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Vielgelästeter, vielumwimmerter Herbst – der jedem Griesgram und Weltschmerzler zum Motto dienen muß –, grauer Entblätterer, nebelumwallter, feuchtkalter, schwermutsschwangerer Todesbote – verzeih den kurzsichtigen, hinter kalten Mauern Verbannten, die dir nie in das frische, männlich trotzige Antlitz geschaut und keine Ahnung haben, daß es dasselbe ist, dessen wonniges Lächeln sie vor wenigen Monaten entzückte. Die ernste Größe des Vollbrachten verklärt deine Züge, du zerstörst nicht das Werk deiner Jugend, bändigst nur weise den ungezähmten Trieb und bereitest dich vor zu dem geheimnisvollen Schlummer, den sie Tod nennen, um phönixgleich, ewig derselbe, von neuer Jugend schwellend, daraus zu erstehen.

Die vielverschlungenen Täler, die Schluchten und Halden erglühen in buntem Farbengemisch, zwischen der Buchen flammenden, sich türmenden Kuppeln drängt sich der goldig flatternde Ahorn, während die beständigen treuen Fichten und Tannen den ernsten Grundton angeben. – Kräftiger Weingeruch steigt auf vom frisch gefallenen Laub und ein Farbenspiel beginnt im Frühsonnenschein, das jedes Pinsels spottet! Hallen dann noch die Laute fröhlichen Gejaids durch den Forst, das Geklapper und Hallo der Treiber, der Anschlag der Hunde, der Klang des Hifthorns, das langsam vergrollende Knattern der Gewehre, dann rühren sich fröhliche, kräftige Stunden.

Das junge Mädchen, dicht an den hundertjährigen Buchenstamm sich drückend, den leuchtenden Blick auf die durchsichtige Dickung vor sich gerichtet, die Wangen vor Erwartung gerötet, die zierliche Büchse schußbereit in den kleinen, aber kräftigen Händen, genoß sichtlich mit allen Sinnen diese kräftige, würzige Lust der Jagd, des köstlichen Morgens, jugendlichen Vollgefühls!

Die üppigen blonden Zöpfe unter dem grünen verwetterten Hütchen hatten sich gelockert und lagerten sich nun auf der grünen Lodenjacke, die dolmanartig über die Schulter der schönen Gestalt hing.

Der Trieb bewegte sich gerade auf sie zu, links und rechts fielen Schüsse, seine Rauchschwaden schwebten zwischen den Buchenstämmen. Ihre Erregung wuchs sichtlich, oft atmete sie hoch auf, den Kopf etwas nach rückwärts beugend. So oft ein neuer Schuß fiel, stampfte sie mit dem roten Juchtenstiefel, der bis zur halben wohlgeformten Wade reichte, auf den Boden. Sie war mit ganzer Seele bei der Sache, offenbar ebenso weit entfernt von jeder weiblichen Koketterie oder Emanzipationssucht als von dem sentimentalen Gefühle, dadurch ihre Weiblichkeit zu verletzen.

Plötzlich spannten sich ihre jugendlichen Züge, die der Flaum der reifen Pfirsich bedeckte, ein grausamer Ernst lagerte sich darauf – vorsichtig hob sie die Büchse in Wangenhöhe. – Zwischen dem Gestänge der Dickung trabte ein Fuchs – blieb stehen – sicherte – dann wieder vorwärts in ahnungslosem Hundstrabe, gerade auf die Jägerin zu.

Als der Schuß krachte, lag der Rote schon am Boden, die Rute zum letztenmal schwenkend. Ein lautes Bravo erschallte durch den Buchenwald aus männlicher Kehle.

Das Mädchen lauschte selbstzufrieden, während es eine neue Patrone aus dem Gürtel nahm und in den Lauf steckte. – Dann begann der Konflikt der Neugierde, das erlegte Wild zu besehen, mit der strengen Vorschrift, den Stand vor Ende des Triebes nicht zu verlassen.

Das Mädchen stellte sich auf die Fußspitzen und lugte auf die Beute.

Da begann ein Höllenlärm im Bogen, die Hundemeute schien auf einen Punkt konzentriert. Das helle Geläute schlug die Richtung zu dem Nachbar ein, jetzt stürmte es krachend durch die Buchenschonung – eine Rauchwolke flog empor – der Nachbar hatte geschossen – gefehlt wohl! Der Lärm wandte sich. Ein Rudel Rehe polterte daher, angsterfüllt, die Hälse weit vorgesteckt – ein Muttertier stürzte vor die Jägerin – das Kitz drückte sich angsterfüllt an dasselbe. Die Jägerin stand regungslos. Ihr Blick richtete sich lauernd nach rückwärts auf den Bock mit hohem, gebräuntem Gehörn, der sie hinter einem Buchenstamm hervor sorgfältig musterte. Ein kläffender, die Fährte verfolgender Dachshund machte der Spannung ein Ende, der Bock sprang seitwärts. Die Jägerin feuerte in rascher Wendung, das Tier brach mit den hintern Läufen zusammen und mühte sich, schlecht getroffen, in qualvoller, kreisförmiger Bewegung.

Wieder ertönte das nämliche Bravo, aber diesmal lächelte das Mädchen nicht; ratlos starrte es auf den Todeskampf des Tieres, auf das Unglück, das es angerichtet – sprang hinzu und wandte das Antlitz vor dem brechenden Auge.

»Georg, komm doch! Das arme Tier!« rief es dann in angstvoll flehenden Tönen.

»Ist der Trieb ja noch nicht zu Ende! Nur liegen lassen! Kommt nicht mehr auf!« war die Antwort.

»Abscheulich!« flüsterte das Mädchen fast weinerlich und hob das Gewehr zum Gnadenschuß.

Da vernahm es Tritte hinter sich und setzte ab, sich wendend. Ein großer, junger Mann, das Gewehr unter dem Arme, stand vor ihm.

»Hast du deinen grausamen Bruder gehört?« fragte es.

»Warum grausam? Das ist die Jagd, der Sport! Und du liebst ihn ja so sehr, Kitty,« erwiderte dieser, ohne Miene zu machen, den Wunsch des Mädchens zu erfüllen.

»Gewiß liebe ich ihn! Aber deshalb bin ich noch lange nicht gefühllos! Willst du, oder willst du nicht?« Kitty sprach diese Worte mit gereizter Energie.

»Nicht mehr nötig,« erwiderte der junge Mann. »Das arme Ding hat bereits ausgelitten.«

»Das arme Ding!« Die junge Dame wandte sich rasch zu dem verendeten Tier und beugte sich über dasselbe, das geperlte, starke Gehörn prüfend.

»Ein Kapitalbock! Du bist mir wohl neidisch, aber ich lasse mir die Freude nicht verderben. Sieh nur die Stangen! Eine Abnormität. Georg hat ihn gefehlt – jawohl! Gott, wird Papa eine Freude haben! Nein, das Glück, das Glück! Ein so dummes Mädel einen solchen Bock schießen!«

Die junge Dame hatte sich auf den Boden gekniet, betrachtete das gefallene Wild und prüfte das Geweih mit kindlicher Freude. Keine Spur mehr von Mitleid oder Reue, der Bock war ja jetzt verendet und schreckte sie nicht mehr mit seinen Todeskrämpfen.

»Na, freust du dich denn gar nicht ein wenig mit? Tu' doch wenigstens so!« wandte sie sich an den jungen Mann, der sie aufmerksam beobachtete. »O, dieser Jagdneid der Männer!«

»Ich – und Jagdneid! Das ist ja die reinste Schmeichelei aus deinem Munde.«

»Ja, das ist wahr, du bist ja ein schrecklich langweiliger Jäger! – Ich meine, wenn ich mich freue, solltest du es auch ...«

»Tue ich auch immer, Kitty, immer! Nur wundere ich mich, daß du dich so freuen kannst über dieses Häufchen Unglück,« erwiderte der junge Mann.

»Natürlich, jetzt kommt die Moralpauke! Für ein Mädchen paßt die Jagd nicht. Das soll immer mit niedergeschlagenen Augen und gefalteten Händen umhergehen und zusammenschrecken, wenn eine Flinte knallt. Blut soll sie gar nicht sehen können, ohne in Ohnmacht zu fallen. – Aber ich bin nun einmal anders – warum denn nicht auch das einmal? Mich freuen alle die Sachen, das Reiten, Fahren, Jagen, Pferde, Hunde. – Deshalb kann man doch mädchenhaft denken und fühlen. Glaubst du das nicht?«

Es lag ein Vorwurf in dieser Frage.

»Ich weiß, daß du so denkst und fühlst – und eben darum – doch, es ist wirklich lächerlich, dir vor einem geschossenen Kapitalbock eine Vorlesung halten zu wollen, anstatt dir, wie es sich von einem Kavalier ziemt, den Bruch auf den Hut zu stecken.«

Der junge Mann brach einen herabhängenden Buchenzweig. »Ich werde wohl nie mehr dazu Gelegenheit haben!« Dann schnitt er ihn mit dem Messer zurecht und steckte ihn auf das Hütchen der Dame neben den Adlerflaum.

Einen Augenblick schwiegen beide. – Kitty beugte ganz demütig das Köpfchen und ließ sich schmücken, dann hob sie es und reichte dem jungen Manne die Hand.

»Ich danke dir, Franz! So oft ich das Geweih ansehe, werde ich an dich denken! – Also wirklich übermorgen schon – in die häßliche Grube? O, mich schaudert's, wenn ich daran denke, hier in dem göttlichen Licht ...«

»Mich gar nicht. Ich liebe sogar diese häßliche Grube.«

»Ah, höre doch nur auf, ich weiß schon! Die Arbeit liebst du, das Schaffen!« erwiderte das Mädchen mit spöttisch bombastischer Betonung. »Und alles, was dieser Welt nicht angehört, verachtest du – und doch bist du auch nicht für sie geschaffen, sondern für die unsrige, für die Welt der Lebensfreude, des Vergnügens! Und ich hasse das Geschick, das es anders gewollt! – Jawohl, lache nur! Ich hasse auch diese Welt der Arbeit, die dich wieder verschlingt auf ein Jahr – die keine Freunde kennt, kein frohes Lachen ...«

Kitty sprach mit leidenschaftlicher Wärme.

»O, da irrst du dich aber doch – du kennst sie gar nicht. Ich wette, du bist noch nicht einmal in Schwarzacker eingefahren,« erwiderte der junge Mann.

»Denke auch gar nicht daran! Ich mache immer einen Umweg, um diesen schwarzen, bleichen Männern nicht zu begegnen,« entgegnete Kitty.

»Wenn ich dich aber bitten würde – zum Abschiede –, mit mir die Grube zu besuchen, deren Herrin du einst sein wirst – morgen noch?«

»Ja dann – zum Abschied. Wenn ich mich aber fürchte?«

»Eine Amazone! Eine Jägerin! Eine Reiterin, Furcht?« Ein spöttisches Lächeln erschien auf dem Antlitz des Mannes.

»Ja, du hast recht. Abgemacht! Wir fahren morgen ein.«

Der junge Mann zog die kleine nervige Hand an seine Lippen, doch er zögerte, sie zu küssen, frisches Blut befleckte sie.

Kitty zog sie verdrossen zurück, ein schlimmes Wort drängte sich auf ihre Lippe, da tönte dicht hinter ihr eine rauhe Stimme: »Wenn ihr immer plaudert, nützt mir das Stehenbleiben freilich nichts mehr!«

Ein Mann in Jagdtracht trat zwischen den Buchen vor, das Ebenbild des andern, welcher bei Kitty stand, nur schlanker, seiner in Form, chevaleresker im ganzen Auftreten. Das Antlitz hatte trotz einer gewissen militärischen Schärfe, wozu der buschige, wohlgepflegte Schnurrbart wohl am meisten beitrug, etwas Verschwommenes, Verlebtes. Es fehlte ihm die männlich derbe Energie, die sich in dem des Jüngeren auf Kosten des aristokratischen Wesens ausdrückte. Die beiden waren Brüder, Freiherren von Prechting auf Gittenberg, Gutsnachbarn, Verwandte und heute Jagdgäste des Grafen Seefeld auf Schloß Vals. Der ältere, Georg, seit einem Jahr Majoratsherr, Besitzer der Herrschaft Sittenfeld. Der Nachgeborene, Franz, hatte vor einem Jahre die Bergbau-Akademie in Freiberg absolviert und war im Begriffe, nächster Tage seinen ersten Dienst als Ingenieur in einer rheinischen Grube anzutreten.

Es war nur wenig Allodvermögen da, als vor einem Jahre der alte Prechting gestorben, dessen ganzes Streben Zeit seines Lebens die Vergrößerung seines Grundbesitzes war.

Der nachgeborene Franz mußte sich selbst sein Brot verdienen. Von Jugend auf den väterlichen Grubenbetrieb vor Augen, begeisterte sich der aufgeweckte, derbe Junge für den Bergmannsberuf.

Der alte Prechting, ein aufgeklärter Mann, welcher mit scharfem Sinn den drohenden Schritt einer neuen Zeit aus weiter Ferne vernahm, sträubte sich nicht dagegen. Wer weiß, ob er nicht einmal dem Leichtfuß Georg, der seine Jugend bei den Husaren in vollen Zügen genoß, eine Stütze sein konnte!

Sittenberg war ja fast ausschließlich ein Grubenbesitz, ebenso wie das benachbarte Vals, und der höchste Wunsch des alten Barons gipfelte in der Vereinigung beider Besitze durch eine Verbindung seines Erstgeborenen Georg mit der einstigen Erbin von Vals, Komtesse Kitty; die ziemlich weitläufige Verwandtschaft war kein Hindernis.

Daß Georg seine große Idee nicht im geringsten förderte und sich als Husarenleutnant in alle möglichen kostspieligen Verbindungen einließ, anstatt der blonden »Cousine« auf Schloß den Hof zu machen, während der fünfzehnjährige herzensgute Franz dort der erklärte Liebling war, der treue Gefährte Kittys, das fraß dem Alten am Leben. Ihm, dem besitzlosen Nachkömmling, wird der Graf nimmer sein einziges Kind, die Erbin von Millionen, zur Gattin geben, dazu kannte der alte Preehting zu gut die Vorurteile und Schwächen seines eigenen Standes. Er hätte es ja auch nicht getan, und so wird ein anderer, klügerer kommen, als sein leichtsinniger Georg, und die reiche Erbin heimführen. Der alte Freiherr starb über dieser Sorge.

Georg von Prechting betrachtete den Rehbock.

»Donnerwetter! Diesmal ging ich etwas zu weit in der Galanterie, dir den Kapitalbock zu schicken – und ein Fuchs! Du fängst an, uns Männern gefährlich zu werden, Cousine!«

»Darauf kommst du erst jetzt?« erwiderte Kitty nicht ohne Koketterie.

»Allerdings!« erwiderte Prechting mit einem losen Lächeln auf seinen Bruder blickend. »Wie kannst du denn zur besten Zeit deinen Stand verlassen, du Hauptjäger?«

»Ich sah die Verlegenheit Kittys. Eine Dame kann doch keinen Bock knicken, erwiderte dieser gereizt.

»Nun, dann läßt sie ihn eben liegen. – Was er für ein weiches Herz hat, der Franz«, wandte sich Georg lachend an Kitty.

»Das gefällt mir grade an einem sonst so starken Manne! Es ist auch wahr, man verwildert ganz mit der Jagd.«

»A pah, sie härtet ab wie jeder Sport! Wir würden nette Weichlinge werden ohne sie.«

»Das heißt, der Sport ersetzt euch die Arbeit,« bemerkte Franz.

»Auch das, wenn du willst,« entgegnete der ältere. »Ich wenigstens kann jetzt mit jeden Schmiedegesellen konkurrieren, was Hunger und Durst betrifft.«

Die Jagdgesellschaft näherte sich lärmend. Der letzte Bogen war gemacht und schon glühte der Wald im Purpur der sich neigenden Sonne.

Kitty eilte plötzlich in die Dickung und kam mit dem Fuchs heraus, den sie triumphierend an der Rute den Herren entgegenhielt.

Treiber in zerlumpten Kleidern, geschossenes Wild auf dem Rücken, kamen daher, eine Hundemeute sammelte sich bellend, raufend, um den Rehbock Kittys. Die Herren besprachen ihre Erlebnisse, zündeten sich frische Zigarren an und boten sich die Kognakflasche. Munteres Leben erfüllte den schweigenden Wald! Auf den gebräunten Gesichtern blühten die Rosen der Gesundheit, die muskulösen, durch den Sport abgehärteten Körper atmeten physisches Wohlbehagen.

Graf Seefeld, dessen scharfgeschnittenes Antlitz, von einem schneeweißen, bis an die Brust wallenden Bart umrahmt, in der köstlichsten Jugendfarbe prangte, begrüßte den Erfolg seiner Tochter mit kräftigen Ausdrücken.

»Verdammtes Mädel, das! Wenn die nicht für einen Jungen geht! A was, für einen! Für zwei geht sie!« Darauf pflegte er mit Vorliebe anzuspielen, seinen Verdruß dahinter verbergend, ohne männliche Nachkommen zu sein.

Franz von Prechting unterschied sich auffallend von der ganzen Gesellschaft, mit seinem ernsten, etwas bleichen Antlitz, dem großen durchgeistigten Blick seiner braunen Augen. Trotz der Kraft seiner Glieder trat das Physische bei ihm mehr zurück, das bei den übrigen sich hervordrängte.

Er blieb auch immer vereinzelt, die Worte, die man an ihn richtete, klangen mehr konventionell, wie an einen Fremden gerichtet, und das war er auch in diesen Kreisen – der künftige Ingenieur! In wenigen Tagen gehörte er einer anderen Welt an, die einem so fern lag wie der Sirius – wozu da noch eine Verbindung anknüpfen?

Gräfin Kitty fühlte das mit weiblichem Scharfsinn heraus und entschädigte ihn reichlich auf dem Heimweg durch ostensive Unterhaltung. Sie nahm jetzt schon einen Vorbereitungskurs über die morgige Einfahrt, für die sie jetzt auf einmal Feuer und Flamme war.

Der alte Graf kehrte sich wiederholt nach dem Paare um, da er aber immer nur technische Erklärungen hörte, war er völlig beruhigt.

Franz und Kitty waren Jugendgespielen, bei der intimen Freundschaft der Väter gab sich das von selbst. Georg war bereits bei der Truppe, als Kitty zwölf Jahre alt war. Der ständige Hinweis des Vaters auf seine spätere, von dem Bruder völlig verschiedene Lebensstellung verfehlte nicht, den Jungen frühzeitig ernster zu stimmen. Das Nachdenken über gewisse Unterschiede, unbegreifliche Ungerechtigkeiten und Notwendigkeiten des Lebens, begann bei ihm in Jahren, in welchen es sich sonst nicht zu regen pflegt. Die Mutter war ein Jahr nach seiner Geburt gestorben, so fehlte auch das ausgleichende versöhnende Element der Mutterliebe.

Das grade Gegenteil war bei Kitty der Fall. Das einzige Kind, Stammhalterin, war sie der Mittelpunkt des Hauses. Der alte Graf trachtete in einem leicht begreiflichen Egoismus den herb empfundenen Mangel eines Sohnes völlig durch Kitty zu ersetzen und gab der Erziehung, nachdem auch seine Gattin früh gestorben, unwillkürlich einen mehr männlichen Anstrich; daß dadurch das Selbständigkeitsgefühl, der Eigenwille des Kindes sich bedenklich stark entwickelte, war unabwendbar. Und der alte Graf hatte seine Freude daran, hatte es ja auf Vals Gelegenheit genug, sich auszutoben und dieser Überfülle an Kraft ledig zu werden. Daß auf diese Weise mit der Zeit in diesem Mädchengemüt eine Leidenschaft, ein ungezügeltes Temperament sich heranbildete, das später zur ernsten Gefahr werden konnte, daran dachte er nicht.

Franz wirkte da vortrefflich auf sie ein mit seinem überlegenen Ernst. An ihm brach sich ihr Übermut, ihr trotzigherrisches Wesen, so jung er war, ein Kind noch wie sie selbst. An ihm lernte sie wenigstens die Schranken kennen, die auch ihr, dem verwöhnten Kinde des Glückes, gesetzt waren, einen eisernen männlichen Willen, und unbewußt empfand das Mädchen doch schon so weiblich, daß es ihm im stillen Dank dafür wußte und sich immer inniger an ihn anschloß.

Franz kam auf die Schule, Kitty brachte den Sommer auf Schloß Vals, den Winter in der Stadt zu. Der alte Graf konnte das Kind nicht entbehren. Wie er glaubte, unmerklich, lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf den Vetter Georg. Doch in ihrem ausgeprägtem Eigenwillen fühlte sie sofort die Bestimmung heraus und lehnte sich dagegen auf. Georg erleichterte ihr die Lage, indem er, mitten im Genußleben stehend, gar nicht daran dacht, sich irgendwie zu binden.

Kam dann in den Ferien Franz nach Hause, überhäufte sie ihn mit Freundschaftsbeweisen, die, wenn sie auch teilweise eine gewisse Absichtlichkeit verrieten, zuletzt zu warmen Gefühlsausdruck wurden.

Sie bemühte sich jedoch vergeblich, den sich rasch entwickelnden Jüngling für ihre Liebhabereien zu gewinnen, ihren Sport en miniature, den sie schon als Kind trieb. Wenn er ihr dann mit einer seinem Alter weit vorgeschrittenen Überlegung erklärte, daß alle diese Dinge nur für die reichen Leute seien, aber nicht für ihn, der einmal sein Brot durch Arbeiten verdienen müsse, dann war sie sichtlich entrüstet über diese Ungerechtigkeit, welche völlig Gleichberechtigten aus ihr unverständlichen Gründen so verschiedene Lebenslose zuteilte, und sah mit einem mitleidigen Grauen auf den Jugendgefährten, der ihrem Begriffe nach einer entsetzlichen Zukunft entgegenging.

Sein Brot verdienen! Arbeit! Diese Worte verkörperten sich für sie einzig in den bleichen, gebückten Gestalten der Grubenarbeiter ihres Vaters, deren Anblick sie stets sorgfältig auswich.

Kam dann einmal Baron Georg in schmucker Husarenuniform nach Vals geritten, stets voll heiterer Laune, zu allen Tollheiten aufgelegt, konnte sie sich trotz alles gegen den Bevorzugten eingebildeten Grolles eines sympathischen Gefühls nicht erwehren. Er war schön, gesund, heiter, ein vollendeter Kavalier; eine glänzende Zukunft lag vor ihm. Seines Lebens Horizont zeigte kein Wölkchen, sein Anblick erweckte nur heitere, lebensfrohe Gedanken, und sie mied sorgfältig jedes Leid, nur im Anblick schon, wie das Kranke, Häßliche.

Die letzten Jahre trennten sie immer mehr von Franz, der sich während der kurzen Zeit seines Aufenthaltes in Sittenfeld entweder hinter seine Bücher oder in die Sittenfelder Kohlengruben verkroch, während sie zu Roß, zu Wagen oder mit der Flinte am Rücken sich umhertrieb.

Seit langer Zeit zum erstenmal wieder beteiligte sich Franz an einer Jagd, und sie zweifelte nicht daran, daß er es ihr zuliebe tat, vor seinem endgültigen Scheiden von der Heimat.

Bis jetzt war er immer noch der Baron Prechting, der Standesgenosse, der Nachbar – damit war es jetzt zu Ende, wenn sie auch nicht daran dachte, ihre Gesinnung gegen ihn zu ändern. Er verließ für immer ihre Welt, und wenn er einmal wiederkam, kam er als Fremdling.

Wenn sie jetzt daran dachte, packte sie etwas wie Trennungsweh. Eigentlich stand sie außer dem Vater niemand nahe als Franz, das kam ihr jetzt erst so ganz zur Besinnung, und was sie an ihm immer auszusetzen, zu bespötteln hatte, seine ernste Lebensauffassung, seine ihr völlig unbegreiflichen, ganz außerhalb ihre Sphäre liegenden Interessen, sein schlichtes, derbes Wesen, dem die ihr gewohnte gefällige Form mangelte – das alles schien ihr jetzt, im Augenblicke des drohenden Verlustes, in ganz anderem Lichte.

Es war ihr jetzt ein Bedürfnis, einen kleinen Ausschnitt zu erhalten aus der Welt, welcher Franz von nun an angehören sollte, ahnend, daß ihre Phantasie ihn gar oft aufsuchen werde. So lauschte sie jetzt auf dem Heimwege aufmerksamer denn je seinen Erklärungen und kam nicht zu Ende mit Fragen.

Franz war zuerst überrascht und dann froh bewegt, bei ihr auf solch unerwartetes Verständnis zu stoßen. Er sprach sich in eine Begeisterung hinein, in eine Kühnheit der Hoffnungen, welche hinwiederum auch Kittys leicht bewegliche Seele mächtig erregte. Jetzt konnte sie den morgigen Tag kaum noch erwarten. Die Einfahrt in Schwarzacker erschien ihr jetzt als das reizvollste Abenteuer, dem sie je entgegen gegangen.

Schloß Vals, dicht am Rande einer steil in ein waldiges Tal fallenden Hochebene gelegen, war einer der ältesten Herrensitze des Landes. Die Stile mehrerer Jahrhunderte vereinigten sich in ihm zu einem bizarren Bau von malerischer Willkürlichkeit. Die gewisse, von modernen Baumeistern mit vieler Mühe gesuchte Patina des Altertums wirkte ausgleichend auf die sonst schroffen Übergänge, so daß das Ganze trotz allem organisch entstanden schien.

Der Reichtum des Besitzers sorgte dafür, daß die Unbequemlichkeit der Bauart nicht fühlbar wurde. Hinter den bemoosten alten Mauern und Steinbastionen fand sich neben der gediegenen Schlichtheit längst vergangener Zeiten der raffinierteste Luxus der Gegenwart, der jedoch nirgends in Weichlichkeit und Geziertheit ausartete. Alles trug ein mehr männliches Gepräge. Der Kultus des Sports drückte dem Ganzen seine Siegel auf, es roch nach Pferden, Hunden und Lederzeug. Der englische Stil war der herrschende in Lebensweise, Dienerschaft, Stall und Salon, bis herab zur Kleidung und den einfachsten täglichen Gebrauchsgegenständen.

Die Herren machten Toilette zum Diner, eine Sitte, die der Uneingeweihte nach anstrengenden Jagdtagen, müde, hungrig, als ein lästiges Opfer empfindet, die aber für den Lebemenschen, abgesehen von der Etikette und der physischen Annehmlichkeit, eine wohlberechnete Genußerhöhung in sich schließt, indem er dadurch den sonst rein animalen Kultus des Magens wesentlich verfeinert und veredelt.

Komtesse Kitty erschien in einfacher dunkler Toilette, hoch geschlossen, gereifter und doch mädchenhafter. Sie hatte mit dem Kleide auch sich selbst verändert. Das laute, ungebundene Wesen war jetzt einer vornehmen Würde gewichen, das ebensowenig affektiert erschien als das erstere. Vorher war sie pikant, jetzt war sie schön, und diese gesunde Härte der leicht gebräunten Haut stach vorteilhaft ab gegen das durchsichtige, kränkliche Antlitz der englischen Gesellschaftsdame, die sie begleitete.

Die Herren waren größtenteils Offiziere aus der benachbarten Stadt und das Zivil saß ihnen wie gewöhnlich nicht recht zu Leibe, nur Georg von Prechting war tadellos in seinem, den zierlichen Wuchs zeigenden Smoking, während Franz im puritanisch geschlossenen Gehrock, unter welchem mächtige Muskeln spielten, einen völlig bürgerlichen Eindruck machte.

Als er seinen Platz auf der unteren Seite des Tisches suchte, wo er ihm als den Jüngsten und auch dem Range nach zukam, machte ihn Georg mit einem Lächeln, das ihn verdroß, aufmerksam, daß er den Ehrenplatz einnehme, neben der Komtesse. »Zum Abschied wohl,« fügte er bei.

Franz schämte sich des Gefühles, das in diesem Augenblick in ihm aufstieg und das Blut ihm bis auf die Stirn trieb.

Die Hand Kittys, die er küßte, strömte jetzt berückenden Duft aus.

Man machte kein Hehl aus einem Riesenappetit und das Menü war für Jäger bestimmt, raffinierte Reizmittel waren überflüssig. Kräftig und vortrefflich war die Parole des Koches.

In dem stimmungsvollen, eichengetäfelten Speisezimmer, dessen Wände Jagdtrophäen aller Art schmückten, an der mit köstlichen Weinen und Speisen besetzten, mit jenem vielgestaltigen, ehrwürdigen Geräte, welches nur das Alter und der Reichtum eines Hauses schaffen kann, gedeckten Tafel entwickelte sich rasch jene glückliche Stimmung, die nur unter der dreieinigen Herrschaft der Jugend, der Gesundheit und des Wohlstandes ihren ganzen Reiz entfaltet.

Die Arbeit des Tages bildete natürlich den Mittelpunkt des Gespräches. Würzige Waldesluft wehte über den Tisch, die Augen blitzten auf bei der Erinnerung an frohe Weidmannsstunden, Humor und derber Scherz purzelten mit Has und Reh und Fuchs im lustigen Durcheinander, bis einmal zufällig das Wort »Pferd« fiel. Da ruhte der Wald, die Büchse wurde an den Nagel gehängt und im Feld und Buschwerk erdröhnte der Hufe hohler Klang. Die Rennbahn prangte in vollem Festesschmuck. Die berühmte La Flèche, die Simonstocher, rang mit Arme, dem großen Doncastersohn aus der Little Sister zu Sandown Park, um den Preis der Eclipfe Stakes, dieses Riesenrennens, daß eben vor kurzem in der ganzen Sportwelt so gewaltiges Aufsehen gemacht.

Georg von Prechting war selbst auf dem Sattelplatz. Sein sonst etwas erschlafftes Gesicht bekam plötzlich einen scharf markierten energischen Ausdruck. Die Augen blitzten leidenschaftlich bei der Schilderung des großen Tages. Im Anfange lag May Duke voran, erst nach einem Viertel Weges begann El Diablo vorzurücken, alle antworteten auf den Vorstoß, mit Ausnahme Medicis, der auf Speed geritten wurde. Ein wildes Rufen der Begeisterung ging über den Platz, als La Flèche zu El Diablo aufzuschließen begann, das aber dauerte nur wenige Sekunden, da zog schon wieder May Duke an sie heran und Orme legte sich neben die große Gegnerin.

Lautlose Stille herrschte im Zimmer, kein Messer, kein Glas wurde berührt, selbst der Diener, ein alter Reitknecht stand wie erstarrt mit der gefüllten Platte.

Kitty war ganz blaß geworden, ihr glänzendes Auge ruhte auf Georg, den der Eifer förmlich verklärte. Sie hatte ihren Nachbar völlig vergessen, der sich selbst nicht der allgemeinen Spannung entziehen konnte.

Die Situation bei Einbiegen in die Gerade war die, daß vorn die Vierjährigen May Duke und El Diablo gingen, denen Orme und La Flèche folgten. Plötzlich aber änderte sich das Bild, Schlag auf Schlag. Im Nu war es mit La Flèche zu Ende, wie der Sturm fegte Orme vor.

Kitty stieß einen lauten, sonderbaren Schrei aus und ihre kleinen Händen ballten sich.

Medicis aus dem Hintertreffen hinter ihm her und in wenigen Sekunden waren die beiden führenden May Duke und El Diablo abgetan. Es war nur mehr ein Zweikampf zwischen Medicis und Orme, und Orme siegte um einen Kopf.

Alles atmete erleichtert auf. Der Diener servierte wieder. Die Gläser leerten sich Orme zu Ehren.

Dieser würdige Abschluß der unvergleichlichen Reihe Doncaster – Bend Or – Ormonde – Orme! wie Georg erklärte.

Franz von Prechting beobachtete aufmerksam Kitty. jetzt glühte sie und ihre Augen, loderten in sinnlicher Glut. Die nervöse Leidenschaft dieses Orme war auf sie übergegangen.

Sie beteiligte sich jetzt eifrig an dem lebhaften Gespräche der Herren, welches das so kräftig angeschlagene Thema nicht mehr verließ, und verriet eine Fachkenntnis, die jedem Jockey Ehre gemacht hätte. Graf Seefeld war selbst Züchter und erging sich mit einem Feuereifer über Abstammungs- und Zuchtverhältnisse, die Anwesenheit der Damen völlig außer acht lassend.

Die Perle seines Stalles war der Zuchthengst »St. Gatien« aus dem Graditzer Gestüte. Er konnte nicht zu Ende kommen mit der Erwähnung seiner Vorzüge und sprach sich in hellen Zorn, daß man das Pferd in Deutschland viel zu wenig schätze und nicht eine einzige der Petrarchstuten zu ihm schicke, während in England diese Blutmischung so sensationell eingeschlagen.

Kitty war sichtlich schon abgehärtet in Bezug auf solche sportlichen Auseinandersetzungen. Die Herren betrachteten sie offenbar als Genossin und dachten nicht einmal an das Unschickliche des Gesprächs für das Ohr eines Mädchens. Nur die bleiche Engländerin gewann um eine Nuance mehr Farbe und schlug die langen, blonden Wimpern nieder.

Der schwere Rotwein erhitzte die Phantasie. Man schwärmte von neuen Erfolgen, gab die tollsten Reiterstückchen zum besten, und zuletzt beschloß man in der jetzt einmal geweckten Sehnsucht nach neuer Betätigung seiner Kunst, für den morgigen Tag eine Schnitzeljagd abzuhalten unter Führung Georgs als Master.

Kitty war entzückt und beschwor den Grafen, sie zum erstenmal auf Wildrose teilnehmen zu lassen. Es erhob sich ein solcher Sturm des Beifalls unter den Herren, daß der Graf wohl oder übel seine Zustimmung gegen mußte. Sie sprang auf und küßte den Vater stürmisch. Alle ihre Bewegungen, das erhitzte Antlitz, die blitzenden Augen verrieten eine ungezähmte Leidenschaft, welche die Herren entzückte und für morgen einen herrlichen Anblick versprach.

Da steckt Rasse drin! Höheres Lob konnte in diesem Kreise Kitty nicht gezollt werden.

»Hast du dein Versprechen für morgen ganz vergessen?« fragte Franz, als sie sich wieder neben ihn setzte.

Sie erschrak förmlich vor seiner Stimme, die, seit man bei der Tafel saß, nicht gehört worden war. Hatte sie doch eine andere Absicht, als sie die Anordnung ihres Vaters, nach welcher Georg neben ihr zu sitzen kam, änderte und Franz zum Nachbarn wählte, die Absicht, ihn vor allen anderen Gästen, besonders aber vor Georg auszuzeichnen. Warum interessierte er sich aber auch gar nicht für solche Dinge? Ihr zuliebe schon? Und jetzt fängt er mit dem unglückseligen Versprechen an, in Schwarzacker einzufahren, in die häßliche Kohlengrube, in dem Augenblicke, wo ihr sehnlichster Wunsch sich erfüllt, das erste Feld reiten zu dürfen. Anderseits las sie in seinen Augen Bitte und Vorwurf. Es war der letzte Tag – für immer vielleicht – Mitleid regte sich in ihr mit dem Verbannten.

»Offen gesagt, ja! In meiner Freude über Papas Erlaubnis, morgen mitreiten zu dürfen, habe ich wirklich die Grube ganz vergessen.«

»Die Grube? – Was für eine Grube denn?« ertönte es von allen Seiten zugleich.

»Die Cousine wollte morgen mit mir in Schwarzacker einfahren«, bemerkte Franz.

»In Schwarzacker? Kitty? In das Kohlenloch? Was soll sie denn dort?« fragte Georg lachend.

»Na, ich denke, die Besichtigung eines so herrlichen Besitzes bietet des Interessanten genug!« entgegnete Franz.

»Aber doch nicht für eine Dame, noch dazu, wenn sie darüber ihr erstes Feld versäumen sollte! Lieber Franz, quäle doch Kitty nicht so. Sie hat absolut keine bergmännische Veranlagung.

»Aber vielleicht das Verlangen und gewiß die Pflicht, als künftige Herrin von dreihundert Arbeitern sich ein Bild von ihrer Hantierung, von ihrem Wohl und Wehe zu machen!« entgegnete Franz, erregt von dem Bemühen des Bruders, seinen Vorschlag ins Lächerliche zu ziehen.

»O weh! Wenn du so anfängst, schweige ich. Übrigens ist ja, glaube ich, jede Debatte unnötig. Was willst du, Kitty?« sagte Georg, siegesgewiß lachend: »Schwarzacker – oder das Feld?«

»Schwarzacker!« erwiderte Kitty, zum allgemeinen Staunen.

Georg zuckte die Achseln und lächelte spöttisch Franz zu. Dann kam ihm plötzlich der Zorn.

»Kannst du dafür gutstehen, daß Kitty unter dem störrischen Volke, das uns alle haßt, nichts Unangenehmes passiert, daß sie nichts Peinliches sieht oder hört?«

»Gewiß, das kann ich sicherer, als an manchem anderen Ort,« erwiderte Franz, auf das unpassende Gespräch von vorhin anspielend, »die Leute werden sich nur freuen über den unerwarteten Besuch...«

»So? Und die Gefahr? Kannst du auch dafür stehen?« fragte Georg, ärgerlich über seine Niederlage.

»Jedenfalls mit ruhigerem Herzen, wie du als Leiter der geplanten Schnitzeljagd. – Übrigens will ich nicht den letzten Tag meines Hierseins dir ein Vergnügen rauben, Kitty...«

Der Hinweis auf den letzten Tag entschied die Wahl Kittys völlig.

»Es bleibt dabei, ich fahre morgen ein. Am Ende ist das ja auch ein Sport. Fünfhundert Meter unter der Erde! Wer weiß, ob nicht mehrere der kühnen Herren sich das überlegen würden.«

Allgemeiner Widerspruch.

»Wir fahren alle mit ein!« schlug Leutnant, von Strehlen vor.

Allgemeine Akklamation.

Die Zweifel Kittys, das Neue, Absonderliche des Vorschlages reizte.

Kitty wurde feuerrot, zu spät sah sie ihren Fehler ein. Franz rechnete gewiß nicht auf so große Gesellschaft.

»Ich glaube nur,« erwiderte er, sichtlich peinlich berührt, »daß die Herren ihre Rechnung nicht dabei finden werden.«

»Wenn Kitty sie findet!« bemerkte Georg spöttisch. »Übrigens mache ich den Vorschlag, daß wir das Nützliche, nach meinem Bruder Franz, mit dem. Angenehmen verbinden und einen gemeinsamen Ritt nach Schwarzacker unternehmen. Das heißt, wenn die Herren Arbeiter uns dieses kapitalistische Vergnügen nicht zu sehr übelnehmen. Du mußt das ja wissen, Franz! Oder wirkt schon deine Anwesenheit beruhigend, des Arbeiterfreundes?«

»Nenne mich immer so,« erwiderte Franz, »ich bin es auch und muß es sein, gerade in meinem Fache, in welchem uns alle gemeinsame Gefahr und Mühe verbindet, vom Direktor bis zum letzten ›Schlepper‹«.

Das verschiedenen Herren unbekannte Wort »Schlepper« gab Anlaß zu Fragen, die zuletzt den ganzen Betrieb umfaßten.

Franz wußte überall Bescheid und wußte das vielgestaltige Grubenleben so lebendig und interessant zu schildern, daß er nicht minder gespannte Zuhörer fand, wie eben Georg mit seinen Exlipse-Stakes.

In dem behaglichen, jetzt von dem köstlichen Aroma des Mokka und der Havanna erfüllten Räume, in welchem eben noch Orme und St. Gatien Triumphe feierten, wirkten die von Franz heraufbeschworenen Bilder aus der Arbeiterwelt der Grube doppelt drastisch. – Diese ewig feuchten Schächte tief unter der Erde, die Arbeit »vor Ort« mit gekrümmten Rücken, in einer dumpf übelriechenden Luft oder im eisigen Wasser bis an den Gürtel! Dieses finstere Leben, dessen Sonne das ärmliche Grubenlicht, dieser tragische Tod tückisch lauernd in allen Winkeln!

Diese Männer in der Fülle der Kraft und der Gesundheit wurden unwillkürlich schweigsam. Ein peinliches Gefühl, von dem sie sich selbst nicht Rechenschaft geben konnten, regte sich im Innersten, die ständig heitern Stirnen wurden ernst.

Kitty hatte den Kopf auf den Arm gestützt und betrachtete Franz: Oft lief ein Frösteln durch ihre Glieder, oder sie bedeckte die Augen mit der Hand. Nur Georg von Prechting tändelte gleichmütig mit dem Messer, blickte auf die Decke und seufzte schwer auf, um sein Unbehagen zu zeigen.

»Du bringst ja eine recht angenehme Stimmung herein,« begann er endlich. »Warte doch ab bis morgen. Da kannst du uns das alles ja ad oculos demonstrieren. Übrigens ist das alles nicht so schlimm, weißt du,« wandte er sich an die Gräfin, »die Leute wissen es ja nicht anders und finden sich in ihrer Welt ganz leidlich zurecht. Das Törichte ist nur, sie aufklären zu wollen über eine andere, für die sie einmal nicht geschaffen sind, und ihnen den Glauben an die Erreichbarkeit aufzudrängen.«

»Das mag ja sein, Georg,« erwiderte Kitty, »anderseits kommt es mir vor, als ob die in dieser andern freudigen Welt Lebenden die Verpflichtung hätten, sich wenigstens in dieser dunkeln, mir nach der Schilderung deines Bruders so grauenhaft etwas umzusehen und wenn sie ihnen zu dunkel, zu grauenhaft scheint, etwas Licht hineinzubringen und Freude!«

Kitty wunderte sich über sich selbst. Sie hatte bis zu dieser Stunde noch nicht an solche Dinge gedacht. Der ernste und doch so milde Blick des Mannes an ihrer Seite hatte die Worte aus dem innersten ihrer Seele auf ihre Zunge gelegt und jetzt, nachdem sie dieselben gesprochen, fühlte sie plötzlich, daß sie ein unzerreißbares Band knüpfen zwischen ihm und ihr. Die Augen wurden ihr feucht, als sie den Dank las in den seinigen.

Georg hatte eine neue Schlappe erhalten, die man ihm zu gönnen schien, dem versteckten Lächeln nach, das hier und da auf einem Mund erschien.

»Du bist ja heute eine so gelehrige Schülerin, wie soll das erst morgen werden?« sagte er, während seine Stirn sich rötete. »Aber das schadet nichts,« setzte er mit einem scharfen Blick auf seinen Bruder hin. »Der erste Ritt auf der ›Wildrose‹ wird diese kleinen Grillen aus deinem Köpfchen treiben. Bei solchem Beruf zum Lebensgenuß das keine Gefahr.«

»Wer weiß,« meinte Kitty, »man könnte ja auch diese Welt, in der wir leben, einmal satt bekommen.«

»Das will ich ja nicht leugnen! Oft schon dagewesen! Aber na, dann trollt man sich eben gleich für immer, aber man tauscht doch nicht eine schlechtere dafür ein.«

»Wenn sie einem etwas böte, was diese Übersättigung aufhöbe, das Leben wieder lebenswert machte, warum nicht?« bemerkte die Gräfin.

Franz setzte das Weinglas an die Lippe und trank es leer. Kitty hatte jetzt einen ganz fremden, strengen Ausdruck.

»Zum Beispiel?« fragte Georg, seinen stattlichen Schnurrbart hinausreichend, mit zusammengekniffenen Augen.

»Das weiß ich nicht,« entgegnete Kitty, sichtlich verwirrt,

»Zum Beispiel, das Bewußtsein, etwas wirklich Ersprießliches zu leisten für die Menschheit,« bemerkte Franz zu Kitty.

»Daran dachte ich wirklich nicht,« entgegnete Kitty. »Ich weiß überhaupt gar nichts von solchen Dingen, ich denke bloß, daß das Glück nicht an unsere Welt allein gebunden ist, daß es etwas gibt« – sie wurde verwirrt, verlegen.

»Ach, ich kann mich nicht so ausdrücken. Georg hat wirklich recht,« fügte sie plötzlich in leichtfertigem Tone hinzu, »wer wird denn von so ernsten Dingen reden!«

Der Duft einer Ananasbowle drang wie ein Gruß aus dem Süden plötzlich aus dem Nebenzimmer. Sie beeilte sich, die sorgsame Wirtin zu machen, sichtlich froh, aus der Stimmung gerissen zu werden, und bald blinkte der köstliche Trank in den zarten Gläsern.

Man trank sich lachend »Glück auf« zu und der düstere Eindruck war halb vergessen.

Franz selbst beteiligte sich mit einer an ihm sonst ungewohnten Lebhaftigkeit an der Unterhaltung, die mit jedem Glase des feurigen Trunkes mehr von der frühern Fachmäßigkeit einbüßte und nun in liebenswürdiger Willkür dahinfloß.

Kitty kam es sichtlich schwer an, sich auf einen nicht mißzuverstehenden Augenwink der Engländerin, welche auch die Champagnerbowle nicht aus ihrer Zurückhaltung herauslockte, sich von der lustigen Gesellschaft zu trennen. Doch der alte Graf hielt einmal streng darauf.

Trotz aller Galanterie wollte man noch einige Stunden den verschmitzten Geistern, welche der Bowle entstiegen, freie Bahn lassen. Es wurde ohnehin schon da und dort leise gezischelt und unterdrückt gelacht, ein sicheres Zeichen, daß es für die Damen Zeit war, sich zu entfernen.

Kitty glühte, als sie auf ihr Zimmer kam, sie öffnete das Fenster und ließ den kühlen Nachtwind um ihre heiße Stirne streichen.

Über den schwarzen Buchenwald zuckte eine purpurne Lohe auf und ab und mitten aus ihr erhob sich pinienartig eine Rauchsäule gegen den Nachthimmel – das war der Atem der Grube »Schwarzacker.«

Sie sah die bleichen rußigen Männer auf- und niedersteigen in den dunkeln Höhlen, um die Schätze der Tiefe zu gewinnen, von denen der Reichtum ihres Hauses stammte, die mit Pferden gefüllten Ställe, die kostbaren Räume des Schlosses, jede Freude, jede Luft, die sie genoß.

Nie dachte sie daran bis jetzt! Franz war daran schuld mit seinen großen Schilderungen. Wozu das? Wozu sie stören in ihrem harmlosen Glück?

Und doch horchte sie ihm andächtig zu und freute sich darauf, morgen all das Elend selber zu schauen.

Was sie doch alles für törichtes Zeug schwatzte – man könnte ja einmal diese Welt, in der sie lebte, satt bekommen! – Wo alles Freude und Licht war? – Wie denn? Warum? Und die andere dort, welche diese häßliche Rauchwolke ausstößt, könnte das bieten, was diese Übersättigung aufhöbe? – Was dachte sie denn nur dabei?

Lange starrte sie ohne klare Gedanken in die Nacht hinaus – da formte sich ihr ein sonderbares Bild! – Eine kleine ärmliche Stube,, ein junges Weib sitzt vor einer Lampe, arbeitend, in der Wiege neben ihr schlummert ein Kind. Sie hörte deutlich das Ticken der Uhr an der Wand. – Vergebens strengte sie sich an, wo sie die Stube und das Weib gesehen. – Da tritt ein großer Mann ein im Grubenkleid, in seiner Hand die brennende Lampe. – Das junge Weib springt auf und sinkt an die Brust. Er umfaßt sie, küßt sie – jetzt hebt er das Haupt, Franz von Prechting! – und das Weib mit den glückstrahlenden Augen an seiner Brust – sie selbst – Kitty!

Das Herz pochte ungestüm. Da erschallte das lärmende Gelächter der zechenden Gäste herauf – das Bild verschwand – und Kitty lacht hell auf mit, während sie hastig das Fenster schloß.

Sie lachte noch still vor sich hin, als sie schon hinter den kostbaren Spitzen ihres Betthimmels lag mit offenen Augen.

Das wäre eine lustige Maskerade! – Die Augen schlossen sich, aber das Lächeln blieb über die lustige Maskerade.

*


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