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490.

»Ein Mädchen und drei alte Narren«

Man hatte eine amerikanische Burleske erwartet und fand einen nicht übermäßig nervenzerrenden Kriminalroman mit sentimentalen Einlagen. In das Heim dreier wunderlicher alter Kerle platzt ein junges Mädel hinein, die Tochter einer Frau, die einmal alle drei in Wallung gebracht und die keiner gekriegt hat. Natürlich sind die alten Junggesellen sofort völlig weg. Aber mit dem Weib ist die Unruhe ins Haus gekommen. Denn ihr Vater sitzt wegen Scheckfälschung im Gefängnis; er bricht mit einem andern unter abenteuerlichen Umständen aus, will seine Tochter wiedersehen; der andere dagegen trachtet dem Richter Trumbull, einem von den drei Alten nach dem Leben. Aufregung, falscher Verdacht auf dem Mädchen, Revolverschüsse – glücklicher Ausgang. Das Ganze schwimmt in einer übrigens nicht unsympathischen Brühe sanfter Verlogenheit. Der Bürger ist gut! Das sehen zum Schluß selbst die Feinde der Gesellschaft ein, die Verbrecher, sie sprechen ein Pater peccavi vor den reputierlichen Leuten. Die Aufnahme im U.T. Nollendorfplatz war sehr freundlich. Man muß dem Regisseur King Vidor lassen, daß er auf knappen, pointierten Ablauf hält und auch das Rührselige nicht mehr dehnt als sein Publikum nun einmal verlangt. Eleanor Boardman, seine Hauptdarstellerin, zeigt ein frisches, ansprechendes Mädchengesicht.

Montag Morgen, 10. November 1924

491.

Die unzivilisierte Sexualität

Möge mir Arnold Hahn verzeihen, aber es soll keine Attacke werden auf seine »Zivilisierte Sexualität« im vorigen Heft des »Tage-Buchs«. Ich will auch gar nicht eingehen auf Definitionen über den Unterschied von Kultur und Zivilisation. Ich folge ihm nur dahin nicht, wo er von einer möglichen Lösung der Sexualleiden in lumpigen fünfzig Jahren spricht. Ich glaube nicht an die Möglichkeit dieser Lösung auch in lumpigen fünftausend Jahren. Ich glaube, daß es ein Intimstes im Menschen gibt, was nicht den Wandlungen der sozialen Struktur unterliegt und infolgedessen auch niemals »gelöst« werden kann. In diesem Sinne bleibt die Liebe ebenso unlösbar wie der Tod. Mag die gesellschaftliche Erscheinungsform wechselbar sein, die stets flexible geschlechtliche Moral eine Generation heftiger einengen als schon die nächste, durch die Jahrtausende dringt dennoch der gleiche Ruf aus Lust und Jammer gemischt, das ewige sehr primitive Lied von Begehren und Versagen, übertönend die große und komplizierte Orchestermusik der Kulturen und Zivilisationen. Und selbst wenn einmal die Menschheit befreit von allen ökonomischen Quälereien in die selige Faulenzerei eines zweiten Paradieses eingehen sollte, es wird immer Jünglinge geben wie Ammon, Davids Sohn, auf einsamem Lager sich nach der Schwester verzehrend, ewig wird Potiphars Weib vergeblich seufzen, hassen und verleumden, und in der realisiertesten aller Idealstaatstheorien werden junge Mädel Lysol nehmen, weil der Eine nichts von ihnen wissen will, und alte Idioten werden sich am Fensterkreuz aufhängen, weil die Eine konstant nach der anderen Seite blickt.

Doch ich möchte mich nicht in weite Perspektiven verlieren, es liegt mir nur daran, von einem Ewigkeitsproblem auf ein Zeitphänomen hinzuführen, von der Sexualität einer möglichen Zivilisation zur Sexualität jener fröhlichen Barbarei, in der wir leben und voraussichtlich auch sterben werden. Nach uns die Sintflut oder der Garten Eden – des Menschen Blume ist die Gegenwart, und das Signum dieser Gegenwart ist die unzivilisierte Sexualität, deren Merkmale nicht in einem schwarzen Kaffernkraal, sondern in unserm frisch aufblühenden Gemeinwesen Berlin am deutlichsten zu beobachten sind.

»Der zivilisierte Mensch ... kämpft um die Nacktheit der Sexualität.« Lieber Doktor Arnold Hahn, dieser Kampf ist in Groß-Berlin längst entschieden und zwar zugunsten der nackten Sexualität, aber die Zivilisation ist dabei untern Wagen gekommen. Die trockene These des Aufkläricht: Befriedigung des Geschlechtstriebes sei ebenso natürlich wie Essen und Trinken, war gut gegen die verstaubten Embleme einer bürgerlich verlogenen Idealität, die mit moralischen Taschenspielerkniffen den Unterleib unterschlagen wollte – nun, der Unterleib ist inzwischen wieder entdeckt worden, aber es ist wie immer bei großen Entdeckungen: nach Columbus kommen die Conquistadoren, kommen auch die Landmesser und Kartographen, die braven Pedanten, die das Wissen vom neuen Land popularisieren. Und jetzt haben wir, Hand aufs Herz, eigentlich genug entdeckt, die Formel: »... so natürlich wie Essen und Trinken« hat gesiegt und wird gewissenhaft befolgt; der Fortschritt täte wohl daran, die Siebenmeilenstiefel für eine Weile auszuziehen. Die alte Sittlichkeit ist der ungehemmten Sexualität unterlegen; die Kosten dieses Krieges jedoch zahlt unglücklicherweise der gute Geschmack. Wir wollen ganz gewiß nicht eine Renaissance der mit Recht in den Staub gerungenen antiquierten Moralität, aber bei der Verselbständigung des Unterleibes ist die Nase der leidtragende Teil geworden. Wir sollten die Strapazierfähigkeit dieses nützlichen Organs nicht überschätzen.

Die Berliner Liebe, um uns an das frappanteste der Beispiele zu halten, waltet im Genius der Likörstube. Unsere Aphrodite steigt nicht aus dem Meeresschaum, sondern aus einer Bouteille Cherry Brandy. Daß die Weiber sich durch die Bank wie Kokotten tragen und betragen, wäre nicht so schlimm, devastierend bleibt nur, daß sie es ausgerechnet wie Berliner Kokotten tun. Gibt es noch jenen muntern, leicht angewienerten Grisettentyp, der einem früher gelegentlich übern Weg lief? Ach, wie können Mimi und Mussette gedeihen, wo alles auf Barzahlung gestellt ist? Der zahlungsfähige Rüpel bestimmt das Niveau und die Preise und formt alles nach seinem Bild. Und da die Sexualität ein Handel geworden ist wie jeder andere, und der Handel in den Jahren der Kriegswirtschaft der Tendenz zur allgemeinen Verpöbelung restlos unterlegen ist, so werden 125 Pfund Weiberfleisch heute nicht mit jenem Maß von Höflichkeit erworben wie im Schlächterladen zwei Pfund Schweinebauch. Berlin ist die Stadt ohne Erotik. Es gibt nicht mehr die Grazie oder Tölpelei des Werbens, es gibt nicht mehr die prickelnde Frivolität, es gibt überhaupt nichts mehr, was auch nur entfernt an Form erinnert; die Sexualität ist glattes Geschäft und »so natürlich wie Essen und Trinken«. (Nur ißt man wo anders weniger und besser.) Im vergangenen Sommer will man noch in der näheren Umgebung der Metropole ein Pärchen gesehen haben, das träumerisch versunken den Mond anguckte. Hoffentlich findet man die Leutchen und schafft sie ins Märkische Museum.

Muß wirklich die Liebe, um wieder einige Berührungspunkte zur Ästhetik zu gewinnen, von neuem zur Sünde gestempelt werden? Oder müssen wir alle erst durch das Fegefeuer eines Puritanertums hindurch, um den Rausch, das Abenteuerliche des erotischen Fühlens neu zu lernen? Wieder war die Freiheit mitten unter uns. Sie hat den Geschlechtern die Ketten genommen, aber es wäre wirklich nett gewesen, wenn sie ein paar Rosenbänder hinterlassen hätte.

Wir leben in einer fleißigen, geschäftigen Zeit. Die Kommerzialisierung des Liebeslebens bedingt flotte Expedition, harte Tatsächlichkeit.

»Herr Ober, ein Frühstück und zwei Frauen!«

Solches hörte ich im gesegneten Jahr der Inflation 1923 in einem guten Berliner Restaurant. Die anwesenden Damen amüsierten sich königlich darüber. Wissen die lieben Geschöpfe, daß sie, wie die Austern, nur dutzendweis zu schlucken sind?

Das Tage-Buch, 15. November 1924

492.

Stresemann-Dämmerung

»So kämpfen wir für nationale Realpolitik einer starken Regierung auf den Grundlagen des Rechtsstaates und gesunder Wirtschaft. Unter dem Symbol der alten Reichsfarben schwarz-weiß-rot wollen wir ein neues, glückliches Deutschland schaffen. Der Weg zu diesem Aufstieg führt nicht rechts noch links, er führt geradeaus

Aus dem Wahlaufruf der Deutschen Volkspartei

Herr Stresemann hat in Dortmund den Wahlkampf seiner Partei eröffnet. So lebhaft und viel glossiert auch das Wiederauftreten des ersten Solotänzers unserer Außenpolitik war, man soll sich nicht täuschen, seine Pirouetten umfassen nicht mehr die volle Ausdehnung des politischen Tanzbodens. Wenn nicht alles trügt, wird er in absehbarer Zeit in einem Winkel allein Rad schlagen. Die Deutsche Volkspartei steht nicht mehr im Mittelpunkt. Die Stresemann-Dämmerung hat begonnen.

Es war in Dortmund wie immer, wenn Herr Stresemann seine Reden hält: einiges Vernünftige, einige Schiefheiten, etwas zerschlagenes Porzellan und ein hinterher geschickter Kommentar, in dem alle Schiefheiten nochmals unterstrichen und alles Vernünftige zeremoniell zurückgenommen wird. Ist das geschehen, steht die Partei mal wieder für vier Wochen auf den Beinen, bis irgendeine Rebellion auf der rechten Außenseite alles »Bereinigte« von neuem aktuell macht. Dann tritt der Führer wieder auf den Plan, sagt jedem das, was er hören will ... und so geht das Spiel ins Unendliche fort.

Aber, da steht das große Fragezeichen, wie lange noch kann unsere Außenpolitik dieses Kunststück mit den zwei Lesarten ertragen? Es geht nicht an, zunächst einen Appell »an Alle« zu richten, das heißt, an die weltpolitisch gerichteten Regierungen in London, Washington und Paris, um dann hinterher Konzessionen zu machen zur Beschwichtigung der brodelnden Patriotenseelen in Krähwinkel und Kuhschnappel. Man kann also nicht als Ziel der deutschen Außenpolitik fixieren die »loyale und sachliche Zusammenarbeit mit dem Auslande« (erste Dortmunder Rede), und unmittelbar darauf eine »nationale Realpolitik« fordern, die sich trennt »von den Illusionen der Linken« (zweite Dortmunder Rede) und Anschluß suchen an die Rechte, die gerade die »loyale und sachliche Zusammenarbeit mit dem Auslande« mit allen Mitteln zu konterkarieren strebt. Deutschland hat die Wahl zwischen der Wirklichkeit des Völkerbundes und den Hirngespinsten der deutsch-nationalen Provinz. Herr Stresemann ist persönlich sicherlich nicht ohne Ahnung von der Bedeutung dieser Frage, aber er wurzelt nun einmal in dieser Provinz, und selbst wenn er europäisch spricht, ist seine Seele schwarzweißrot drapiert.

Er führte bitter Klage darüber, daß man auf der Linken zwar die Außenpolitik billige, aber den Außenminister ablehne. Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Niemand hat im letzten halben Jahr die Außenpolitik des Reiches mehr gefährdet als dessen Außenminister. Die Situation ist bizarr genug. Als Außenminister gehört Herr Stresemann der großen weltpolitischen Form an; der Druck politischer und wirtschaftlicher Notwendigkeiten zwingt ihn, in dieser Form zu bleiben. Der Parteiführer Stresemann aber möchte nicht den Applaus des chauvinistischen Galeriepublikums verlieren. So muß er als Erfüllungspolitiker handeln und zugleich gegen diese Erfüllungspolitik reden, er muß hinter sein eigenes Werk fortwährend Fragezeichen setzen, um Favorit derer zu bleiben, die aus ihrer Unzulänglichkeit eine Tugend machen. Er jammert, daß man seine Aufrichtigkeit bezweifelt, daß man ihm ständig seine zwei Lesarten unter die Nase hält. Sind solche Vorwürfe schon einmal erhoben worden gegen den Herrn Reichskanzler Marx, der doch auch in seiner Partei einen sehr unbequemen rechten Flügel gegen sich hat? Bei Herrn Stresemann aber liegt über jedem Wort schon der Schatten des Widerrufs.

»Die nationale Realpolitik«, schreibt sein Organ »Die Zeit«, »hat ihre Feuerprobe bestanden, als es gelang, in London die Verständigung unter Bedingungen zu erzielen, die unsere Lebensrechte wahren.« Hier ist zwar verschwiegen, daß gerade Herr Stresemann es war, der nachher durch seine Techtelmechteleien mit Herrn Hergt das Seinige dazu beigetragen hat, die in London erreichte Verständigung fast zu unterminieren, aber es ist dennoch ganz gut gebrüllt. Aber, und das ist das Gravierende, die ganze »nationale Realpolitik« wäre für die Katze gewesen, wenn Stresemann nicht eine neue und reinere Atmosphäre in der Welt vorgefunden hätte. Was wäre z.B. geschehen, wenn er in London statt Herriot Poincaré vor sich gehabt hätte? Er wäre gar nicht bis nach London gekommen. Die »neue erfolgreiche Außenpolitik«, der die »Zeit« nachrühmt, daß sie nichts mit der »demokratischen und sozialdemokratischen Erfüllungsmanier« zu tun habe, ist nicht neu. Daß sie jetzt Erfolg hatte, liegt zu allerletzt an Herrn Stresemann, sondern daran, daß es in Frankreich einen 11. Mai gegeben hat, und daß sie Erfolg hatte, ist nach dem 4. Mai in Deutschland allerdings ein Wunder. Nicht Stresemanns, Marxens Realpolitik hat in London und Berlin gesiegt.

»Nationale Realpolitik?« Wir kennen Herrn Stresemann und wissen also, was wir uns darunter vorzustellen haben. Es ist die Republik mit dem Kronprinzen in der Hintertür. Es ist die Außenpolitik der Verständigung mit der nationalistischen Phrase in Bereitschaftsstellung. Es ist die von allen gedanklichen Hemmungen emanzipierte Rhetorik, die sich an dem Augenblick verströmt und nichts hinterläßt als einen intensiven Katzenjammer. Diese Politik mag praktisch sein für den Einpeitscher einer heterogenen Partei, sie ist unmöglich zur Führung der Politik eines Volkes, das nach jahrelanger Isolierung wieder in das Spiel der Weltmächte eintritt.

Es ist kein Wunder, daß Herr Stresemann sich in Dortmund mit solcher Schärfe gegen einen etwaigen Linksblock aussprach. Wenn eine Partie seiner Rede bedeutsam war und völlig frei von allen Möglichkeiten einer Revokation, so diese. Hier war der Virtuose der innern Vorbehalte völlig aufrichtig. Wenn sich Reaktion und Demokratie scharf sondern, dann ist für ihn, für seine Partei kein Boden mehr. Wenn klare Verhältnisse geschaffen werden, dann hört auch das gefällige nationalliberale Halbdunkel auf, in dem Stresemanns Stern allein leuchten konnte. Geht der Ruck nach Links, dann ist auch die Rolle der Deutschen Volkspartei beendet, die Brücke abzugeben zwischen offener Reaktion und faulem Liberalismus, dann ist kein Raum mehr für eine Politik nach dem Rezept: Hokuspokus, Hokuspokus, dreimal schwarzer Kater. Solange die Dauer der Republik fragwürdig schien und ihre Verteidiger unsicher waren, konnte ein schwarzweißroter Vernunftrepublikanismus als Bindeglied dienen. Die ihrer Kraft bewußt gewordene Republik braucht diese Notbrücken nicht mehr. Sie hat sie niemals nötig gehabt.

Wieder zieht Herr Stresemann in den Wahlkampf. Aber zum erstenmal tönen seine Reden nicht mehr. Die Akustik im Theater der deutschen Öffentlichkeit hat sich geändert. Die Stimme klingt nicht mehr wie sonst. Oder sollte sich das politische Gehör der Deutschen doch geschärft haben? Wenn die Zeichen nicht trügen, geht der schwarzweißrote Außenminister der schwarzrotgoldenen Republik in sein letztes Gefecht.

Montag Morgen, 17. November 1924

493.

Wachsfigurenkabinett

Die Premiere (Ufa-Theater Kurfürstendamm) war kein ungetrübter Erfolg. Einiges Zischen mischte sich in den Schlußbeifall. Die Applaudierenden hielten verdutzt inne, und man ging nicht ohne Verstimmung hinaus.

Es ist kein Zweifel, daß in diesem Film etwas Enttäuschendes ist, ein Manko, das auch nicht völlig ausgeglichen wird durch zwei bewundernswerte schauspielerische Leistungen. Krauß und Jannings behaupten das Feld, nicht Paul Leni. Das Temperament des Akteurs siegt, nicht die Phantasie des Dekorateurs, die, zwischen Realismus und Caligari schwankend, nicht recht weiß, wohin. Ein Nachzügler der phantastischen Filme, aber ohne die konsequente Exzentrizität des Caligari und ohne die Stimmungsfülle der früheren Arbeiten Paul Wegeners. Zwischen den Wachspuppen des Panoptikums sollten wir im Märchenland sein, aber wir sind zwischen ... sehr reizvoll stilisierten Kulissen und um uns ist nicht die Traum- und Zaubersphäre, sondern sehr nobles Kunstgewerbe. Ernst Stern hüllte die Puppen in kostbare Gewänder, Paul Leni kurbelt sie an; aber der ihnen Leben einhauchen könnte, fehlt.

Dabei gibt Werner Krauß als »Jack the Ripper« das ganze Grauen der plötzlich auf eigene Faust agierenden Marionette. Wie er durch die nächtlichen Straßen wandelt, im schäbigen Redingote, den Schal verwegen umgeworfen, das rechte Auge durch die Hutkrempe verdeckt, spähende Bosheit im leichenhaft starren Gesicht, das die Züge trägt von jedermann und niemand, das ist der Spuk großstädtischer Elendsviertel, den wir alle schon einmal in grauer Nebelstunde schaudernd erlebt haben. Daneben bleibt Conrad Veidts grausamer Iwan tüchtiges Theater. Die Stimmung des Unwirklichen, wenn auch ins Burleske getrieben, hatte, wie Krauß, Emil Jannings als Harun-al-Raschid. Ein jovial-pathetischer Kümmeltürke, wie von einem altfränkischen Ladenschild gestiegen, imponierend beturbant, schwarzbärtig, die alte Weisheit schmunzelnd bestätigend, daß ein dicker Mann auch ein guter Mann ist. Wann hat Jannings zum letztenmal eine so behäbige Liebenswürdigkeit entfaltet? Es war wie eine gutgelaunte Parodie auf seine berühmten Tyrannengestalten.

Was hätte man aus diesen Schauspielern noch herausholen können, wenn das Manuskript darauf verzichtet hätte, die Handlung in kleine Anekdoten aufzulösen? So bleibt nichts in Erinnerung als eine Kette dekorativer und darstellerischer Episoden von unterschiedlicher Einprägsamkeit. Was aber erhofft wurde und nicht kommen wollte, das war die Faszination, die von leeren Glasaugen ausgeht, das war der Augenblick, in dem eine kalte Wachshand sich langsam hebt und grelle tote Maskenlippen sich bewegen.

Es war alles sehr schön, vieles war eine Augenweide, aber – wir waren nicht verzaubert.

Montag Morgen, 17. November 1924

494.

»Poppy Day«

Der Tag des Waffenstillstandes ist in England ein Festtag hoher Ordnung geworden. Der König legt zu Ehren des unbekannten Soldaten am Fuß des Cenotaphs einen Kranz nieder und die Hunderttausende, die in Whitehall versammelt sind, verfolgen entblößten Hauptes die Zeremonie.

Die englischen Blätter zeigen den König im Augenblick der Kranzniederlegung. Er ist gestiefelt und gespornt, sieht überhaupt in seiner Khaki-Uniform sehr martialisch aus. Auf anderen Bildern wieder sieht man Georg V. weniger eisenfresserisch. Da trägt er schlichte Zivilkluft und wandelt nicht übermäßig beachtet auf dem Rennplatz, einer unter vielen. Denn alles in allem ist der König von England (nebst seiner Familie) zum Propaganda-Institut geworden. Er eröffnet und schließt Ausstellungen, er freut sich über den hundertsten Geburtstag von Mr. Smith und trauert mit Mrs. Johnson an der Bahre ihres Gatten. Was er nicht schaffen kann, muß der Prinz von Wales übernehmen, oder der Herzog von York, während der Königin die Spezialaufgabe zufällt, mit gewinnendem Gesichtsausdruck auf dem Balkon zu stehen. Und die Leute haben ihr Vergnügen daran, daß Königs überall dabei sind. Solange noch ein Prinz von Wales die Exhibition zur Bekämpfung der Viehseuche mit seiner aimablen Gegenwart beehrt, wird's in England keine Revolution geben.

Die Totenfeier am Cenotaph, das war die eine Seite des armistice day, die andere Seite wurde verkörpert durch die »poppies«. Die »poppies« sind Mohnblumen (aus Papier), hergestellt von Kriegsinvaliden. Schöne, junge Damen handelten vom Morgen bis Mitternacht auf Straßen und in Restaurants mit diesen roten Papierblumen, und der Erfolg floß dem Marschall-Haig-Fonds für Kriegsverletzte und Kriegerwitwen zu. Es sind von fünftausend Damen 25 000 000 Poppies verkauft worden, und man rechnet mit einer Endsumme von 260 000 Pfd. Sterling.

Die Damen haben die Kaufsummen rücksichtslos, und vor kleinen Opfern nicht zurückschreckend, eingetrieben. Miß Désirée Ellinger vom New Oxford Theater z.B. ging mit ihrem poppy-basket, von Chorgirls umringt, kühn in die heilige Halle der Börse, sie zupfte also das goldene Kalb sozusagen am Schwanz. Nun, die Börse weiß, was sich schickt, sie honorierte einen Kuß Miß Ellingers mit einer Fünfpfund-Note, und Mr. Lewey, ein »stock-jobber«, so berichtet »Daily Telegraph« gewissenhaft, erwarb sechs Küsse, Summa: 30 Pfd. Sterling und zog stolz mit seinen Poppies heim. Glücklicher Jobber!

Kränze und Paraden dem stillen Mann unterm Cenotaph. Der König salutiert. Ein paar Straßen weiter rote Papierblumen und rosige Mädchenlippen. Das Volk braucht die Extreme, um zufrieden zu bleiben. Es sind immer die Imponderabilien, die ein Weltreich regieren.

Montag Morgen, 17. November 1924

495.

K. C.

»In Berlin fand dieser Tage ein 24-Stunden-Dauer-Mannschaftskegeln statt. Von Samstag nachm. 6 Uhr bis Sonntag 6 Uhr nachm. rollten die Kugeln ununterbrochen. Auf 4 Asphalt- und 8 Bohlenbahnen wurden in dieser Zeit 5464 Kugeln geschoben. Sämtliche Kämpfer hielten die 24 Stunden durch und alle Teilnehmer blieben bis zum Schluß verhältnismäßig frisch. Als Sieger ging aus dem Kampf die 1. Mannschaft des Berliner K.C. ›Freie Bahn‹ mit 30 915 Holz hervor.«

Aus einem Sportblatt

Das ist eine in der Tat epochemachende Mitteilung, und zur besseren Verdeutlichung war ihr auch ein Bild beigegeben, das eine Gruppe der Teilnehmer noch verhältnismäßig frisch zeigt. Sie wissen, was sie dem ersten 24-Stunden-Dauerkegeln der Welt schuldig sind, sie können sagen, sie sind dabei gewesen. Sie sind natürlich uniformiert: weiße Beinkleider, weiße Segeltuchschuhe und dunkle Leibriemen. Letztere scheinen allerdings mehr als Vereinsabzeichen zu dienen, denn man bemerkt auch Hosenträger, aber doppelt ist wohl bei so extravagantem Bewegungsspiel besser. Im Vordergrunde steht einer, mit beiden Händen die Kugel umfassend, die seine Welt bedeutet. Der Kopf ist rattenkahl geschoren und wirkt selbst wie eine Art Reservekugel.

Der edle Kegelsport steht im Geruch der Philistrosität, ja, wird zum Teil leider gar nicht als Sport bewertet, sondern nur als eine etwas umständliche Methode, in Schweiß zu kommen. Was ein richtiger Boxer ist, z. B., wird die Kegelbrüder nicht für voll nehmen. Sehr zu Unrecht. Denn Boxen ist längst ein Geldgeschäft geworden, aber beim Kegeln lebt sich rhythmisch geschwungen ein bewußter Idealismus aus. Wenn die Kugel mit Caracho und Caramba über die krachende Bohlenbahn saust, dann jauchzen nicht nur alle Muskeln, auch die geweitete Seele fühlt sich gepackt und hineingerissen in ein Tempo übernatürlicher Raserei.

Es ist kein Zweifel, wer 24 Stunden dauernd Kegel schieben kann, der ist ein guter Mensch. Es gibt sicherlich genug Belustigungen, die bei geringerer Anstrengung dickere Lorbeeren bringen. Der Kegler aber triumphiert über die Materie mit ihren gefährlichen Möglichkeiten. Er geht nach beendetem Turnier brav nach Hause, mit schlappen Knochen und zitternden Kaldaunen, aber zufrieden. Das zwischendurch eingepumpte Bier ist längst verarbeitet. Er reagiert auf nichts mehr. Wenn der Ritter Tannhäuser auch nur sechs Stunden mitgespielt hätte, er wäre mit völliger Wurstigkeit am Hörselberg vorübergegangen. Selbst bei verhältnismäßiger Frische.

Und da eröffnen sich fürs Kegeln als Nationalsport ungeahnte Perspektiven. Wie viele unserer Volksgenossen hätten es nicht nötig, harmlos aber nutzbringend beschäftigt zu werden? Pensionierte Generale, die nach Revanche brüllen, giftgeschwollene Zeitungsschreiber jeder Observanz, kurzum, sie alle, die in ihrem dunklen Betätigungsdrang uns zu Mitbewohnern ihres Narrenhauses machen, sie brauchen etwas, was ihr Dasein tumultuarisch ausfüllt; sie brauchen krachende Balken und müssen etwas sehen, was rollt. Dann sind sie glücklich, und wenn es auch ein Pudel wird. Oh, ich wüßte schon, wie dieser auserlesene Deutsche National-K. C. aussehen müßte. Die religiöse Welle ist abgeebbt, die okkultistische auch. Vielleicht geht doch einmal nach so und so vielen andern Wellen auch eine Kegelwelle durch unser mit Recht so geliebtes Volk.

In diesem Sinne »Freie Bahn«!

Das Tage-Buch, 22. November 1924

496.

H.G. Wells Grundlinien der Weltgeschichte

Verlag für Sozialwissenschaft, G.m.b.H., Berlin.

Von diesem Werk, das in elf Lieferungen erscheinen soll, liegt nunmehr die achte Lieferung vor. Sie umfaßt die Zeit vom Ausgange des Mittelalters bis zum Ausbruch der großen Revolution. Der berühmte Romancier ist kein methodischer Historiker. Er geht sprunghaft vor, verweilt hier bei einer Einzelerscheinung länger als der Grundplan des Werkes erlaubt, um dort ein ganzes Jahrhundert mit einer trocken ironischen Verbeugung zu entlassen. Der gelehrte Sozialist kämpft mit dem Liebhaber spannender Fabeln. So ist nicht Geschichte im alten Sinne des Wortes daraus geworden, aber ein ungemein kurzweiliger Spaziergang durch vier Jahrtausende, und als Cicerone dient eine der interessantesten Erscheinungen der Literatur unserer Zeit.

Das Tage-Buch, 22. November 1924

497.

Das Märchen vom Wolf

Der Regierungsrat Bartels, zurzeit unter häßlichem Verdacht in Untersuchungshaft, ist völkisch und antisemitisch. Daß der Chef der Fremdenpolizei in seinen Mußestunden selbst fremd ging, das soll man dem Herrn Polizeipräsidenten von Berlin nicht groß ankreiden, davon brauchte er nichts zu wissen. Aber Herr Bartels machte aus seiner politischen Einstellung weniger ein Geheimnis, als aus seinen privaten Neigungen. Trotzdem wurde ihm nach der Beurlaubung des Herrn Weiß die kommissarische Wahrnehmung der Geschäfte des Vorstehers der Politischen Polizei anvertraut. Das ist selbst für die toleranteste aller Republiken starker Toback und eigentlich charakteristischer als die ganze leidige Korruptionsaffäre.

Es zeugt weder von menschlicher noch politischer Klugheit, persönliche Verfehlungen zu Parteifragen zu stempeln. Es gibt eben keine Partei, die ganz besonders mit kriminellen Toxinen durchsetzt wäre. Weil jener Bartels zur äußersten Rechten zählt, deshalb wollen wir nicht triumphierend ausrufen: »Aha, wieder einer!« Diese Sucht, auf Grund von Sünden einzelner, ganze politische Gruppen zu infamieren, hat in unglaublicher Weise zur Verpöbelung der innerpolitischen Kampfmethoden beigetragen. Zudem wirkt nichts auf die Dauer peinlicher als die agitatorisch zur Schau gestellte weiße Hemdbrust.

Mit dem Feldgeschrei »Korruption!« wird zur Not ein Zustand gekennzeichnet, aber an den Verhältnissen gar nichts geändert. Wir laborieren heute noch alle ernsthaft an den Folgen der vergangenen bösen Jahre. Erst heute werden die Krankheitsstoffe der Inflationszeit ausgeschieden. Wir haben im Chaos gelebt. Unsere Denkfähigkeit war unterhöhlt. Die gräßliche Ungewißheit des Tages mergelte die Charaktere aus, verwirrte die Haltung. Wo alle Werte, und nicht nur die monetarischen, von Stunde zu Stunde wechselten, da mußte das Verantwortungsgefühl sinken, mußte allgemeine Laxheit platzgreifen, mußten ein paar elende Dollarnoten höher im Kurse stehen als Erinnerungen an Redlichkeit und Treu und Glauben.

Korruption? Man erhebt z.B. Anklagen gegen die Preußische Staatsbank, leichtfertig Kredite gegeben zu haben an sonst nicht übermäßig estimierte Bankgeschäfte. Aber denken wir doch einmal zurück, wie konfus bis vor einem Jahr die Dinge lagen. Wie konnte in diesem Wirrwarr ein Staatsinstitut mit ungeheuerlich erweitertem Aufgabenkreis den erforderlichen Überblick über die Situation haben? Wie viele private Institute, die unter ganz anderen Voraussetzungen arbeiteten, sind damals nicht dem Bluff des Moments, nicht der Wurstigkeit, die sich aus der allgemeinen desperaten Stimmung ergab, zum Opfer gefallen? Es soll sicherlich nichts vertuscht werden. Aber es handelt sich heute nicht mehr darum, Einzelpersonen zu bezichtigen, sondern das Fundament zu festigen, den Untergrund zu sanieren. Anständige Bezahlung, gesunde Arbeitsverhältnisse zu schaffen, darauf kommt es an. Dann werden auch die Schimmelpilze der Korruption von selbst verschwinden.

Wenn der Fall Bartels trotzdem eine eigene Bedeutung hat, so liegt er auf ganz anderm Gebiet. Es ist trotz alledem kein Zufall, daß Herr Bartels und andere Leute, die in Korruptionsaffären verwickelt sind, politisch zur Rechten gehören. Wenn irgendwo, so wurde und wird dort über die »Korruptheit des neuen Regimes« gezetert. Wenn ein kleiner sozialistischer Magistratsbeamter mit der Portokasse übern Deich geht, dann sieht alles von der »Kreuzzeitung« bis zum »Lokalanzeiger« die sittliche Weltordnung in einem ungeheuren roten Sumpf untergehen. Wo eine Wunde ist, soll sie mutig berührt werden. Aber diese hysterische Aufbauschung von Bagatellen, dieses hirnlose Korruptionsgeschrei, diese widerwärtige Skandalriecherei, dieses ewige Gebrüll: Haltet den Dieb, das alles erzeugt schließlich selbst Korruption. Die verehrten »Nationalen«, die Feueranbeter der »alten Ordnung«, haben sich so schrankenlos in ihre Phrasen von der völligen Depravierung des republikanischen Staates hineinphantasiert, daß sie schließlich nicht anders konnten, als ihr eigenes verlogenes Geschwätz für Wahrheit zu nehmen. Weil sie so felsenfest an die Verderbtheit dieses Staates glaubten, deshalb sind sie selbst in Verderbtheit verfallen. Was für ein Interesse z. B. hat Herr X. daran, ehrlich zu bleiben? Seine Zeitung erzählt ihm täglich, wie vom Reichspräsidenten favorisiert, ein nimmersattes Nepotentum das Vaterland ausplündert. Nun, denkt X., wo alles schiebt, warum soll ich allein der Dumme bleiben. Und er macht mit. Oder glaubt mitzumachen. In Wahrheit macht er allein. Das ist der ironische Schatten aller dieser Korruptionsaffären. Es ist wie im alten Märchen, man schreit so lange: Der Wolf ist da!, bis er einen wirklich in den Fängen hat.

Jugurtha, der begüterte Ausländer, hat nach seinen Erfahrungen mit der römischen Fremdenpolizei bekanntlich das geflügelte Wort geprägt: »Rom ist feil, wenn sich nur ein Käufer findet!« Die meisten unserer Landsleute sind allzu schnell geneigt, von Deutschland das Gleiche zu sagen. Weil Einer an die Feilheit des Andern glaubt, nicht zum wenigsten deshalb hat sich das allgemeine Niveau so erschreckend gesenkt. Weil wir so oft vom Wolf sprechen, deshalb holt er alle Augenblicke einen von uns.

Montag Morgen, 24. November 1924

498.

Wölfe in der Nacht

Thaddäus Rittners Komödie, vor zehn Jahren und mehr als handfester Reißer bestaunt, wirkt bei der Wiederauferstehung in der »Tribüne« als ein nicht unfreundlicher, nicht ganz witzloser Ausschnitt aus einer versunkenen Zeit. Der tugendhafte Staatsanwalt in Nöten, – Erinnerungen an Hermann Bahr, Molnár, Ludwig Thoma steigen auf. Die Wölfe jenseits der Hürde wohlbehüteter Bürgerlichkeit, die ein trautes Heim in Schrecken jagen, sie heulen nach dem Takt Pariser und Budapester Sensationsdramatik. Wenn Herr Theodor Loos mit Ibsentönen eine gequälte Seele bloßlegt, dann stellt sich ein Gefühl tiefer Beruhigung ein: wie oft hat man das alles schon gehört! Eduard von Winterstein ist nicht in Wien beheimatet, sondern in Preußen; aus dem korrekten Trottel wird eine Studie von Sternheimscher Schärfe. Auch Else Heims kann nicht wölfisch heulen; dafür aber war ihre bewußte Komödianterie sehr liebenswürdig. Charlotte Schultz setzte wieder mit viel Glück ihre freundliche Blondheit ein. Sie bleibt auch als kapriziöse Modedame das Käthchen von Heilbronn.

Montag Morgen, 24. November 1924

499.

Das unbekannte M.d.R.

Mit zwölf Zeichnungen für das »Tage-Buch« von Fodor

Der erste Eindruck ist wahrscheinlich nicht immer der beste, sicherlich der bleibendste. Nachdem ich den Deutschen Reichstag lange Zeit nur von der Tribüne herab bewundert hatte, machte ich einmal ganz unvermutet – zu einer Zeit, als er noch interimistisch Nationalversammlung hieß – seine intimere Bekanntschaft. Ein freundlicher alter Deputierter zeigte mir in der Wandelhalle die großen Tiere, wie sie da gruppenweis diskutierten oder in Einzelexemplaren gedankenversunken flanierten. Und da mein liebenswürdiger Cicerone sah, wie ich mit der dankbaren Neugierde des echten Greenhorn das alles aufnahm, beschloß er, mir eine ganz besondere Freude zu bereiten. Er führte mich mit verschlagenem Lächeln in einen entlegenen Korridor. Und hätte ich mich plötzlich am Eingang des Hades befunden, ich wäre nicht entsetzter gewesen. Zu beiden Seiten eines langen, kahlen Ganges, in einer Beleuchtung von ungewisser Blaßheit, hatten es sich an die zwei Dutzend Abgeordnete, wie man so sagt, bequem gemacht. Da saßen, lagen, hingen sie, verschnaufend, verdauend, siestahaltend, in betont unrepräsentativer Haltung, Kragen und Krawatten lässig über die Stuhllehne gehängt, mit jovial geöffneten Westen, musisch gelockerten Schnürsenkeln, abwärts tendierenden Beinkleidern. So saßen, lagen, hingen sie da, wie ein vorzeitig gestrandeter Herrenabend.

Zur selbigen Stunde kämpfte im Plenarsaal Erzberger mit Hugenberg. Man schrie, warf die Fäuste in die Luft. Vergeblich läutete der Präsident.

Aber hier spürte man nichts vom Wellenschlag der Leidenschaft. Hier gab es keine Parteien, sondern nur Angehörige eines Berufes, die der Zufall in konkurrierende Betriebe verschlagen. Was ging sie das Gebalge ihrer Chefs an?

Ich stand ziemlich entgeistert. Es war, als sähe ich vor mir Gruppen eines plötzlich erfrorenen Infernos.

»Das ist die andere Seite«, meinte mein ehrwürdiger Begleiter lächelnd.

Heute weiß ich, daß unser Parlament im Negligé weniger Unheil anrichtet als im vollen Wichs. Inzwischen hat man jeden schlafenden Abgeordneten lieben gelernt. Der produziert keine langatmigen Kurzen Anfragen, heckt keine Krisen aus und beteiligt sich nicht an inzwischen beliebt gewordenen Massenprügeleien. Gepriesen sei die stille Mauerblume jenes versteckten Ganges. Was in der schwülen tropischen Atmosphäre des Sitzungssaales gedeiht, präsentiert sich sicherlich in lebhafteren Farben, aber das Lokalkolorit am Königsplatz tut den Augen nicht immer gut.

Es sind nicht die großen Kanonen des Reichstags, denen diese wehmütige Abschiedsbetrachtung gilt, es sind die Kleinkalibrigen, die Unberühmten, die eine unerforschliche Schöpferlaune auf eine Liste gesetzt hat und die diese Laune mit Geduld ertragen. Auch der Parlamentarismus hat seinen Unbekannten Soldaten. Noch niemand hat ihm einen Denkstein gesetzt.

Er ist so, wie jeder andere Soldat auch. Er hat Disziplin im Leibe, kloppt Griffe, vertieft sich in die Mystik des Gleichschrittes, schleppt seinen Tornister im Schweiße des Angesichtes, freut sich, wenn es Löhnung gibt und sieht in der Kantine seine eigentliche Heimat. Er ist alles in allem ein braver Kerl, der Gott und seinen Fraktionsführer walten läßt. Er liebt und haßt auf Befehl. Er redet nur, wenn er gefragt wird und hat eine unklare Vision des Marschallstabes, wenn er zum Stubenältesten avanciert.

Aber was den richtigen Soldaten erst ausmacht, das ist nicht die Tapferkeit, nicht die Fähigkeit, Strapazen zu ertragen, sondern das streng beherrschte Mienenspiel, das selbst die schwierigste Instruktionsstunde durchhält. Wer vor seinem Vorgesetzten sich das Augurenblinzeln nicht abgewöhnen kann, der ist untauglich zum Soldaten und wäre er mutig wie Hector.

Es ist eigentlich schön, daß die Fraktionen so restlos jene militärischen Traditionen aufgenommen haben, die das alte Preußen groß gemacht haben.

Kein Zweifel, der unbekannte Parlamentarier hat manches Widerwärtige auf sich zu nehmen. Dafür aber wird ihm auch sehr viel abgenommen, was andere Sterbliche drückt. Er hat vor allem keinerlei Verantwortung. Der Führerstab denkt für ihn und gibt ihm stets eine wohlgesetzte Begründung, die er nur nachzusprechen braucht. Wenn er dafür einen eigenen Brustton findet, schadet es seinem Fortkommen nicht, das ist eine rein stimmliche Angelegenheit. Wenn er dagegen versucht, aus seinem eigenen Gedankenvorrat etwas hinzuzufügen, wird das nicht gern gesehen. Denn da gibt es zu leicht Widersprüche. Am besten ist es schon, sich strikt an die Vorschriften halten. Das Exerzierreglement eignet sich nun einmal nicht zum Kommentieren.

Es gibt natürlich auch innerhalb der scharf gezogenen Grenzen genug Möglichkeiten, sich individuell, durchaus der Sonderbegabung gemäß, zu betätigen. Ein »Hört, Hört!« an richtiger Stelle gerufen, kann bewirken, daß alle das hören, was kein Mensch gesagt hat, ein erstauntes »Aha!« eine dunkle Situation aufhellen, ein grimmiges Murren die Standhaftigkeit eines Gegners erschüttern, ein silberhelles Lachen die Geister des Frohsinns noch gerade rechtzeitig herbeilocken. Die Bemerkung in der Zeitung »Grunzen links!« ist der schönste Lohn für den, der zuerst gegrunzt.

So verliert die Politik immer mehr den unbequemen persönlichen Charakter. Die Abgeordneten gehen in der Atmosphäre auf, in einer parenthetischen Notiz sind gleich Dutzende enthalten. Das M.d.R. ist ein völlig neutralisierter Begriff, eine anonyme Angelegenheit, ein Teilchen am parlamentarischen Mechanismus, kein unersetzliches! Es lebt und stirbt, wie der Soldat ... namenlos. Aber es lebt und stirbt zu einem höheren Zweck. Das ist auch die bescheidene Genugtuung des Unbekannten Soldaten.

Wir bringen hier eine Reihe von Bildern, die von einem der scharfsinnigsten Kenner der Physiognomie unserer Politik herrühren. Deutlicher als die durchgeistigten Führerköpfe lassen diese treuen und anspruchslosen Rekrutengesichter ahnen, warum unser Parlamentarismus so ist, wie er eben ist. Manche von denen, die am 4. Mai noch munter ins Gefecht marschierten, sind inzwischen von ihren Musterungsbehörden garnisondienstfähig geschrieben. Sie dürfen nicht mehr in den Graben und sind als sturmerprobte Krieger sicherlich sehr unglücklich darüber. Dafür wird Ersatz da sein. Soldaten sehen immer gleich aus.

Der Eine oder Andere wird vielleicht mit einiger Emphase ablehnen, zu den »black horses« gezählt zu werden. Da ist z.B. Herr Laverrenz. Ach ja, es gibt keine trostlosere Charge, als die des Offiziersstellvertreters. Mit den Unteroffizieren zu verkehren ist unter der Würde, und die Offiziere ...?

Armer Herr Laverrenz ...

Das Tage-Buch, 29. November 1924


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