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330.

»Das Paketboot Tenacity«

Kammerspiele

Die »Tenacity«, ein Dampfboot mit der Endstation Montreal in Kanada, liegt mit einem Maschinendefekt 14 Tage in einem nordfranzösischen Hafen. Bei dem Dreiakter »Tenacity« hapert es gleichfalls mit der Maschinerie. Herr Charles Vildrac, um es ohne Umschweife zu sagen, heizt seinen dramatischen Steamer nicht mit Kohle oder Öl, sondern mit Schlafpulver.

Eine auf die Szene verlaufene Novelle. Naiv, ohne technische Kniffe; sauber, anständig. Didaktisch, allegorisch, pädagogisch. Und langweilig. Manches scheint zart, wie mit Wasserfarben leicht hingepinselt. Aber bei näherem Zusehen sind es nicht Wasserfarben, sondern nur verwässerte Farben.

Bastien und Segard, zwei junge Arbeiter aus der Pariser Vorstadt, wollen, aufgerüttelt vom Kriegserlebnis, Europa den Rücken kehren, um fern in Kanada als Bauern ein neues Leben zu beginnen. Da es, wie gesagt, im Maschinenraum des Dampfers »Tenacity« nicht in Ordnung ist, müssen sie 14 Tage warten, welche Zeit sie benutzen, um sich in die verführerische Hebe der Hafenschenke zu vergaffen. Segard, der täppische und gutherzige Junge, nimmt die Sache ernst und betet an; Bastien, der dunkelhaarige Renommist, greift, von einer spendierten Flasche Champagner kraftvoll unterstützt, ohne Bedenken zu. Und am Morgen, da die »Tenacity« tatsächlich flott geworden ist, fährt er, der stolze »Organisator« der Expedition, anstatt nach Kanada mit seiner Dulcinea nach Paris. Der arme Segard, vom Freund und der Geliebten betrogen, entscheidet sich nach längerem Gähnkrampf zu einem kurzen, aber fast dramatischen Ausbruch, um dann, von den Segenswünschen einiger guter Menschen begleitet, als zukünftiger Lebenssieger den Dampfer »Entschlossenheit« zu besteigen.

Das hätte zur Not eine Komödie werden können, aber es gedieh daraus ein grausam papierenes und lebensfernes Schauspiel mit mehr Moral als sich an einem Abend verdauen läßt.

So wurde der Abend zum Erfolg einzelner Schauspieler. Dieterle war sehr wirkungsvoll als leichtlebiger Schwätzer. Brausewetters frische, unverdorbene Jungenhaftigkeit siegte über die Hemmungen seiner Rolle. Liselotte Denera brachte in die allgemeine Trockenheit einen Hauch sinnlicher Wärme. Ettlinger führte mit der Gestalt eines alten Kneipenphilosophen einen tapferen, aber hoffnungslosen Kampf.

Feydeau kehre zurück, alles verziehen!

Berliner Volks-Zeitung, 20. April 1922

331.

An den Berliner Ecken ...

Ein paar Stunden an der Kranzler-Ecke

Sie reicht, um es gleich zu sagen, von der Friedrichstraße bis zum Pariser Platz. Denn wer vor Kranzlers Pforte Posto fassen wollte, um sich beschaulicher Beobachtung hinzugeben, würde schnell weitergestoßen werden und erst am Brandenburger Tor einen Ruhepunkt finden. Da, wo sich der Verkehrsstrom der Friedrichstraße mit dem der Linden kreuzt, ist nicht gut Hütten bauen.

Früher war die Kranzler-Ecke mal ein beliebter Rendezvousplatz. Das ist längst vorüber. Ebenso wie die Romantik, die einst den Namen Kranzler wie mit bunten Baiserflöckchen umgab. Als ich zum ersten Mal zu Kranzler geführt wurde, war ich noch ein recht kleiner Junge. Da saßen dort an schlichten Tischen alte Damen mit Kapothüten und schwarzen Mamillen, delektierten sich an Kaffee und Kuchen und sahen unglaublich ehrwürdig aus. Das ist nun alles anders (heute führt mich auch kein Mensch mehr zu Kranzler): neue Gäste, neue Preise, und aus dem alten Hause ist von bewährten Innenarchitekten auch der Rest von Gemütlichkeit hinausstilisiert worden. Die alten Damen von dunnemals sind ausgestorben. Die anderen, die inzwischen Matronen geworden sind, tragen keine Kapothüte mehr und sehen (wenigstens von hinten) aus wie siebenzehn. Sie hüpfen in kurzen Kleidchen und lesen die Romane des dämonischen Hanns Heinz Ewers, sehr zum Gespött ihrer Enkelinnen, die längst darüber hinaus sind und den Marquis de Sade bevorzugen, um gleich an der Quelle zu schöpfen.

Die Linden sind trotz der modernen Geschäftshäuser noch heute eine beliebte Promenade. Die Friedrichstraße dagegen dient nicht der Erholung, sondern der Arbeit. Wer von den Linden zur Friedrichstraße hinüberwechselt, drückt damit aus, daß er des Müßigganges satt, entschlossen ist, dem Ernst des Lebens die Stirn zu bieten.

Nun weiß ich natürlich, daß der kritische Leser hier einhaken und auf den Charakter der Friedrichstraße als Mittelpunkt des Amüsierviertels verweisen kann. Du bist vollkommen im Recht, verehrter Leser, aber das ist eben das vertrackte an diesem Berlin, daß hier selbst das Vergnügen zur Schwerarbeit ausarten mußte. Das Amüsement, in München ein leichter Falter, der in das Häusermeer eine Ahnung von Blumenduft trägt, selbst im prosaischen Hamburg ein trikotiertes Frauenzimmerchen auf klingenden Narrenschellen, ist in Berlin längst das Opfer einer weitgehenden Industrialisierung geworden, wobei auch das Publikum im wesentlichen nur das Material darstellt, das verarbeitet wird. Auch wenn sie tanzt, verleugnet Madame Berolina ihre Verwandtschaft mit dem Bären nicht. Diese Menschen, die da die Friedrichstraße hinuntereilen, mit verknurrten Mienen und offensiv bereiten Ellenbogen, Kämpfer um die Minute. Stoßtrupps der um das tägliche Brot ringenden Arbeitsheere, sie alle stellen irgendwie Teilchen jenes forcierten, bis ins Kleinste hinein durchorganisierten Amüsierbetriebes dar, der die echte Heiterkeit zermahlt, das unbefangene Lachen zum krampfigen Glucksen hinabdrückt und den Rausch zu einer Angelegenheit perfidester Spekulation macht. Der Triumph der Organisation bedeutet den Tod der Behaglichkeit, und die diffizile Mechanisierung selbst der Unredlichkeit heißt die Gesetzlosigkeit um ihr letztes betrügen, was sie der Seele des fühlenden Menschen weniger abstoßend macht: – den lockenden Schimmer des Vagantentums. Wenn das Klauen und Beschummeln schon, wie hier, mit bureaukratischer Gewissenhaftigkeit exekutiert wird, dann kann man sich überhaupt nicht mehr vorstellen, welche Verwüstung der Ordnungstic in den Hirnen jener angerichtet haben mag, die fünf noch immer als krumme Zahl gelten lassen. Fürwahr, eine Nachmittagsstunde in dem Menschengewimmel der Friedrichstraße, und der soziale Anatom kommt auf seine Kosten. Aber heiter stimmt das nicht.

Nach Dunkelwerden wechselt das Bild. Zwar bleibt die Straße gedrängt voll, doch das Hasten hat aufgehört. In schwerfälligem Gleichmaß wälzt sich der unentwirrbare Menschenknäuel weiter, nur vor den Kinos und Kabaretts gibt es Stauungen. Die Amüsierpaläste größten Formats befinden sich ja in den Parallelstraßen der Linden, und wenn man sich etwa in den Eingang jener verstaubten Kaverne zwängt, welche die Passage heißt, hört man im Vorübergehen, wie Strategen des Berliner Nachtlebens ihre Operationspläne entwickeln und großzügig von den Möglichkeiten ihrer Expedition sprechen, welche dann gewöhnlich himmelhoch jauchzend im Palais anfängt und zu Tode betrübt nach Sonnenaufgang in einem Slum irgendwo hinter der Markgrafenstraße endet, nachdem ein paar Kellner gegen den Rest der Barschaft den berühmten Dolchstoß von hinten geführt haben, so daß nichts übrig bleibt, als ein glanzloser Rückzug hinter die blau weiße Aschingersche Demarkationslinie, wo auf unsicheren Beinen als letzte Ausbeute einer sozusagen fidelen Nacht ein melancholischer Rollmops einverleibt wird. Es gibt nämlich noch immer unverbesserliche Dummköpfe, und die kommen durchaus nicht aus der sogenannten Provinz, die es noch immer nicht begriffen haben, daß das ganze Nachtleben der Friedrichstadt nur von einer Macht beherrscht wird. Das ist: Seine Majestät der Nepp! Wer einmal den Kellner eines Nachtlokals beim Rechnen betrachtet hat, der wird nicht aus dem Staunen herauskommen über die fortschreitende Popularisierung der Relativitätstheorie und wie weit sich die Arithmetik von Adam Riese entfernt hat.

Die Kranzler-Ecke ist die Valuta-Ecke. Bis zu Adlon zieht sich ein Gebiet hin, das nominell noch zum Deutschen Reiche gehört, faktisch aber seit dem letzten großen Marksturz als exterritorial angesehen werden muß. Da ist jede Sprache, jede Währung, jede Kleidung vertreten. Es ist so eine Art internationaler Korridor, den Lorenz Adlons Speisekammer wirkungsvoll abschließt. Dementsprechend ist dieser Landstrich für den Deutschen höchst unergiebig (die Streichholzhändler ausgenommen, die, mitten im Ausland, unsern guten, alten Gewerbegeist repräsentieren); Michel, der noch immer nicht begriffen hat, daß sich von allem andern besser leben läßt als von Arbeit, fühlt sich da in seinem schäbigen Rock wie eine Verkörperung von Pharaos mageren Kühen und strebt eilenden Fußes, aus diesem Rayon herauszukommen. So bleiben als einzige aufheiternde Momente in diesem Bezirk deutschen Mißvergnügens charmante und elegant gekleidete Damen, die unter der Devise arbeiten, die vaterländischen Devisen zu kräftigen, und zu diesem edlen Zweck ihre ganze Person einsetzen. Unter ihren manikürierten Fingern wechseln die zählebigsten Dollar- und Pfundnoten spielend den Aggregatzustand. Und wenn sie das Objekt ihrer liebenswürdigen Bemühungen schließlich in irgendeinem Hotelzimmer in der Jägerstraße in sanften Schlummer gewiegt haben, so verschwinden sie häufig genug unter rigoroser Erfassung der Sachwerte. Wenn der Bedauernswerte sich dann genügend in seiner Muttersprache ausgeschnarcht hat, fällt beim Erwachen sein Blick auf ein Bild radikalster Auskehrung; er aber verwünscht die Elster, die ihm nicht einmal seinen Langenscheidt belassen hat, und damit die Möglichkeit, mit den dienstbaren Geistern seiner neuen Umwelt zwecks Beschaffung einer neuen Beinbehausung kontradiktorisch zu verhandeln.

Zwischen Kranzler und Adlon ist der Deutsche wenig geschätzt. Zwischen dem neuen Frühjahrshut und dem schicken Cape ein ganz, ganz flüchtiger Blick, aber lang genug für die Frage mit dreifacher Verneinung: »Was kannst du armer Teufel geben?« Die Prüfung ist beendet, kurzes Naserümpfen – das Cape flattert weiter. Das geht, wie gesagt, im Bruchteil einer Sekunde vor sich, aber die Impertinenz dieses Blickes ist unnachahmlich. Die Valutakokotte ist eben nicht irgendein leichtes Dämchen, das man mit einem jokosen Wort anspricht, sondern eingedenk ihrer hohen patriotischen Aufgabe, die Fremden zu rupfen und damit zur Belebung des heimatlichen Marktes beizutragen, fast eine nationale Institution, so etwas wie ein ambulantes Finanzamt zur besonderen Verwendung. Das erfordert angestrengtes Studium. Mag das geistige Bedürfnis der nächtlichen Passantinnen des fridericianischen Strichs mit ein paar unanständigen Ansichtskarten, die Interessenten gegen einen bescheidenen Zuschlag gezeigt werden, durchaus befriedigt sein, die ins Horizontale transponierten Lukretien, die mit dem Air der großen Dame des achtzehnten Jahrhunderts unter den Linden wandeln, tragen in der silbernen Handtasche den letzten Kurszettel; doch genügt zur Not ein Blick in die Auslage des Strumpfgeschäfts, wo der Preis der Tramaseidenen hinreichend über die Schwankungen der deutschen Mark unterrichtet. Immerhin ist einer jungen Elevin, die sich ihre ersten Sporen auf dem Boulevard Motz verdient hat, neulich das folgende Mißgeschick zugestoßen. Während ihre fortgeschrittenen Kolleginnen alle hochvalutigen Sprachen beherrschen und über alle Geldsorten orientiert sind, ließ sie sich in beklagenswerter Unkenntnis der Sachlage dazu verleiten, einem Menschen zu folgen, der ihr mit der Miene eines Maharadschahs 500 Kronen offerierte. Es war ein Österreicher. Sie aber verließ zur selbigen Stunde ein Terrain, dessen Anforderungen sie sich nicht gewachsen fühlte, und zog sich weinend nach dem Moritzplatz zurück.

Berliner Volks-Zeitung. 23. April 1922

332.

»Poincaré-la-Guerre«

Wir wollen den Römern nicht verwehren, sich in die Ecke zu setzen und Rüben zu kochen, aber sie sollen uns keine Gladiatorenspiele mehr geben wollen.

Büchner, Dantons Tod

Was Poincaré will, ist klar: Deutschland soll den Versailler Vertrag als erste und letzte Gesetzestafel respektieren. Auch über Poincarés Methode besteht kein Zweifel: es ist die des Gerichtsvollziehers. Gefühlsmomente oder selbst praktische Erwägungen kommen für ihn nicht in Frage. Am Anfang war der Friedensvertrag; und wenn die Deutschen dessen Sklaven sein sollen, so fühlt er sich als dessen Priester. Er ist ein eifriger Diener, der nicht mit seiner Gottheit hadert. Sie ist da, und damit basta. Es fällt ihm nicht ein zu fragen: Warum ist sie da, und ist sie gut? Die Verwirklichung des Versailler Vertrages wird für diesen Typus des Orthodoxen zu einer Reihe rein automatischer Akte. Deutschland muß bis auf das letzte Tüpfelchen erfüllen. Tut es das nicht, einerlei aus welchem Grunde, so muß es gezüchtigt werden. Der Gott Poincarés forscht nicht nach Motiven. Er konstatiert eine Verfehlung, und die Strafe folgt auf dem Fuße.

Unglücklicherweise, oder vielmehr glücklicherweise ist die menschliche Gesellschaft kein starrer Mechanismus, sondern ein lebendiges, im ewigen Fluß befindliches Gebilde, an dem der Doktrinär, der aus seinen Vorurteilen Glaubenssätze macht, zuschanden wird.

Es hieße Poincaré unrecht tun, ihn etwa zum politischen Exponenten des kleinen französischen Spießbürgers zu degradieren. Der beliebte Vergleich mit dem possierlichen Mützen- und Löwenjäger Tartarin hinkt. Poincare ist kein populärer Mann, kein volkstümlicher Rhetor, kein Liebling der Massen. Für Arbeiter und Kleinbürger, einerlei, ob sie ihm zustimmen oder ihn verwünschen, ist er Poincaré la guerre, das Symbol des Schwertes, das über Frankreich, über Deutschland, über Europa hängt. Poincaré bedeutet blankes Eisen, trockenes Pulver, Parademärsche und Kasernendrill. Auch in der politischen Welt ist er kein beliebter Mann, kein Favorit der Götter, die im Palais Bourbon herrschen, kein Glückskind und müheloser Karrieremacher wie Briand, Deschanel, Millerand und viele, viele andere. Er ist ein harter Mann, ohne einschmeichelnde Überredungskunst, ohne Liebenswürdigkeit der Umgangsformen; ein Mensch, dessen Seele, besser Seelenlosigkeit, in einer trockenen, ätzenden Stimme sich ausdrückt. Frankreich, das im Laufe der Zeit so viele freundliche Schaumschläger zu den höchsten Ämtern emporgetragen hat, scheint hin und wieder, gleichsam als Buße für manchen liebenswürdigen Leichtsinn, die Herrschaft solcher Eisenköpfe erdulden zu müssen. Poincaré, mit dem galligen Temperament und der lieblosen »tugendhaften« Selbstgerechtigkeit Robespierres belastet, ist wirklich wie ein Fatum über das französische Volk gekommen. Während der biegsame Briand sich in Washington mit Einsatz seiner großen diplomatischen Kunst die größte Mühe gab, den Standpunkt verbohrter nationaler Rechtgläubigkeit zu vertreten, ohne allzu peinlich aufzufallen, schlug Poincaré Tag für Tag Alarm, bewies in tausend Zeitungsartikeln, daß Frankreichs Sachwalter dessen Ehre und Interessen schimpflich vor die Hunde gehen ließen. Immer lauter und immer schneidender wurde seine Stimme, immer schwächer die Widerstände; man fühlte die Charakterstärke und den Willen des Mannes, und die Kammer der Mittelmäßigkeiten duckte. Während Briand in Cannes unauffällig, mit unverfänglichen Worten verbrämt, ein Kompromiß mit neuen Grundsätzen einzugehen versuchte, brach in Paris der Sturm los. Die Situation für Raymond Poincarés zweiten Aufstieg war reif. Und alles, was seit dem Wiesbadener Vertrage an Neuem und Hoffnungsvollem sich geregt hatte, war mit einem Schlage verschüttet.

Die kranke Welt braucht kluge, behutsame Ärzte. Poincaré will alles mit »Patriotismus« machen. Sein Patriotismus ist nicht der des leidenschaftlichen Demokraten und Pazifisten Caillaux. Sein Patriotismus ist kein warmes, erhebendes Gefühl, weit eher die Genugtuung, andere verwunden zu dürfen. Sein Patriotismus ist jener mürrische, machtgierige Götze, der über den Schlachtfeldern des Weltkrieges thronte.

Es ist ein tragischer und schwer faßlicher Gedanke, daß im Europa von 1922 ein solcher Mann, eine so komplette Verkörperung alles dessen, was vier Jahre unseres Lebens so hassenswert und abscheulich gemacht hat, sich heute noch dem Werdenden entgegenstellen darf. Es wirkt ja fast wie ein Satyrspiel, wenn jetzt Herr Tardieu und andere aus Clemenceaus Clique, die lüstern sind nach dem Genuß der Macht, Poincaré der Nachgiebigkeit anklagen, ihn bezichtigen, zwar starke und tönende Worte zu machen, im Geheimen aber die Politik Briands, die er bis aufs Blut bekämpfte, fortzusetzen. Auch von einsichtigen Franzosen wird häufig die Behauptung aufgestellt, daß Poincare viel lieber eine Politik des Entgegenkommens, mit Anlehnung an England treiben würde, daß er aber durch die nationalistische Kammer, zum Teil auch durch die Volksstimmung, an das starre System gebunden wäre. Wir wissen nicht, ob dieser Orthodoxe, wie so viele seines Schlages, in seiner innersten Herzkammer eine private Gesinnung verwahrt. Wir wissen jedoch, daß er seit mehr als zehn Jahren der eigentliche Einpeitscher des französischen Nationalismus ist, und daß bei seiner politischen Superiorität es ihm zu wiederholten Malen leicht gefallen wäre, die Voraussetzungen für einen neuen Kurs zu schaffen. Er hat nicht nur solche Gelegenheiten vorübergehen lassen, sondern im Gegenteil stets den gestrengen Cato des Chauvinismus gespielt. Auch heute sieht er kalt über die natürlichsten ökonomischen Erwägungen hinweg und ersetzt Politik durch Drohung. Frankreichs Notlage ist groß. Nur europäische Zusammenarbeit kann helfen. Er aber sieht nur die Tatsache des Versailler Vertrages und die dadurch geschaffene Einteilung in Sieger und Besiegte.

Poincaré ist ein französisches Unglück: er treibt sein furchtbar leidendes Land in eine eisige Isolierung hinein, in der alle Wunden des Krieges doppelt und dreifach schmerzlich brennen müssen. Er ist ein europäisches Unglück, denn er treibt einen Keil zwischen die Nationen, die es längst erkannt haben, daß nur gemeinsamer Aufbauwillen sie vor dem Ruin zu retten vermag.

Der volle Haß seiner beengten Seele richtet sich gegen den ersten schüchternen Tastversuch europäischen Gemeinschaftswillens: gegen die Genueser Konferenz. Aber Genua ist bei aller Unzulänglichkeit dennoch eine Realität, und Poincaré ein Schatten der Vergangenheit, die, bei aller Lautheit, doch längst müde und blasse Fleischwerdung eines Geistes, der kein Lebensrecht mehr besitzt. Ein englisches Blatt hat Poincarés Rede von Bar-le-Duc ein Ultimatum an Europa genannt. Die Zeit der Ultimaten ist abgelaufen. Wer dem europäischen Gedanken den Krieg erklärt, der stirbt daran. Vor sechs Jahren hieß es diesseits des Rheins » reale Garantien«. Heute lautet die Parole jenseits des Rheins » Sanktionen«. Europa ist stärker als die Herolde nationaler Eigensucht. Über Ludendorff ist das Rad hinweggegangen. Auch Poincaré wird am Wegesrande bleiben.

Berliner Volks-Zeitung, 26. April 1922

333.

Das neue Heidentum

Es ist eine beliebte Methode von Anhängern der Kirchenlehren, Menschen, die die Dogmen belächeln, oder die Offenbarung anzweifeln oder die Trinität nicht mit den Gesetzen der Mathematik vereinbar finden, schlechtweg als Heiden zu bezeichnen. (Nicht zu verwechseln mit den berühmten frierenden Heidenkindern vom Äquator, die mit Katechismen und warmer Unterwäsche zu versorgen, so fleißig gesammelt wird.) Also der Vorwurf des Heidentums war den »Gottesleugnern« jeder Art und Schule wohlvertraut und wurde, je nach dem persönlichen Temperament, entweder mit Erbitterung oder mit Humor hingenommen. Gegen die Allianz von Dummheit und Bosheit ist kein Kraut gewachsen.

Nun ist in den letzten Jahren ein neues Heidentum entstanden, weit enragierter und aggressiver als das Spinozas oder Haeckels. Das ist der Wotanskult mit dem Symbol des Hakenkreuzes. Es ist nicht erfreulich, über dieses Thema schreiben zu müssen. Es bedeutet eine Gehirnfolterung, sich in die einschlägige Literatur zu versenken. Die »germanische Religion« der »Völkischen« stellt ein greuliches Gemengsel von Abfällen aus Gobineau, Richard Wagner und Guido von List dar, mit etwas mißverstandenem Nietzsche verbrämt, und alles vorgetragen mit dem blechernen Pathos vaterlandsparteilicher Agitationsbroschüren. Gesamteindruck: Tollhaus.

Man ist leicht geneigt, über der Bizarrerie der Formen dieser Bewegung ihre Gemeingefährlichkeit zu übersehen. Wenn ein paar alte Knaben am Sonntag nach Wannsee fahren und um einen Telegraphenpfahl, den sie zur Weltenesche Yggdrasil auserkoren haben, unter Absingung wilder Strophen wider Feindbund und Judentum einen bellikosen Rundtanz aufführen und nachher aus Büffelhörnern duftenden Malzkaffee trinken, so bleibt das ein Akt privater Narrheit. Protest aber muß eingelegt werden, wenn, wie es auf der Mehrzahl der höhern Schulen leider geschieht, von parteipolitisch verblendeten oder bornierten Magistern der heranwachsenden Jugend ein Bild vom deutschen Wesen gegeben wird, das mit Objektivität nichts zu tun hat und naturnotwendig zur Verrohung der Sitten und zur Verschandelung der besten kulturellen Traditionen des deutschen Volkes führen muß. Die Betonung eines, nebenbei bemerkt, herzlich fiktiven Germanentums, bedeutet nicht weniger als die bewußte Erziehung zur Barbarei und kann als die letzte Konsequenz der dezidiert antimenschheitlichen Stimmung der Kriegszeit angesehen werden. Die finstern Blutgötter der Edda werden in Front gestellt gegen den modernen Humanitätsgedanken. Dem galt die Offensive ursprünglich, bis man in der Hitze des Gefechtes schließlich entdeckte, daß auch die christliche Ethik allzu waschlappig und nicht geeignet sei, die neudeutsche Strammheit zu fördern. So war es denn durchaus logisch, die Ahnengalerie des guten alten Luthergottes einer Prüfung zu unterziehen, die nicht zu seinen Gunsten ausfiel und ihren Niederschlag in einer Anzahl Broschüren von unglaublicher Knotigkeit fand. Ein Jüngelchen von einem Freiburger Studenten hat neulich in einer öffentlichen Versammlung Jesus von Nazareth einen »jüdischen Defaitisten« genannt, und, um von den Göttern zu den Halbgöttern überzugehen, so wurde in einem Pamphlet Goethe, seiner mangelnden Kriegsbegeisterung halber!, als undeutsch und feige gebrandmarkt und die These aufgestellt, der Olympier sei semitischer Abkunft gewesen. Keinem Freidenker, keinem ausgesprochenen Atheisten ist es bisher eingefallen, von den Gestalten und Symbolen der christlichen Mythe in einem Tone zu reden, wie ihn sich die Wotangläubigen herausnehmen. Wir müssen uns darüber klar werden und dürfen uns durch gelegentliche pantheistische Anklänge in der Hakenkreuzliteratur nicht irre machen lassen, daß hier etwas depravierend an die Wurzeln unserer Gesittung rührt, daß hier versucht wird, die verruchtesten Ausschreitungen der Kriegsmentalität mit religiöser Weihe zu umkleiden und zu verewigen. Abwehrkampf aller Besonnenen und menschlich Fühlenden, einerlei ob christlich oder freidenkerisch, ist notwendig. Es geht um die Jugend. –

Wie stehen nun die christlichen Kirchen diesem Unfug gegenüber? Mit gewohntem sichern Instinkt hat der Katholizismus längst die Gefahr erkannt und auf die Schanzen gerufen. Kläglich wie immer gehaben sich die Protestanten. Die sogenannten positiv Gläubigen stehen samt und sonders im Lager der Monarchisten und Chauvinisten und üben mit Hilfe der Kirchenbehörden einen unerhörten Druck auf die freier Denkenden aus, insbesondere auf diejenigen Geistlichen, die politisch links orientiert sind. Die Phraseologie vieler Pastoren ist so, daß die Irminsul oder ein Opferstein kannibalischer Völkerschaften einen passenderen Hintergrund böte als der christliche Altar. Vielen von den Herren ist die Differenz zwischen dem Kreuz von Golgatha und der Svastika noch nicht aufgegangen. Sehr zum Unterschied von ihren Schäfchen, deren Begriffsvermögen schneller funktioniert hat, und die deshalb durchaus folgerichtig in hellen Scharen eine Religionsgemeinschaft verlassen, die, wenigstens offiziell, die Feindesliebe noch nicht aus ihrer Terminologie ausgemerzt hat. Die Hirten aber, die schon früher nicht über besonderen Zuspruch klagen konnten, haben sich in ihrer Blindheit eine neue Konkurrenz geschaffen. Und das eigentliche Skurrile des Vorganges liegt darin, daß sie heutigentags noch nicht wissen, was sie angerichtet haben und munter weiter wirtschaften. Und deshalb seien uns zwei Minuten Schadenfreude vergönnt.

Monistische Monatshefte, 1. Mai 1922

334.

Deutsches Künstler-Theater

Shaw: »Man kann nie wissen.«

Bernhard Shaws Ironie ist oft tiefgehender und ätzender, aber nirgends reinigender und gesünder als in diesem Stücke. Ein Inhalt der Komödie ist schwer zu erzählen. Es ist letzten Endes eine Sammlung von Konfrontationen. Zwischen Ehegatten, die seit zwei Jahrzehnten getrennt sind. Zwischen Jugend und Alter. Zwischen weiblichem Emanzipationswillen und Ewig-Männlichem. Jede dieser Begegnungen ist eingehüllt in das Gewand eines funkelnden und glitzernden Dialoges. Fast scheint es, als hätte der irische Dramatiker hier an einer Fülle von Strindberg-Themen zeigen wollen, daß das Leben solche Konflikte nicht immer so katastrophal löst, und daß der Dichter deshalb auch keine Veranlassung hat, päpstlicher zu sein als der Papst. Vielleicht aber kam es ihm auch darauf an, nicht eigentlich die Komödie vom »Zweikampf der Geschlechter« mit allen grellen Dissonanzen zu geben, sondern mehr den sozialen Untergrund und die sozialen Bindungen des Menschen im Herzenskonflikt. Nirgends aber kann er sein Geben reicher entfalten als in der sozialen Satire. Und da hier auch die Menschen mehr sind als Vorwände zur Entfesselung spitziger Konversationen, so ist hier ein Lustspiel geworden, herzhaft und fein zugleich.

Man darf Barnowsky Dank sagen, daß er mit dieser Aufführung das Deutsche Künstlertheater dem Schauspiel wiedergegeben hat. Dieses schöne Haus ist für die Operette zu schade. Die Regie selbst lag in Hanns Fischers Händen, dem wir damit einen Theaterabend verdanken, über dem die guten Geister des Lustspiels schwebten. In der Rolle des weltweisen Kellners William, der vielleicht rundesten Gestalt Shaws, lieferte er ein Kabinettsstück feinster Charakterkomik. Den Dr. Valentine, einen späten Abkömmling der Benedikt und Merentio, spielte mit einem sympathischen Einschlag burschikoser Ungebundenheit Herr Rudolf Klein-Rogge. Seine Partnerin Gloria war Lilli Eisenlohr anvertraut, die, unbeschreiblich englisch in der äußeren Erscheinung, neben manchen karikaturistischen Zügen doch auch echte Herzensverwirrung zu lebensvoller Gestaltung brachte. Das getrennte Ehepaar, das ein unfreiwilliges Wiedersehen feiert, wurde von Martha Hartmann und Hermann Vallentin nicht ernster genommen, als es der Dichter verlangt. Nicht zu vergessen Hubert Heinich und Julius E. Hermann, die ein paar famose Advokatentypen auf die Beine stellten. Das jugendliche Geschwisterpaar war unzulänglich.

Berliner Volks-Zeitung, 9. Mai 1922

335.

Die Lehre von Genua

Vor einigen Tagen, als die Antwortnote der russischen Delegation noch nicht überreicht, aber der Inhalt bereits in den Grundzügen bekannt war, charakterisierte in einer Ansprache der tschechoslowakische Ministerpräsident Benesch die Situation dahin, daß als Hauptergebnis der Konferenz die größere Präzisierung der vielen Einzelprobleme zu betrachten sei; einer neuen Konferenz werde die Arbeit danach viel erfolgverheißender gemacht. Das ist sehr richtig und sehr höflich ausgedrückt, aber die Totenglocken der Konferenz klingen in diesen Worten des informierten Mannes, der sein Wissen aus Paris bezieht. Kein englisch-italienischer Demonstrationsoptimismus kann es vertuschen: die Konferenz treibt dahin wie ein leckes Schiff; einerlei ob eine plötzliche Sturzwelle den Garaus geben oder ob unter der Devise »Meeresstille und aussichtslose Fahrt« die Reise noch ein Weilchen weiter gehen wird. Die Konferenz hat keine Lebenskraft mehr; das Flankenfeuer von Bar-le-Duc hat sie unrettbar verwundet. Man kann nicht verhandeln, wenn ein einziger einflußreicher Teilnehmer nichts weiter mitbringt, als die Absicht, kein positives Ergebnis zu leiden.

Pessimisten werden ausrufen: was haben diese fünf verschwatzten Wochen also für Zweck gehabt? Da seht ihr den Effekt eures vielgepriesenen Internationalismus!

Dem ist zu entgegnen, daß kein vernünftiger Mensch von der Genueser Konferenz eine Lösung der europäischen Krise erwartet hat. Genua ist eine Vorstufe und kann nicht mehr sein. Die gleiche Not, die die Staatsmänner an einen Verhandlungstisch getrieben hat, wird sie bald ein zweites, ein drittes Mal zusammenbringen. Gerade durch ihr Mißlingen beweist diese Weltwirtschaftskonferenz, daß die Zeit der nationalen Eigenbrödelei abgelaufen ist.

Ein Ergebnis steht eindeutig da: Rußland ist wieder in den europäischen Staatenkreis zurückgekehrt und als Großmacht anerkannt, auch wenn die formale Anerkennung ausbleibt und seine Hoffnungen auf erfolgversprechende wirtschaftliche Sonderverhandlungen mit den einzelnen Ländern sich zerschlagen sollten. Die Moskauer Staatskunst hat, auch wenn sie zunächst keine sichtbaren Früchte nach Hause bringt, einen großen Triumph errungen: sie hat den Antipoden in Paris genötigt, seine Politik über den Grad hinaus zu treiben, den das immerhin weite Weltgewissen noch zu tolerieren vermag, – sie hat das Frankreich Poincarés moralisch isoliert.

Es gibt bei uns harmlose Gemüter, die auf den Unterschied der Haltung in der russischen Note und in der deutschen Antwort an die Reparationskommission verweisen. Hier nationale Würde und Festigkeit, dort Schwachheit und Preisgabe nationaler Interessen. Propagandisten mögen sich an der Verschiedenheit der Tonart weiden und die Differenzen in der Haltung populär ausmünzen. Das ist ein kindliches Vergnügen, das gar nichts beweist. Rußland muß zwar, durch seine ökonomische Depression gezwungen, Anschluß an den westeuropäischen Kapitalismus suchen; dieser wieder präsentiert zunächst alte Schuldscheine und konstruiert daraus eine neue Superiorität. Aber Rußland gehört nicht zu den Staaten, die von der Entente besiegt wurden. Auf Deutschland lastet die Wucht eines Friedensvertrages, über Teile Deutschlands ist Okkupation verhängt, über anderen schwebt die Drohung des Einmarsches. Deutschland wäre verloren, wenn es sich Rußlands stolze Gesten erlaubte, Gesten eines, der nichts mehr zu verlieren hat, aber in Zukunft sehr viel gewinnen kann. Es ist der groteske Fehler der französischen Politik, Rußland einfach zu den Besiegtenstaaten zu rechnen oder wenigstens so zu behandeln. Dadurch erst wurde in Genua Rußland an Deutschlands Seite gezwungen und der an und für sich ganz unverfängliche Rapallo-Vertrag zum Offensivakt gestempelt. In den Tagen des nationalen Blocks muß auch die einst sprichwörtliche Geschicklichkeit der französischen Diplomatie zu Schaden gekommen sein.

Es scheint so, als würde die letzte Phase der Konferenz durch die Verhandlungen über den Friedenspakt ausgefüllt werden. Auch auf Parteikongressen, die hoffnungslose Uneinigkeit aufgezeigt haben, pflegt man am Ende, durch die lange Holzerei ermüdet und durch einen Rest von Disziplin daran erinnert, daß ein turbulentes Auseinanderlaufen doch zu blamabel wäre, in einer »Friedensresolution« auszusprechen, daß man im Grunde genommen doch einig, einig, einig sei. Kurze Zeit darauf ist dann gewöhnlich der Bruch da. Auch der Friedenspakt, welche Form man auch schließlich dafür finden mag, wird keine größere Bedeutung beanspruchen dürfen als die einer papierenen Resolution, über die das Furioso der nationalen und wirtschaftlichen Kämpfe achtlos hinwegtrampeln wird. Im günstigsten Falle kommt eine stille Mahnung an die Vertreter der Nationen heraus, daß es billigere Methoden gibt, wirklich berechtigten Interessen zum Ziele zu verhelfen, als die Entfesselung aller wilden Instinkte.

Aber auch ohne ein Burgfriedensdokument wird Genua eine solche Mahnung bedeuten. Der Gedanke, daß das Bewußtsein europäischer Solidarität einmal die Regierenden zwang, den Tatsachen voll ins Antlitz zu sehen und das auszusprechen, was ist, kann nicht mehr untergehen, er muß zu neuen Versuchen aufpeitschen. Wir wissen nicht, welche neuen Konstellationen sich in der nächsten Zeit ergeben werden. Ob der Bruch zwischen England und Frankreich Tatsache wird, ob Amerika machtvoll seinen Einfluß geltend machen wird, ob England zum Protektor Deutschlands und Rußlands wird, es ist wertlos, zur Stunde darüber zu orakeln. Man hat in letzter Zeit manches von einem Dreibund England – Deutschland – Rußland gemunkelt. Abgesehen davon, daß der Gedanke abwegig erscheint, da die englische Realpolitik nicht im entferntesten daran denkt, schlechte Kunden aufzupäppeln, – was wäre damit erreicht? Eine neue Umgruppierung der Mächte; an die Stelle Deutschlands wäre eben Frankreich in Isolierung gedrängt, kein Problem wäre gelöst und die alten Gefahren bestünden fort. Vieles ist in Genua versäumt, vieles mit Bewußtsein gesündigt worden. Der Gedanke, daß alle Weltprobleme zur übernationalen Lösung drängen, geht unbesiegt hervor. Wir haben in den letzten Wochen manches Bizarre und Kleinliche, aber auch manches Große erlebt. Die Taten sind gering, aber einige wenige Worte, wie die Lloyd Georges, da der Zusammenstoß zwischen Barthou und Tschitscherin die Konferenz zu sprengen drohte, sind Fanfaren der Zukunft. Die erste Epoche der Nachkriegszeit ist zu Ende. Die Intransigenz steht am toten Punkt. Indem sie die Konferenz zur Leerlaufarbeit verurteilte, beschleunigt sie den eigenen Zusammensturz.

Berliner Volks-Zeitung, 14. Mai 1922

336.

Jubilar Arthur Schnitzler

Am 15. Mai, also morgen, wird Arthur Schnitzler sechzig Jahre alt. Dreißig Jahre steht er nun im Vordergrunde der Literatur. Neue Richtungen sind gekommen und vergangen; jüngere Wettbewerber stürmten vor und verschwanden irgendwo, andere traten an seine Seite, – aber keiner war da, der ihm den Ruf des repräsentativen Dichters Deutsch-Österreichs streitig gemacht hätte. Den Rhythmus jener von Melancholie überschatteten Heiterkeit Wiener Lebens, den seit mindestens zwanzig Jahren jeder Sommerfrischler spielend konstatiert, hat dieser sensitive dichterische Mensch zuerst in eine heute noch zwingende Form gebracht. Diese mit allen Organen der Seele aufgefangene Melodie verleiht seinen epischen und dramatischen Werken ihren diskreten Zauber, rettet vor Banalität, wenn er sich auf den abgetretenen Boden des Gesellschaftsstückes begibt, läßt selbst in der Tragikomödie von Salonpuppen, wie im »Weiten Land«, die natürliche unverkünstelte Anmut ihres Schöpfers ahnen. Er hat das, was so wenige unter den neueren deutschen Dichtern ihr Eigen nennen dürfen: das Wissen um die Seele liebender Frauen. Wir haben stärkere Dramatiker, aber keinen, dem so viele lebensechte Frauengestalten gelungen wären. Man soll den Geburtstag eines Künstlers, der mit seinen Früchten nicht gekargt hat, nicht mit biographischem Kleinkram und von Belesenheit zeugenden Notizen entweihen. Der Dichter des »Anatol«, der »letzten Masken«, der »Dämmerseelen«, der »Hirtenflöte« ist keine literarische Paradeleiche, sondern ein lebendiger Mensch, dem wir auf den Geburtstag einen Strauß leuchtender Frühlingsblumen wünschen. Aber keine gelehrten Abhandlungen und erst recht keine Ehrendoktorhüte!

Berliner Volks-Zeitung. 14. Mai 1922

337.

Das Buch des Kronprinzen

Von Wieringer Erkenntnissen und anderem

Jedes Handwerk hat sein Risiko, auch das der Könige.
Otto Flake in der »Weltbühne«

Nun ist das lange angekündigte Erinnerungsbuch heraus. Die erste flüchtige Lektüre bestätigt den Eindruck der kürzlich an vielen Stellen veröffentlichten Auszüge. Es ist weder ein starker menschlicher Eindruck, noch ein politisches Propagandaobjekt. Die Monarchisten können keinen Staat damit machen.

Jedermann wird begreifen, daß dem früheren Kronprinzen in der Wieringer Einsamkeit das Bedürfnis übermächtig wurde, seine Anschauungen über Höhe und Ende der wilhelminischen Ära in feste Form zu bringen. Die Ereignisse waren wie ein Hagelsturm über ihn niedergeprasselt, nichts verständlicher, als daß er Rücksprache halten wollte mit den Schatten, die ihn bedrängten, daß er festen Boden finden wollte. Gleichfalls, daß er die Zerrbilder, die die Ententepropaganda von ihm geschaffen hatte und die noch heute die Meinung des Auslandes zum Teil beeinflussen, durch ein persönliches Dokument zerstören wollte. Das ist sein gutes Recht. Dennoch bleibt ein Eindruck von Indifferenz.

Der Stil ist der Mensch. Dieses Buch trägt nicht den Stil des Mannes, der es konzipiert hat. Ein mittelmäßiger Romanzier und strammer Kriegsberichterstatter, Herr Karl Rosner, hat den losen Blättern die »literarische Form« verliehen und, da er leider Blankovollmacht hatte, aus Eigenem ergänzt. So ist ein Opus in einer gutpolierten Allerweltssprache herausgekommen, ohne eigene Prägung. Nochmals: der Stil ist der Mensch. Wir haben Memoirenwerke von zwingender Kraft, und ihre Worte sind kunstlos, die Sätze unbehauen, die Bilder schief. Es kommt ja nur auf die Persönlichkeit an. Möglich, daß die des Kronprinzen Mittelmaß ist, ohne Höhen und Tiefen. Aber indem sich der Bearbeiter zwischen den Menschen und das Manuskript schiebt, wird der letzte Reiz genommen: – die Natürlichkeit. Wenn an einer Stelle dem Heimweh Ausdruck gegeben und der bekannte Vers Heines zitiert wird: »Denk' ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um meinen Schlaf gebracht«, so könnte dieses Wort des verbannten deutschen Juden, von dem verbannten deutschen Fürsten gebraucht, als ein ergreifendes Symbol wirken, wenn nicht eben die Vermutung störte, man habe es auch hier mit einem melodramatischen Impromptu des Arrangeurs zu tun.

Sehr begründet ist auch der Einwand erhoben worden, daß man unter diesen Umständen gar nicht recht wisse, wo der Kronprinz aufhöre und Herr Rosner anfange. Das beeinträchtigt für Freund und Gegner den Wert. Wenn wir im folgenden versuchen, einiges wesentliche aus dem Buche in Kürze zu charakterisieren und dabei sagen: »Der Kronprinz«, hören wir immer hinter uns einen Schalk kichern: »Herr Rosner«!

Am interessantesten sind die Porträts einzelner Personen, die im letzten Menschenalter im Vordergrund der Ereignisse gestanden haben. Von Bismarck nur ein flüchtiger Umriß, die alte Königin Viktoria gewinnt mehr Leben, Abdul Hamid huscht wie ein grotesker Schatten vorüber. Eduard VII. steht nicht als der Intriguant der alldeutschen Geschichtsklitterung da, sondern als ein kluger Staatsmann, der seine persönlichen Wünsche der Politik des Kabinetts unterordnet; ihn beseelt nicht frenetischer Deutschenhaß, er will die Sicherheit seines Landes und lieber mit Deutschland als gegen Deutschland.

Wilhelm II. ist, wie begreiflich, mit Augen der Pietät gesehen. Dennoch, oder gerade deswegen, bleibt der Eindruck ein ungünstiger. Ein vielwollender und schwacher Mensch, der letzten Endes stets von Enttäuschung zu Enttäuschung taumelt. Zwischen sich und seine Kinder stellt er das steife Zeremoniell. Der Kronprinz klagt über das »System des Dritten«, das kein warmes, persönliches Verhältnis aufkommen ließ.

Der Kronprinz schwärmt für starke Persönlichkeiten oder solche, die er dafür hält. Er glaubt noch heute an Tirpitz und Ludendorff. Aber der eine ist ein selbstbewußter Polterer, der andere ein Neurastheniker mit einem Einschlag von Brutalität. Bei manchen klugen Bemerkungen über den Zusammenbruch, von einer profunden politischen Erkenntnis zeugen diese Charakteristiken der beiden Totengräber der deutschen Monarchie nicht. Wenn er von Bethmann Hollweg spricht, so kann gedämpfte Tonart nicht über die innere Erbitterung hinwegtäuschen. Er klagt Bethmann der Unschlüssigkeit, der Energielosigkeit an, er wirft ihm immer wieder vor, daß er bis zum letzten Augenblick daran gezweifelt habe, England werde in den Krieg eintreten. Zugegeben, daß Bethmann eine Hamletnatur war, von des Gedankens Blässe angekränkelt, seiner inneren Müdigkeit wurde die Wage gehalten durch eine kluge Skepsis und das Bewußtsein, man dürfe nicht über die Grenzen des Möglichen hinausgehen. Wir wissen auch seit Riezlers Veröffentlichungen, wie seine Intentionen durch die unerhörte Neben- oder richtiger schon: Überregierung der O.H.-L. demoliert wurden.

Im übrigen fällt über den Betrieb der Wilhelmstraße in dem Buche manches treffende Wort. Die zähflüssigen Arbeitsmethoden, die schlechten Informationen über die Stimmung des Auslandes, alles das ist auch von anderer Seite gesagt worden. Als z.B. der Kronprinz 1909 gegenüber dem damaligen Leiter der Außenpolitik, Herrn v. Kiderlen-Wächter, unter dem frischen Eindruck einer Rumänienreise die Bemerkung machte, daß es mit der Zuverlässigkeit dieses Staates nicht zum besten stünde, antwortete der ehemalige Gesandte in Bukarest in fließendem Schwäbisch, Rumänien sei bündnistreu bis auf die Knochen, »so zusage' mündelsicher!«, er kenne es doch wie »sei' Weste'tasch«. Dieser gleiche joviale Herr aber riskierte den Panthersprung nach Agadir und damit fast einen Weltkrieg.

Der Kronprinz verleugnet nicht die Brüchigkeit des alten Systems. Aber er plädiert für mildere Beurteilung. Er glaubt nicht, daß die Schäden irreparabel gewesen seien. Aber unbewußt spricht er überall, einfach durch die Mitteilungen der Tatsachen, schärfste Verurteilungen aus. Die militärische Niederlage, an manchen Stellen bestritten, kommt in gewissen Partien eklatant zur Erscheinung. Er widerlegt, wieder einfach durch Schilderungen, den »Dolchstoß«, und spricht doch andererseits von den Einflüssen des »Internationalismus« und »Pazifismus« auch bei den Fronttruppen. Dennoch hat er sich zu der Anschauung durchgerungen, daß die amtlichen Methoden, dem Volke die Wahrheit über die Kriegslage vorzuenthalten, erst die Katastrophe in dieser Größe ermöglicht hätten.

Auch die Dynastie kommt nicht gut davon. Sie verschließt sich den Anforderungen der neuen Zeit, – das englische System scheint dem Kronprinzen verlockend –, ihre Konzessionen sind Halbheiten. Die berühmte Osterbotschaft ist mit dem Fluche der Doppelzüngigkeit beladen. Der Kronprinz äußert zu Herrn v. Valentini, dem Chef des Zivilkabinetts: es wäre besser, der Kaiser gäbe aus freiem Entschluß das gleiche Wahlrecht für Preußen, ehe er dazu gezwungen würde. Und Valentini entgegnet: das gleiche Wahlrecht bleibt ausgeschlossen, es sei ein Pluralwahlrecht beabsichtigt..

Der 9. November in Spaa wird zu einer Tragikomödie großen Formats. Wilhelm, aus langem Traum erwachend, ein gebrochener Mann. Die »Triarier«, Hindenburg, Hintze, bereits den neuen »Boden der Tatsachen« suchend. Graf v. d. Schulenburg rät zu der blutigen Donquichotterie eines Gewaltstreiches, um wenigstens den preußischen Thron zu retten. Es ist ein heilloser Wirrwarr, alles wankt. General Groener schildert die Dinge, wie sie sind. In der Darstellung des Kronprinzen wird er, ebenso wie Max von Baden, dafür zum schmählichen Verräter. »Es ist das Unglück der Könige, daß sie die Wahrheit nicht hören können!« wurde einst Friedrich Wilhelm IV. zugerufen. Auch drei Jahre nach dem Debacle, nach drei Jahren einsamen Nachdenkens, klagt der einstige Thronfolger die Männer an, die in die Bresche sprangen, als alles verloren war und die nicht mehr tun konnten, als eben die Liquidation auszusprechen. Ludendorff und Tirpitz aber gehen als Helden hervor...

Es ist kein Propagandabuch für die Monarchie. Vielleicht auch nicht als solches beabsichtigt. Als Bewerbungsschreiben mit selbstverfaßtem Lebenslauf verfehlt es seinen Zweck. Es ist einem warmen Herzen, aber mäßigem Kopf entsprungen. Der Versuch, zum neuen Deutschland Stellung zu finden, mißlingt. Die Bemerkungen zur gegenwärtigen Politik sind inhaltlos wie die Phrasen eines volksparteilichen Versammlungsredners, der den ›deutschen Geist‹ gegen das Überwiegen der Parteipolitik aufruft, gegen den ›öden Materialismus‹ wettert und das deutsche Volk warnt, den ›Rattenfängermelodien jener Schwärmer und Schwindler zu lauschen, die ihnen das Locklied von der großen Weltbrüderschaft im Paradiese des Internationalismus vorsingen‹. Das ist der Ausklang des Kronprinzenbuches. Mit Verlaub, das sind Gemeinplätze.

Es ist sehr freundlich, wenn uns allen nationale Würde gewünscht wird und der wohlbekannte Aufruf zu gemeinsamer Arbeit nochmals erfolgt, als ob es keine Zentralstelle für Heimatdienst gäbe, – aber was sollen wir damit?

Die Frage: Monarchie oder Republik ist uns keine ›Sonntagsangelegenheit‹, wie sich Herr Stegerwald auszudrücken beliebte und wie auch der Kronprinz, wenn auch mit andern Worten, uns einreden möchte, sondern eine Prinzipienfrage, eine Wegscheide der Geister.

Einen Effekt hat dieses Buch allerdings: die Legende vom ›Schlächter von Verdun‹ ist erledigt. Aber ebenso die Legende vom ›Volkskaiser‹, der sich in der Abgeschiedenheit der holländischen Fischerinsel auf seinen hohen Beruf vorbereitet. Seine Rezepte sind zu billig, und was er über die Vergangenheit auskramt, wird zu einer glänzenden Rechtfertigung der Republik.

Sein Schicksal mag traurig sein. Dennoch. Millionen sind ins Grab gesunken oder verstümmelt worden, und nach jeder Siegesmeldung flatterten die Fahnen. Man flagge nicht Halbmast, weil einer stürzte, noch ehe er hinaufgelangte.

Berliner Volks-Zeitung, 16. Mai 1922

338.

Drei Illusionen

Es ist bedauerlich, daß über den Prozeß, den Felix Fechenbach, Eisners früherer Sekretär, gegen eine Reihe Münchener Publizisten führte, nicht eingehendere Berichte zu uns gelangt sind. So war man angewiesen auf knappe Depeschen der großen Agenturen, die überhaupt kein Bild ergeben, wenigstens kein objektives, sondern in erster Linie nur das herausarbeiten, was sich aus den Aussagen der einzelnen Sachverständigen als zur Rechtfertigung der alten kaiserlichen Regierung geeignet erwies. Wir brauchen nicht besonders zu betonen, daß solche Absichten bei Männern wie Delbrück und Montgelas vollkommen ferngelegen haben, daß hier der Drang, die Wahrheit zu erkunden und zu bekunden, das einzige Motiv war und sein wird. Aber die Tendenz, mit der jene Berichte redigiert wurden, war doch wesentlich anders geartet und die Kommentare der reaktionären Presse verkündeten schon vom ersten Verhandlungstage an etwas eilfertig als Ergebnis: die Reinwaschung des alten Regimes. Wir neigen dazu, die Wirkung des Prozesses aufs Ausland nicht allzu hoch einzuschätzen, erwarten aber eine innerpolitische Wirkung, da die Erörterung der Schuldfrage bereits jetzt mit großer Lebhaftigkeit eingesetzt hat. Wir verhehlen nicht unsere Sorge gegenüber der Tatsache, daß die Rechtsparteien etwas zu aufdringlich den Kampf gegen die Schuldlüge, oder was sie darunter verstehen, in die Hand genommen haben. Für den 28. Juni ist bereits ein »nationaler Großkampftag« angesetzt worden, und wenn man sich der famosen Heldengedächtnisfeier vom vorigen Jahre erinnert, die bekanntlich der Ermordung Erzbergers vorausging, so muß man sich auf eine neue Veranstaltung gefaßt machen, auf der vom Thema nicht gesprochen wird, die lediglich der inneren Verhetzung dient und nebenbei noch eine Kontrollversammlung der gesamten Reaktion darstellt.

Daß Eisners Veröffentlichung und Zurechtstutzung der bayerischen Dokumente ein politischer Fehlschlag war, hätte auch ohne den langwierigen Prozeß festgestanden. Daß durch die Publikation der Ententepropaganda ein Dienst geschah, wird auch heute von niemanden mehr bestritten; das braucht kein Münchener Schöffengericht aktenmäßig festzuhalten. Daß Eisner damit beabsichtigt haben soll, Deutschland zu schaden, ist eine Behauptung, deren Gemeinheit nur von ihrer Dummheit übertroffen wird.

Eisner hat undiplomatisch, hat unpolitisch, aber nicht unsittlich gehandelt. Er war der Überzeugung, durch Bekanntgabe dessen, was er für die dokumentarische Niederlegung des deutschen Schuldanteils am Kriege hielt, in der Welt den Glauben an ein neues friedliebendes Deutschland zu wecken. Daß er den Zweck nicht erreichte, – darf man deswegen das Andenken des Toten verlästern? Er hat so gedacht, wie damals viele gedacht haben, viele gehandelt haben würden. Sein Tun ist nur zu erklären aus der verfahrenen Psychologie der Katastrophentage, aus der Mentalität der Revolution, in der in diesen stürmischen Monaten wir alle lebten, einerlei, ob Sozialisten, Demokraten oder Konservative. Darf man für Eisner ein todeswürdiges Verbrechen daraus machen, aus der Mentalität der Revolution heraus gehandelt zu haben, während andere, die, aus der Mentalität des Krieges heraus, weit schlimmeres begingen, sich blühender Gesundheit erfreuen und als Helden und weise Staatsmänner gefeiert werden?! Eisner ist einer falschen Vorstellung zum Opfer gefallen, die er mit vielen anderen teilte, mit vielen, die sich kein Gewissen daraus machen, ihn heute Verbrecher zu nennen ...

Die Entdeckung des »guten Herzens« der Entente war sein Irrtum. Nicht geringer aber ist der Irrtum derjenigen, die die These verfechten, daß man durch die Zerstörung des Argumentes von der deutschen Alleinschuld am Kriege, durch eine historisch einwandfreie Prüfung der Vorgänge in den verhängnisvollen Juli-August-Tagen 1914, den Vertrag von Versailles aus den Angeln heben könnte. Das bedeutet gründliche Verkennung. Der Vertrag von Versailles ist kein Rechtsdokument, sondern ein Machtinstrument, das entweder wieder durch ein stärkeres Machtmittel ausgetilgt werden kann, oder gegenüber den ökonomischen und politischen Verhältnissen seine Unzulänglichkeit erweisen und durch die Wirklichkeit ad absurdum geführt werden muß. Der erste Weg ist nicht gangbar, der zweite Weg der einzig mögliche. Aber mit einer rein historischen Argumentation das Werk der »großen Vier« erschüttern zu wollen, das bedeutet doch die Beschießung einer großen Mauer mit einer Bolzenflinte ...

Welche Rolle spielt die Kriegsschuldfrage im Friedensvertrage? Der berühmte Artikel 231 lautet:

»Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.«

Das scheint auf den ersten Blick weitgehende Beschuldigung, ist aber tatsächlich nicht mehr als die stereotype Begründung jedes Machtfriedens. Der Sieger erklärt, er sei der Angegriffene, erklärt den Besiegten als den Urheber aller Kriegsschäden, – und der muß, Groll im Herzen, unterschreiben. So ist es von jeher gewesen. Der Versuch juristischer Begründung, der Ansatz, moralische Versündigung des Unterlegenen gegen das Weltgewissen zu konstruieren, bedeutet stets nur eine heuchlerische Verzuckerung des uralten »Vae victis«, um die liebe Zivilisation nicht allzu sehr zu chockieren; eine Unaufrichtigkeit, von der man in gesunden barbarischen Zeiten nichts wußte. Wir leben leider in der Zeit der kranken Barbarei.

Aber der Artikel 231 ist ungemein geschickt formuliert. Er hält sich durchaus frei von den maßlosen Vorwürfen der Ententepropaganda, er geht nicht im mindesten auf die namentlich in Frankreich populäre Legende ein, das deutsche Reich habe seit 1871 den Weltkrieg planmäßig vorbereitet und die erste scheinbar günstige Gelegenheit benutzt, um ihn vom Zaune zu brechen. Gegenüber solchen von einer ungewöhnlich raffinierten Agitation genährten Vorstellungen, zeichnet sich der Artikel fest durch knappe Sachlichkeit aus. Und in der Einleitung des Friedensvertrages heißt es, daß der Krieg in »der Kriegserklärung Österreich-Ungarns vom 28. Juli 1914, in den Kriegserklärungen Deutschlands an Rußland vom 1. August 1914 und an Frankreich vom 3. August 1914 sowie in dem Einfall in Belgien seinen Ursprung hat«. Man mag ein solches Verfahren perfide nennen, kann aber nicht leugnen, daß eine ungewöhnlich durchdachte Taktik darin liegt, sich nicht an die verschwommenen Einzelheiten der Vorgeschichte zu halten, nicht an die Bedeutung irgendwelcher Noten oder Ultimaten, sondern daß die verschiedenen Kriegserklärungen Österreichs und Deutschlands sowie dessen belgische Invasion als Ursprungspunkte des Krieges deklariert werden. Denn die Kriegserklärung ist das Greifbare; nachher entscheidet der Erfolg. Und niemand fragt mehr, wenn es glückte, ob nicht die Kriegserklärung doch am Ende aufgezwungen war. Die Entente hat mit kühler Überlegung im Friedenstraktat die Schuldfrage auf ein paar dürre Sätze beschränkt. Die Invektiven der Mantelnote sind ausgeschaltet; diese selbst hatte nur den Zweck internationaler Stimmungsmache. Als sie den erfüllt hatte, konnte sie zum alten Eisen wandern.

Nun werden die Spezialisten der Kriegsschuldfrage zugeben, daß zur Klarstellung dieser Frage nicht nur die Aufhellung der verschiedenen diplomatischen Aktionen zur Verhinderung oder Beschleunigung des bewaffneten Konflikts in [den] letzten zwei kritischen Wochen gehört, sondern daß dazu in g[leic]hem Maße die obenerwähnte, von den Staatsmännern der Entente tausendmal verwandte Bezichtigung gehört, der Sinn der neudeutschen Geschichte sei eben die Vorbereitung des Weltkrieges gewesen. Das war nicht hohle demagogische Phrase, das wurde vielfach variiert mit immer neuer, verblüffender Begründung ausgespielt. Und wurde geglaubt. Dieser Stimmung der Völker des Westens ist der Geist von Versailles entstiegen. Aber der Vertrag selbst enthält nichts davon. Es mag paradox klingen: die gefährlichsten Partien des Vertrages sind die ungeschriebenen. Man kann nicht mit Unsichtbarem kämpfen. Die Alleinschuld Deutschlands steht zwischen den Zeilen, nicht auf dem Papier. Es ist eine Illusion, zu glauben, man könne den Vertrag entwurzeln, wenn man die »Alleinschuld« zu einer »Teilschuld« herabmindert.

Es erscheint uns deshalb auch als ein illusionärer Gedanke, wie ihn Dr. Heinrich Kanner, der frühere Chefredakteur der Wiener »Zeit« in einer Broschüre entwickelt: »Der Rechtsweg zur Revision des Friedensvertrages.« (Verlag »Friede durch Recht«, Ludwigsburg.) Auch Herr Dr. Kanner verkennt den Charakter des Friedensvertrages als Machtinstrument, er sieht darin einen Rechtsspruch, der deshalb angefochten und korrigiert werden kann. Und zwar auf dem Wege internationaler Gerichtsbarkeit. Herr Dr. Kanner glaubt an die Verwirklichung dieser Idee, wenn er auch die Schwierigkeit nicht verkennt, daß bei einem solchen Verfahren naturgemäß die eine Partei auch die Rolle des Richters übernehmen muß. Aber schon daran muß die Ausführung in absehbarer Zeit scheitern. Das Völkerrecht ist eine noch junge Wissenschaft; es fehlt ihr an Autorität. Der Völkerbund, in dem das Machtinteresse der Siegerstaaten dominiert, hat bisher vor den selbstverständlichsten Aufgaben versagt. Einer Unterschätzung des Völkerrechts soll nicht das Wort geredet werden. Aber ist ein internationales Forum denkbar ohne die Grundlage übernationaler Gesinnung? Die fehlt heute noch, und deshalb haftet allen internationalen Rechtssprüchen etwas unersprießlich Problematisches an.

Der Versailler Frieden wird nicht durch den Spruch eines Weltgerichtshofes nach juristischen und historischen Darlegungen sein Schicksal empfangen. Sein Schicksal liegt darin, daß er nicht als Paradestück im Glasschrank liegen darf, sondern daß von ihm praktische Auswirkungen verlangt werden. Da sind seine Grenzen. Es gibt Athleten, Kolosse von Fleisch und Knochen, die, wie ein witziger Kopf einmal sagte, vor lauter »Kraft« nicht gehen können. Der Friedensvertrag ist durch allzu üppige Muskelentwicklung an der Fortbewegung behindert. Nicht die Abschlachtung steht diesem Schwergewichtsmeister in den Sternen geschrieben, sondern die langsame Entfettungskur. Wer es bis dahin mit dem inneren Frieden der Völker gut meint, wer den Zündstoff zwischen den Nationen beseitigen möchte, der lasse die Schuldfrage ruhen. In reinerer Luft werden wir uns einmal darüber aussprechen können. Erst wenn die Geister wieder zur Versöhnung bereit sind, wird man zu einem Verdikt kommen, ohne befürchten zu müssen, daß mit einem böswilligen oder fahrlässigen Staatsmann zugleich ein ganzes Volk verdammt wird. Wie und wo man die Kriegsschuldfrage bisher auch angepackt hat: sie hat immer nur gespalten und verhetzt, niemals versöhnt, niemals auch nur eine provisorische Brücke geschlagen. Sie ist eine gefährliche Nebensache.

Berliner Volks-Zeitung, 23. Mai 1922

339.

»Ich bin mehr als ...«

Es macht sich gegenwärtig in der seiner Nüchternheit halber berühmten Aufklärungsmetropole Berlin ein seltsames Schwärmertum breit. Dominierten vor wenigen Monaten noch die Spiritisten, Okkultisten, Sterndeuter usw., so sprießen jetzt langbärtige Apostel wie Pilze aus der Erde. Sie wandeln auf Sandalen, tragen härene Gewänder und in diesen Traktätchen mit billigen Weisheiten und eine gewöhnlich gut gefüllte Brieftasche, die allein beweist, daß der Prophet heute nicht mehr auszuwandern braucht.

Da prangt in diesen Tagen an den Litfaß-Säulen des Westens und der inneren Stadt das Konterfei eines von der Zunft, dessen Bartlosigkeit übrigens für sein Anfängertum spricht. Er berichtet der staunenden Mitwelt, daß er Stark heiße (die Frage des Vornamens scheint noch nicht entschieden zu sein), als seinen Wohnsitz bezeichnet er Eden-Oranienburg; indessen scheint er Berlins Asphalt für nahrhafter zu halten als die dortigen Dattelpalmen. Sein Haar ist für einen Propheten, der überzeugend wirken will, noch nicht lang genug, aber aus dem feucht glänzenden treuherzigen Bernhardinerauge spricht harmlose Begeisterung, die bei längerer Praxis sicherlich noch bis zu ekstatischer Glut gesteigert werden kann. In kräftigen Lettern – und das ist das schönste umrankt das Porträt der lapidare Satz: »Ich bin mehr als Rabindranath Tagore!«

Wieviel ist, was ist Rabindranath Tagore? Ich weiß es nicht. Ich bin nicht gewöhnt, den Inhalt eines Geistes nach Kubikmetern zu berechnen oder den Grad der Arbeitsfähigkeit eines Menschenhirns in Pferdekräften auszudrücken. Herr Stark aber weiß es gewiß, was der Inder bedeutet, wenigstens weiß er, daß er, Stark mehr bedeutet. Und er wird es einem Publikum von Neugierigen und geistig Unbemittelten in einer Reihe von tiefschürfenden Vorträgen explizieren. Er wird Anhänger finden und glücklich sein, bis sich eines bösen Tages ein Jünger selbständig machen und plakatieren lassen wird, daß er mehr sei als Stark. Und so weiter.

Seine Methode aber wird durch ihre Einfachheit zur Nachahmung anreizen. Aus einer einmaligen Ausgabe für Papier, Satz und Kleister kostet es weiter nichts, man läßt ohne viel Federlesen drucken: »Ich bin mehr als ...« Gläubige findet man immer. Die Vorteile liegen auf der Hand. Man braucht keine Zeitungen mehr zu machen und keine Bücher mehr auszuschwitzen. Das Leben wird wieder idyllisch. Der Kampf, zweckloser geistiger Belastung enthoben, wird auf sein Urelement zurückgeführt. Das Marktschreierische im Menschen, bisher sorgfältig verborgen, wird geheiligt und zum Lebensgesetz erhoben. In köstlicher Primitivität wickelt sich die künftige Geschichte der Menschheit ab.

Vor Zeiten gab es einen viel zitierten Spruch: »Auch Patroklus ist gestorben – und war mehr als du!«

Nur dem Toten wird widerspruchslos Größe zugebilligt. Denn erstens kann er sich nicht wehren, und zweitens ist der Tod das einzige, was niemand dem Mitmenschen neidet.

Berliner Volks-Zeitung, 23. Mai 1922


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