«

Kitty sah andächtig zu ihm auf. Sie hatte das Gefühl, als sollte diese Minute nie enden, als sollte sie nie mehr sprechen, sondern immer in die guten lieben Augen sehen und seine Stimme hören, seine innigen Worte.

»Hast du mich begriffen, Kitty?« fragte er.

»Ich fühle es ja jetzt schon, das hohe Glück, nur wenn du davon sprichst, Franz,« begann sie dann plötzlich in einem feierlichen Tone, sich dicht zu ihm beugend. »Kannst du dir das denken? – Ich oben, nach deiner Idee waltend, Segen, Glück spendend! Du hier unten die Arbeit fördernd, die Mittel schaffend, überall helfend ordnend.«

»Beide feindliche Welten, die des feinen Lebensgenusses und die der Arbeit, verbunden zu einem Paradies!« fuhr Franz fort, vom Traume Kittys geblendet.

»Ja, zum Paradies, Franz! Aus dem uns niemand vertreiben soll!«

»Kitty!« Franz faßte zitternd die beiden Arme, die sich um seinen Hals schmiegten. »Es ist uns ja für immer verschlossen, das Paradies!«

»Franz, mit einem Wort sprengst du seine Pforten.« – Jetzt war es kein Umschmiegen mehr, sondern feste Umklammerung.

Franz bebte in seinem Innern; er liebte Kitty ja schon lange und stand jetzt vor der Erfüllung eines Traumes, den er seit Jahren mit aller Energie zurückgedrängt.

Er kannte aber auch die schnell aufflammende Leidenschaft Kittys. Die mächtigen Eindrücke der neuen Welt, in die sie zum erstenmal an seiner Seite eingetreten, hatten ihre lebhafte Phantasie erregt. Die heilige Begeisterung, die sie erfaßte, konnten neue Eindrücke abschwächen, und aus ihren Augen zuckte ein Strahl, der, so verführerisch er war, einen Augenblick das Wort auf seine Lippen bannte, das sie so glühend zu hören begehrte. Nur einen Augenblick – dann betäubte auch ihn, den Starken, der Atem ihres Mundes, ihres Haares, das seine Stirne berührte. Er riß sie stürmisch an sich, daß sie wie ein Kind in seinen Armen lag und drückte einen Kuß auf ihre Lippen. Die Filzkappe fiel in die Tiefe, das Goldhaar löste sich und das Rauschen und Tosen in der Tiefe schwoll ins Unendliche und tausend Lichter tanzten einen Reigen um sie.

»Das Paradies, Franz,« flüsterte Kitty.

Franz erwachte aus seinem Taumel. Ein jäher Gedanke kam ihm, aber mit vollster Klarheit.

»Kitty, willst du mir folgen?«

»Wohin?« fragte sie, immer noch betäubt, mit halbgeschlossenen Augen.

»Hinaus in die Welt, der ich von nun an angehören werde!«

»Was kümmert dich jetzt noch diese Welt?« erwiderte sie in weicher Hingabe, sanft ihm entgegenlächelnd.

»Doch, Kitty, ich darf sie nicht aufgeben, aus unzähligen Gründen nicht, wenigstens auf Jahre nicht. – Sprich, Kitty, willst du mir folgen?«

Seine Miene, der Ton seiner Stimme ließen Kitty an seinem Ernst nicht zweifeln, und doch waren ihr die Worte völlig unverständlich.

»Du willst mich doch nicht zu einer Ingenieurfrau machen?« sagte sie in scherzendem Tone.

»Ja, das will ich, das muß ich! Nicht für immer, aber für Jahre. Ich kann nicht der Mann meiner Frau sein.«

»Aber, Franz, du kennst doch den Vater! Nie wird er das zugeben.«

»Weil er meinen Stand zu schlecht hält für seine Tochter – und du fühlst grade so, Kitty. Sag' ehrlich, du fühlst grade so?« drang er in das Mädchen.

Kittys Blick flog den Weg voraus in die Zukunft. Sie übersah das ganze enge Leben, das ihr so lichtlos schien, wie diese Höhle – damit kam ihr der Unmut. Warum verlangte er ein so törichtes, maßloses Opfer, wenn er sie liebte? Sie wollte ja gerne alles tun, was er ihr eben in so unvergeßlichen Worten geraten, aber er selbst sagte ja, daß sie deshalb kein Pferd aus ihrem Stalle wegzugeben brauche. Anderseits las sie in seinem Blicke, fühlte sie in der Erregung seines ganzen Wesens eine Liebe, die wohl eines Opfers wert und auch berechtigt war, eines zu verlangen, aber sie war zu ungeübt im Opfern.

Sie fühlte sich ernüchtert und schämte sich doch, es ihn merken zu lassen, nachdem sie einmal so weit gegangen.

»Gehen wir, Franz! Wir brauchen beide Luft und Licht! Ich ersticke hier!« sagte sie.

Franz durchschaute sie mit bitterm Schmerz und ließ sie frei. Jetzt hatte er sie für immer verloren.

Kitty rief einem Arbeiter zu, er solle ihr den Weg zeigen. Sie wollte nicht mehr allein sein mit Franz.

Der Mann stieg die Leiter herauf und reichte ihr hilfreich die Hand. Franz folgte. – Sie stieg von Terrasse zu Terrasse, und als der Arbeiter vor einer Seitenstrecke angelangt, welche direkt zur Förderung führte, sich entfernen wollte, forderte Franz selbst seine Begleitung.

Ohne ein Wort zu wechseln, bestiegen sie das Förderwerk, zugleich mit zwei Arbeitern, die erst auf Kittys ausdrücklichen Wunsch einstiegen.

Kitty setzte sich sichtlich ermattet auf die Bank. Es fröstelte sie jetzt in dem feuchten Kleide. Sie haßte jetzt mehr denn je diese Welt, aus der sie eben emporstieg, sehnsüchtig nach dem ersten Lichtstrahl spähend.

Oben erwarteten sie die Herren, man war bereits in lebhafter Besorgnis.

»Ich dachte, du weißt genau Bescheid,« bemerkte Georg mit einem spähenden Blick auf Kitty. »So war es zum mindesten unvorsichtig, dich von uns zu trennen. Du siehst sehr ermattet aus,« wandte er sich an Kitty.

Diese hatte ihre ganze Elastizität wieder gewonnen im Sonnenschein, der lustig in die Halle spielte. Sie habe sich köstlich amüsiert und das Werk jedenfalls gründlicher kennen gelernt als die Herren.

Als sie in wenigen Minuten wieder in ihrem Reitkleide erschien, jedes Fältchen tadellos, konnte niemand den Sturm ahnen, der eben in dieser scheinbar so ruhigen Brust getobt.

Die Pferde wurden vorgeführt. Allen sah man die helle Freude an, weiche sie, der Unterwelt gründlich entronnen, im Sattel empfanden. Kitty tummelte »Wildrose« im Hofe umher. Ihre Erregung teilte sich dem edlen Tiere mit, dessen Extravaganzen den Herren geradezu Besorgnis einflößte, doch Kitty war von einem wilden Reitgeist beseelt und hatte das Bedürfnis, dem Tiere ihre unbedingte Herrschaft zu zeigen.

Mit hochgeröteten Wangen und wogender Brust hielt sie zuletzt das zitternde, schäumende Pferd und empfing mit sichtlichem Wohlbehagen die unbegrenzte Huldigung der Genossen, Franz einen Blick zuwerfend, den dieser wohl verstand.

Die beiden Prechtings ritten nach Sittenfeld zurück.

»Wir sehen dich doch noch auf Seefeld vor deiner Abreise?« sagte sie, Franz die Hand reichend; sie zitterte und aus ihrem unter dem Schleier stets auf ihn gerichteten Blick las er etwas wie Aufmunterung.

Ein Strahl von Hoffnung stahl sich in sein Herz, der ihm keinen Zweifel ließ, daß er es wirklich an Kitty verloren. Er sagte zu, indem er ihre Hand küßte.

Kitty voran, herrlich anzuschauen mit dem wehenden Schleier, in dem festen, tadellosen Sitz, sprengte die Gesellschaft zum Werk hinaus, der in vollem Herbstschmuck prangenden Landschaft zu, in welcher dieses wie ein häßlicher schwarzer Fleck erschien.

Franz gab sich den Tag und die folgende Nacht den mannigfachsten Gedanken hin.

Der Vorgang in der Grube war für eine Dame wie Kitty doch zu bedeutungsvoll trotz aller Verwandschaft, als daß sie darüber so leicht hinwegkommen sollte. Ein Teil ihrer Weiblichkeit war in seiner Hand geblieben, daran war nichts zu ändern.

Der erste Kuß, dieses erste Aufwallen des Blutes an der Brust eines Mannes ist nur einmal zu vergeben! – Sie wird, sie muß ihrem Vater alles bekennen. Dieser wird empört sein über die Durchkreuzung seines Lieblingsplanes, zuletzt aber doch dem geliebten Kinde nachgeben. Er wird ihn zur Rede stellen, von ihm dasselbe verlangen wie Kitty, daß er einer Lebensstellung entsage, die für eine Komtesse Seefeld nicht passend ist, daß er, der Mittellose, zuerst vom Schwiegervater sich abfüttern, dann der Mann seiner Frau werden soll. Ja, er wird das alles noch für eine befremdende Güte und Großmut seinerseits ausgeben und ihm wohl merken lassen, daß ihn nur die Umstände, schlimmer vielleicht, sein gewissenloses, Kitty kompromittierendes Vorgehen dazu veranlaßt.

Darauf durfte er aber nicht eingehen, wenn er nicht alle Achtung vor sich selbst einbüßen wollte. Er mußte wenigstens, so lange Kitty nicht selbständig war, seine Existenz selbst machen, und vor allem, Kitty durfte sich nicht einer Stellung schämen, die ihn ehrenvoller dünkte, als seine sonstige im Hause des Schwiegervaters.

Er war sich völlig klar, was er morgen dem alten Grafen zu sagen habe – und doch fand er keine Ruhe. In seinem Innersten rumorte der Zweifel, ob nicht Kitty seinerseits ein Opfer verlangen könne, ja, wenn er an die Verwirklichung des Paradieses, von welchem sie gesprochen, um ihr gemeinsames für Hunderte heilsames Wirken dachte, dann mußte er sich sagen, daß mit diesem Opfer mehr geleistet war als mit dem, welches er von Kitty forderte.

Wenn sie ihm morgen, unbeeinflußt von der gehobenen Stimmung, in der sie sich heute befand, beim Anblick all des Fremdartigen, für ihre verwöhnten Begriffe Entsetzlichen in die Hand versprechen würde, die da unten entworfenen Pläne an seiner Seite getreulich durchzuführen, sie zu ihrer Lebensaufgabe zu machen, dann – dann war er ein Selbsthäftling, wenn er das Opfer nicht brachte. – So schwankte er die ruhelose Nacht hindurch zwischen Furcht und Hoffnung. – Sah er Kitty vor dem Abbau in seinen Armen, in der vollen Hingebung des liebenden Weibes, so hoffte er – sah er sie voll neuerwachten Lebensdranges, mit blitzenden Augen und hochgehender Brust auf der »Wildrose« davonsprengen, so fürchtete er.

Mit dem Frühstück brachte der Diener einen Brief. Ein Bote von Vals habe ihn gebracht, Herrn Baron Franz selbst zu Händen. – Kittys Handschrift!

Er wendete ihn lange hin und her. Es handelte sich wohl um Verhaltungsmaßregeln gegenüber dem Vater, der von allem schon wüßte oder um herbe Vorwürfe über seine Halsstarrigkeit! Oder sie hatte Angst, daß ihn der kühle Abschied gestern bestimmte, sich nicht mehr sehen zu lassen.

Plötzlich riß er den Brief heftig auf.

»Lieber Vetter!

Wir waren gestern rechte Kinder.«

Franz lachte hell auf und ballte das Papier zusammen. Er holte aus, um es in die Ecke zu schleudern – dann glättete er es wieder sorgfältig und las weiter:

»die abenteuerliche Fahrt in die Unterwelt, die ja reizend war, hat mich so außer Rand und Band gebracht! Jetzt habe ich die Folgen zu leiden. Ich liege im Bette mit Katarrh und Fieber! – Unser Traum vom Paradiese war sehr schön, ich werde ihn nie vergessen, aber ich bin, offen gesagt, viel zu oberflächlich, wetterwendisch, um ihn zu verwirklichen. Dagegen verspreche ich dir, bei unserer alten Freundschaft, alles zu tun, was in meinen schwachen Kräften steht, das Los der Leute zu verbessern und auch bei meinem Vater dahin zu wirken. – Ganz verloren sollen die Stunden nicht sein, die wir da unten zugebracht. Alles übrige bitte ich der armen, mit sich selbst sehr unzufriedenen Kitty zu verzeihen. Sie ist ein wildes Füllen, ohne Zucht und Führung ... danke Gott, der dich vor dem Wildling bewahrt und wenn wir uns einmal wiedersehen sollten, was ich sicher hoffe, kein Groll, keine Verstimmung – und nun ›Glück auf!‹ Ich kann dich mit dem besten Willen nicht empfangen.

Vergiß nicht ganz

deine treue Cousine
Kitty.«

Franz blickte lange auf die phantastisch verschlungene Unterschrift »Kitty«. Er verfolgte durch ihre Windungen hindurch ihre liebe Gestalt bis zurück in ihre erste Kindheit. Die Augen wurden ihm feucht und die Lippen preßten sich fest zusammen.

Als er sich erhob und den Brief faltete, war sein Antlitz ruhig und gefaßt.

»Besser so! Sie hat mich vielleicht vor einer Schwäche bewahrt.«

Der Abschied vom Bruder war kühl, Verhältnisse und Anschauungen bildeten von jeher eine Scheidewand zwischen beiden.

Das »Laß dich bald wieder auf Sittenfeld sehen« Georgs klang sehr nüchtern. Kein Wort von Kitty, und doch fühlten beide, daß der Name zwischen ihnen lag.

Als Franz in der Equipage des Bruders zur Bahnstation fuhr, blickte er rechts auf Schwarzacker. Eine schwere massige Wolke lag, von der feuchten Atmosphäre am Aufsteigen verhindert, über dem Werk. Er sah deutlich die Treibriemen des großen Schwungrades wie Spinngewebe die Luft durchkreuzen und hörte, vom Wind herübergetragen, die Signale der Förderung.

Da wandte er sich nach links, über dem purpurnen Buchenwald erhoben sich blitzend die Türme vom Schloß Vals.

Und doch wird ihr Bück unzähligemal herüberschweifen auf die geschwärzten Hallen, den düstern Turm, der wie ein Wahrzeichen sich erhebt, des ewigen Gesetzes der Menschheit, von dem er gesprochen, und die mannigfaltigen Stimmen Schwarzackers werden sich in ihre Freuden mischen und sie erinnern an den Schatz, den sie so leichtsinnig vergeudet im Schoß der Erde; – das erste Liebesstammeln des Weibes! Und inmitten des Lusttaumels wird das Heimweh erwachen nach dem verlorenen Paradies, das ihr jetzt nur mehr ein reizendes Spiel scheint ihrer Phantasie. – Sein Bild wird sich heben aus einer Tiefe ihrer Seele, die sie selbst noch nicht kennt, die nur überdeckt war von all dem gleißenden Tand, an dem ihr goldenes Herz gehangen. Und wenn einst diese lockere Decke berstet, wird sie es mit bitterem Weh blinken sehen, unerreichbar tief, und darüber wird die öde Leere sie angähnen.

Arme Kitty!

*


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