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400.

Die Einheitsfront

Die wahre und die falsche

Es ist begreiflich, daß die ständig zunehmende Brutalität im Vorgehen der Franzosen in Deutschland nicht nur steigende Erbitterung loslöst, sondern auch gewissen Stimmungen, die sich bisher auf eng begrenzte Kreise nationalistisch Verstiegener beschränkten, weiteren Spielraum verschafft. Ob ein Fascismus bei uns jemals aktiv werden könnte, mag dahingestellt bleiben. Es fehlt doch den Rechtsradikalen sichtbarlich an Führernaturen; Herr Hitler ist schließlich nur ein Mussolini in Duodezformat und Artur Dinter kein d'Annunzio. Aber es kommt nicht wesentlich darauf an, ob die Ideologie des Fascismus zur herrschenden Strömung wird, auch als Unterströmung, die das Wollen und Handeln der unpolitisch bleibenden Massen beeinflußt, kann sie gefährlich genug werden, weil sie die nun einmal unbestreitbare Neigung des Deutschen zur Katastrophenpolitik bedenklich in die Halme schießen läßt und die Physiognomie des furchtbar um seine Existenz ringenden Volkes verzerrt.

Es ist jetzt nicht an der Zeit für einen Zweifrontenkrieg, schrieb vor einigen Tagen im »Vorwärts« ein Wortführer der Bergarbeiter. Das ist sicherlich vollkommen richtig. Natürlich darf uns das sehr begreifliche Verlangen nach einer geschlossenen Abwehrfront nicht dazu verführen, alles unbesehen passieren zu lassen, was unter der Schutzmarke »national« sein Wesen treibt. Wer den passiven Widerstand zu aktiven Kriegshandlungen forcieren will, der ist ein Schädling dem schleunigst das Handwerk gelegt werden muß.

Darüber sind sich alle Parteien der Linken und der Mitte klar. Leider aber können sie sich nicht zu einmütiger Geschlossenheit gegen chauvinistischen Unfug aller Art aufschwingen. Fast scheint es, als fürchteten sie das Gespenst des »Dolchstoßes«. Niemand will das Omen auf sich nehmen, jeder ängstigt sich vor dem odiosen Schlagwort »Defaitismus«. Und so bleibt manches ungesagt, was gerade im Interesse resoluten und reinlichen Zusammenstehens aller Volksteile gesagt werden müßte.

Der Reichsregierung müssen besondere und schwerwiegende Gründe zugebilligt werden, wenn sie bis heute noch nicht das Kampfziel unzweideutig formuliert hat. Leider wird diese Lücke im Programm von allerhand Unberufenen mit einer nicht alltäglichen Unbedenklichkeit ausgefüllt. So will Herr Graf Westarp zum Beispiel nicht eher Verhandlungen geführt wissen, bis die Franzosen auch das linke Rheinufer geräumt haben, in der ihm nahestehenden Presse kann man es tagtäglich lesen, daß man zum letztenmal Reparationen gezahlt habe und daß der Kampf »bis zum Ende« geführt werden müsse, worunter der ahnungslose Spießer natürlich verstehen muß, daß nächstens losgeschlagen werden wird.

Wäre das Phantasterei auf eigene Faust, so könnte man darüber achselzuckend zur Tagesordnung übergehen. Leider findet dieses unverantwortliche Schlachtgeheul Resonanz bei gewissen Behörden, die sich von Reminiszenzen an Sozialistengesetz und Belagerungszustand nicht freimachen können. Wir behalten uns vor, demnächst eingehend auf dieses trübe Kapitel zurückzukommen. Für heute nur das eine, daß nämlich das Gesetz zum Schutze der Republik neuerlich so angewendet wird, daß diejenigen, gegen die es sich richtet, allen Grund haben, damit zufrieden zu sein. Wenn nicht die Republikaner ohne Unterschied der Partei sich eben noch rechtzeitig zu einiger Wachsamkeit entschließen, werden sie eines Tages zu ihrem Leidwesen bemerken müssen, daß sie eine Position nach der anderen an die Reaktion verloren haben. Die Einheitsfront birgt immer für den am meisten Gefahren, der sie am wörtlichsten nimmt. Die Deutschnationalen und ihre völkischen Anhängsel sind nicht ganz so treuherzig und wissen recht gut, was sie sich darunter vorzustellen haben. Und da diese deutschnationale Auslegung heute scheinbar triumphiert, so wird man Hochverräter beschimpft, wenn man öffentlich sagt, daß auch dieser ungeheuere Kampf schließlich mit einer Verständigung enden müsse, während das nationalsozialistische Katilinariertum mit der größten Unverschämtheit zu Pogromen aufhetzen darf, ohne daß irgend eine Instanz den Burschen übern Schnabel fährt.

Vieles erinnert an die Zeit, da die Vaterlandspartei grausigen Angedenkens in ihrer Sünden Maienblüte stand. An der Front tat man unpathetisch seine Pflicht. Hinter der Front schwelgte man in Deklamationen und zwang man die gesamte öffentliche Meinung unter einem unerhörten Terror. So ging es bis zum schlimmen Erwachen. Der »Burgfrieden« hat die große Zerrüttung, die dann folgte, vorbereitet.

Einheitsfront ist notwendig, wenn, wie jetzt, das Weiterbestehen des Staates in Frage gestellt ist. Aber Einheitsfront ist, kann nur Kameradschaftlichkeit sein. Einheitsfront ist kein Angstprodukt. Wer das nicht beherzigt, der hilft nur jenen fascistischen Elementen, die heute eine wesentliche, vielleicht die letzte Karte der französischen Regierungspolitik darstellen.

Berliner Volks-Zeitung, 4. März 1923

401.

Wie die Welt so weit ...

Man soll heute keine Reisebücher mehr lesen. Derart Lektüre tut nicht wohl. Unheimlich nährt sie jenes bohrende und nagende Weh nach der größeren Heimat der Welt, die dem Deutschen aus sehr triftigen ökonomischen Gründen verschlossen ist.

In gemütvollen Feuilletons befleißigen sich gute Menschen, die Liebe zur engeren Heimat zu pflegen, indem sie detailliert darlegen, wie viele Reize sich im nächsten Umkreis der Stadt aufspüren lassen, in der man gerade domiziliert. Bescheidenheit ist eine Zier, aber kein Trost. Was sollen mir die Kalkberge, wenn ich weiß, daß ich niemals den Chimborasso sehen werde.

Wahrscheinlich wäre mir der Chimborasso unter anderen Verhältnissen völlig gleichgültig, und Italien, neben manchem Schönen, hauptsächlich das Land der Stechmücken, der Malaria und der unverschämten Bettler. Denn nur das Unerreichbare läßt sich wirklich ersehnen.

Aber ist es wirklich Sehnsucht, was uns packt, wenn wir von fremden Zonen hören und ewig blauem Himmel und braunen Menschen, die unter Dattelpalmen köstlich faulenzen? Ich glaube, es ist etwas weit Schlimmeres. Denn Sehnsucht erhebt und beflügelt. Das hier aber vermiest die Stimmung, trocknet Herz und Hirn aus und macht schließlich wurstig. Der Gefangene hat Augenblicke, wo er von seinem Strohsack auffährt und in jäh aufflackernder Raserei die Kerkertür mit den Fäusten bearbeitet. Wir aber vegetieren in einer Illusion von Freiheit dahin, weil wir noch über die Straße laufen dürfen und uns für weitere Wege gelegentlich noch eine Fahrt mit der Ringbahn gestatten können. Wir rebellieren nicht, wir nörgeln und verfallen. Unsere Träume begleitet nicht der Trommelschlag der Empörung. Wir versinken sachte im Gefühl der Nichtigkeit und tapsen, ohne es zu merken, in die freundlichen Jahre hinein, wo man aufhört, den Grenzpfahl als Marterpfahl zu empfinden, wo man sich sein Krähwinkel lobt und es ein Klein-Paris nennt, das feine Leute bildet.

So sind wir. Und wie wird es erst mit unseren Kindern werden! Die werden in einem Baedeker für Amsterdam und Umgegend wie in einem Märchenbuche blättern und staunend und gruselnd von den Gepflogenheiten der Bewohner des fernen Sterns England erzählen hören. So etwa wie die braven Griechen, wenn ihnen Papa Herodot, der ehrwürdige Lügenbold, von Menschen erzählte, die den Kopf unterm Arm trugen, und von Wunderländern, wo einem geflügelte Drachen das Frühstück vom Teller wegschnappten.

Berliner Volks-Zeitung, 16. März 1923

402.

Die Parteien in Frankreich

Das französische Volk und die Ruhrbesetzung

In der von Dr. R. Kuczynski herausgegebenen »Deutsch-Französischen Wirtschaftskorrespondenz« untersucht der auch unseren Lesern bekannte Pariser Professor Emile Kahn die Stellung der französischen Parteien zur Ruhrfrage. Da bei der verwirrenden Vielfältigkeit der parlamentarischen Gruppen in Frankreich der mit den einschlägigen Verhältnissen nicht Vertraute schnell die Orientierung verliert, soll hier an Hand der instruktiven Darlegungen Kahns der Versuch einer Übersicht über die gegenwärtige Parteikonstellation gemacht werden.

Wir haben es in Frankreich im wesentlichen mit fünf großen Parlamentsparteien zu tun: die Einteilung in die zahlreichen Gruppen ergibt sich lediglich aus dem Modus der Vertretung in den verschiedenen Kommissionen der Kammer.

1. Die Royalisten und Nationalisten, zahlenmäßig gering, aber ungemein regsam. Führer ist Leon Daudet von der »Action Franchise«. Sie bekämpfen den Versailler Vertrag als nicht weitgehend genug, fordern die Annexion des Rheinlandes und sehen in der Ruhrinvasion, die für sie eine politische und keine wirtschaftliche Maßnahme ist, nur einen »ersten Schritt«.

2. Der Nationale Block, die regierende Mitte, gewählt auf Grund eines Programms, das die gesamte Zahlung der Reparationen und Pensionen durch Deutschland enthielt. Damit ist die Marschroute des Blocks fixiert. Kahn erläutert sie dahin: »Die Räumung der Ruhr erscheint ihm nur nach einer Kapitulation Deutschlands möglich. Keine Vermittlung, kein Schiedsspruch: von der Hartnäckigkeit der französischen Regierung hängen für den Nationalen Block nicht nur das Ansehen, sondern auch die finanzielle Rettung und die Sicherheit Frankreichs ab. Deutschland muß sich für besiegt erklären und sowohl in bezug auf die Abrüstung als auch auf die Reparationen stärkere Unterpfänder als bloße Versprechungen geben

3. Die Radikalen, Wortführer Herriot und Painlevé, » verwerfen die Ruhrbesetzung als die Folge einer Politik, für die sie nicht die Verantwortung übernehmen, aber sie sträuben sich aus »vaterländischen Rücksichten«, der Regierung Poincaré Schwierigkeiten zu bereiten. In ihrem Reparationsprogramm für internationale Anleihe, Schuldenausgleich und internationale Schiedsgerichtsbarkeit eintretend, überlassen sie es der Regierung und dem Nationalblock, den Ausweg aus dem Okkupationsdilemma zu finden. Auch Caillaux, der ehemalige Führer der Partei, hat in der »Ere Nouvelle« ausdrücklich diese Politik der Abstinenz gebilligt.

4. Die sozialistische Partei (Jean Longuet, Léon Blum, Renaudel), welche die Ruhrbesetzung in Wort und Tat bekämpft. »Sie erwartet die Reparationen nur von einer Reihe internationaler Maßnahmen: endgültige Festsetzung der deutschen Schuld innerhalb der Grenzen der Fähigkeiten Deutschlands durch Ermäßigung der Schuld auf den Betrag, der notwendig ist zur Wiedergutmachung des den Zivilbevölkerungen zugefügten Schadens und zur Wiederherstellung der zerstörten Gebiete (also Verzicht auf die Militärpensionen); Annullierung der internationalen Schulden: Durchführung von internationalen Kreditaktionen – durch den Völkerbund auf Rechnung Deutschlands –, die es erlauben würden, den zerstörten Ländern sofort die unentbehrlichen Zahlungen zu leisten, die Finanzen Deutschlands zu sanieren, die Währungen zu stabilisieren, die normalen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Völkern wiederherzustellen; endlich schon bei Abschluß solcher Vereinbarungen Räumung aller besetzten Gebiete.«

5. Die Kommunistische Partei verschanzt sich, nach Kahn, in einer rein negativen Opposition. Sie bekämpft die Ruhrbesetzung heftig, aber verrät ihre Meinung über die Lösung nicht.

Kahn resümiert, daß aus gewissen Anzeichen die Ruhrbesetzung weniger populär sei, als die Pariser Presse vorgebe: » Das französische Volk ist fast einmütig gegen Annexionen und militärische Expeditionen. Mit Ausnahme der Nationalisten würde niemand es wagen, ihm offen eine militaristische oder imperialistische Politik vorzuschlagen. Die Nationalisten aber können noch so laut schreien: die Provinz, die die große Mehrheit der Wähler umfaßt, weigert sich, sie ernst zu nehmen... Dem französischen Volke liegt nichts an der Ruhr, es ist durchaus bereit, sie zu verlassen. Aber ihm liegt an seiner Sicherheit, ihm liegt an Reparationen, und Deutschland muß das Mittel finden, sie ihm garantieren.«

Soweit Emile Kahn. Die nächsten Wahlen erst werden darüber volle Gewißheit geben. Charakteristisch ist immerhin, daß der Nationale Block, wohl im Bewußtsein seiner wankenden Macht, Nachwahlen untersagt hat, und bei den Wahlen der Generalräte und Bezirksräte die Radikalen und Sozialisten meistens gut abgeschnitten haben.

Berliner Volks-Zeitung, 25. März 1923

403.

Russen in Berlin

In Berlin wohnen zurzeit mehr als 200 000 Russen, die, wie auch ihre Meinungen im einzelnen differieren, sich, als Totalität betrachtet, doch darüber einig sind, daß Berlin eine freundliche Stadt ist mit zuvorkommenden Wohnungsämtern.

Um diese Russen spielt ein Abglanz von Romantik, namentlich für diejenigen unserer Landsleute, die sich aus Beruf und Neigung mit Literatur befassen, und in Aufregung geraten, wenn sie einen der früheren Untertanen des Zaren erblicken. Denn sie hoffen in intimeren Gesprächen tiefer in die vielberufene »russische Seele« einzudringen. Aber es ist so eigene Sache damit. Denn die Russen sprechen viel lieber über Devisen und Effekten als über Dostojewski. Wenigstens diejenigen, die unter dem Mantelzipfel der Berolina Obdach und Nahrung gefunden haben.

Es gab einmal eine Zeit, wo man in jedem Russen einen Nihilisten sah. Weiß Gott, wo die Nihilisten geblieben sind. Die Russen, die nach Berlin gekommen sind wenigstens, dürfen als gute solide Bürger ohne destruktive Tendenzen passieren. Von lebhaftem Betätigungsdrange und nicht zu unterschätzender geschäftlicher Knifflichkeit erfüllt, haben sie auf fremder Erde sich ihr Petrograd oder Moskau oder Krähwinkel neu erbaut und fühlen sich ganz gemütlich darin.

Das Vaterland ist eben eine Sache, die man in sich hat oder gar nicht hat. Diese Leute sind überall in Rußland; ein paar bunte Kulissen, Ladenschilder mit kyrillischen Lettern, und die Illusion der Heimat ist fix und fertig.

Volk Potemkins, wir, die wir in Deutschland oft nicht anders herumlaufen als in den unwirtlichen Gegenden Asiens, wir werden diesen naiven Imperialismus deines Herzens niemals erreichen. Wir sind dazu ausersehen, an der Quelle sitzend zu verschmachten.

Mütterchen Rußland, ehrwürdige alte Dame, Matrone mit dem Wanderstabe, in prachtvoller Frische der Last der Jahre und der Bürde des Kummers spottend, du bist nicht ganz so mystisch und geheimnisvoll, wie manche deiner Feueranbeter uns glauben machen wollen. Du bist von dieser Welt, du bist ein Stück Lebensmut unter uns unheilbar Mondsüchtigen. Deshalb lieben wir dich.

Und wir wollen dir zu Ehren auf die Gedächtniskirche ein paar Zwiebelkuppeln setzen.

Berliner Volks-Zeitung, 25. März 1923

404.

Hinter der Szene

Gegensätze im bayerischen Lager

Der vereitelte Putsch der deutschvölkischen »Freiheits«partei straft diejenigen Lügen, die in dieser jüngsten der Parteien nicht mehr sahen als die private Narrheit einiger Teutomanen. Tatsächlich hat die deutschvölkische »Freiheits«partei den Versuch einer Zusammenfassung aller weithin verstreuten illegalen Kräfte des Rechtsradikalismus dargestellt, jener Verbände, die in den östlichen Grenzmarken ganz offen als Selbstschutz auftreten, während für das Innere des Landes mehr oder weniger zweideutige Decknamen gewählt waren. Die Schaffung solcher Organisationen war ja die sattsam bekannte Spezialität des Herrn Roßbach.

Durch das energische Eingreifen der preußischen Regierung ist die deutschvölkische »Freiheits«partei der Auflösung verfallen. Damit ist der sichtbare Teil der Unternehmung getroffen; ob die vorgenommenen Verhaftungen und das beschlagnahmte Material dagegen genügen, um auch den bisher unsichtbar gebliebenen militärischen Apparat zum Stillstand zu bringen, muß erst die Folge lehren.

Immerhin hat die Aufdeckung des famosen Planes eine wohltätige Abkühlung bestimmter bürgerlicher Kreise mit sich gebracht, die in ihrer nationalistischen und reaktionären Verranntheit sonst zu allem Ja und Amen sagen, was gegen die demokratische Republik geschieht. Vielleicht haben die Leute, die diesmal dabei sind, doch zu wenig Gewicht. Auch sind die Henning, Wulle und Graefe erst kürzlich mit Groll von den Deutschnationalen gegangen, und für sie und ihresgleichen bedeuten selbst Hergt und Helfferich »Judengenossen«. Rein militärisch mag diese neue Verschwörung vielleicht die von 1920 übertreffen, aber politisch betrachtet erscheint sie weit isolierter und damit hoffnungsloser als jene. Damals regierte eine Linkskoalition, deren Position durch monarchistische Wühlereien reichlich unterhöhlt war, während andererseits die Sozialisten aus Verärgerung gegen Noske teils unwillig, teils in offener Feindschaft verharrten. Die heutige Reichsregierung aber genießt die ausgedehnte Sympathie gerade der rechtsbürgerlichen Elemente. Gegen wen also soll der Putsch sich eigentlich richten?

So könnte die ganze Verschwörungsepidemie sich jetzt lautlos in Dunst und Nebel auflösen, wie eine unholde Nachterscheinung, wenn nicht immer neue Auftriebe aus Bayern kämen, diesem Refugium aller trefflichen Mineure, die schon fast gar nicht mehr anders können. Hitler muß die Dingfestmachung seiner preußischen Complicen sicherlich als schweren Schlag empfinden. In der Tat steht sein Renommee auf dem Spiel, wenn er sich jetzt nicht zu baldigem Losschlagen entschließt. Aber wenn er nach dem Muster Mussolinis zu marschieren beginnt, wer wird mitgehen, und wird überhaupt jemand mitgehen? Es wurde schon lange gemunkelt und in letzter Zeit ist es endlich laut geworden, daß die bayerische Reaktion ihre Kräfte zersplittert hat, weil sie zu viele Hasen auf einmal jagen wollte. Während Ludendorff und Hitler sich an die Parole halten: »Das ganze Deutschland soll es sein« und Bayern nur als Glacis für die Eroberung Gesamtdeutschlands betrachten, will die regierende Bayerische Volkspartei sich lediglich auf die Wiederherstellung des »angestammten« Königshauses beschränken und den nichtbayerischen Teil Deutschlands seinem Schicksal überlassen. Ganz zu schweigen von den vielen anderen großen und kleinen Unternehmungen mit mehr oder weniger phantastischen Zielen. Jedenfalls ist die bayerische Reaktion durch den akut gewordenen Konflikt Kahr-Hitler zurzeit zu einer für uns sehr wohltätigen Ohnmacht verurteilt. Gefährlich wird es erst in dem Augenblick, wo ein Konkordat zwischen den beiden konkurrierenden Hauptgruppen zustande kommt.

Bleibt also die melancholische Erwägung, daß vor dem Hinabsinken in den Bürgerkrieg in letzter Linie nur die Uneinigkeit im bayerischen Lager uns bewahrt. Einen Weg zur Rettung gibt es noch: Preußen hat die Offensive gegen seine Bürgerkriegsmacher ergriffen. Wann kommt die höchste Instanz, wann kommt das Reich?

Berliner Volks-Zeitung. 26. März 1923

405.

Der Jambenfilm

Der Film begann als Hintertreppenroman und ist auf dem besten Wege, historisches Seminar zu werden. Wer Wert legt auf Stilechtheit in Kostüm und Szene, mag an dem verwässerten Meiningertum der Geschichtsfilme der letzten Jahre seine volle Befriedigung finden, wer dagegen glaubt, daß der Film, auf ganz anderm Boden gewachsen als die Sprechbühne, die besten Vorbedingungen besitzt, um im Heitern und Ernsten etwas von dem tollen Wirbel des Lebens dem Schauenden zu vermitteln, der wird entsetzt sich von einem Schauspiel abwenden, dessen Inszenierer auf Brokatwams oder seidene Escarpins mehr Wert legen als auf Fleisch und Blut.

Möglich, daß sich vor zwei Jahren die Amerikaner an dem bunten Gewimmel um die »Dubarry« noch gefreut haben. Denn die Yankees laborieren ja an einer gewissen Ruinensentimentalität, sie bewundern an Europa diesen Vorrat an gotischen Giebeln, barocken Posaunenengeln, traulichen Erkern und altersgrauen Stadtmauern. Ob sie indessen Neigung verspüren, sich im Laufe der nächsten Jahre sämtliche Katastrophen der europäischen Historie mit entsprechender Begleitmusik vorführen zu lassen, mag dahinstehen.

Bei uns kennt der Ausgrabungseifer der Filmindustrie keine Grenzen. So wie ein eingefuchster Germanist jeder gleichgültigen Handschrift aus dem Mittelalter eine mit Glossarium und Textkritik versehene Ausgabe widmet, so untersuchen die Scholaren der Kinomuse die dickleibigen Bände von Weber oder Schlosser nach geeigneten Objekten, beraten von Kulturhistorikern und Kunstgewerblern, die wieder ihr Gutachten abzugeben haben, ob etwa die Sendelbinde von 1409 oder der Gänsebauch von 1575 geeignet sind, den kostümlichen Erfolg zu garantieren.

Bekanntlich richtete der gute alte Moritz v. Schwind an den berühmten Piloty, als er gerade an einer Christenverfolgung oder einer Ermordung Wallensteins pinselte, die respektlose Frage: »Na, Exzellenz, was malen's denn heuer für einen Unglücksfall?« Dem Interviewer, der sich ehrfurchtsvoll den großen Filmateliers nähert, mag eine ähnliche Frage auf die Lippen gelegt werden. Denn die ganze Weltgeschichte wird heuer abgegrast. Sämtliche Friedriche, Katharinen, Pompadours, alle Feldherren, Könige, Schelme, Heroinen und Buhlerinnen, Dirnen, alle historischen Entthronungen, Enthauptungen, Entjungferungen, Folterungen, kurz, das ganze Wandelpanorama von Mißlichkeiten, das man etwas großspurig Weltgeschichte nennt, ist es heute nicht mehr als eine Sammlung von Motiven für den deutschen Film. Und alles das, was einst vor vielen Jahren auf Reinhardts Schaubühne entzückte, der bestrickende Reiz von Kleidern, deren Modelle seit Jahrhunderten in der Vitrine modern, Klostergänge von Spitzbogen überwölbt, Patrizierzimmer in schwerem, dunklem Ton, Fürstengemächer der Renaissance mit tänzelnden Arabesken, die ganze Herrlichkeit aus Ernst Sterns Skizzenbuch, wie müde wirkt das alles heute in blasser farbloser Wiederkehr, bevölkert von gleichgültigen Figurinen, deren Heiterkeit Grimasse und deren Tragik Langeweile ist. Und wo wirklich mal ein starker Akteur ist, erdrückt ihn die Aufmachung.

Der historische Film blieb bis jetzt Materialüberhäufung. Nicht einer hinterließ jenes seltsamsehnsüchtige Gefühl, das uns überfällt, wenn wir zurückdenken an den ersten »Don Carlos« oder »Kaufmann von Venedig«, den wir fiebernd auf irgend einer Ecke der Galerie miterlebten. Dieses fehlende Fluidum aber bedeutet die härteste Verurteilung des ganzen Genres. Unser vertracktes Bildungsphilistertum verbietet natürlich die Opposition. Wir müssen nun einmal so tun, als ob die abgeschnittenen Gurgeln dieser Renaissancetragödie, oder die Holzstöße jenes Inquisitionsdramas uns irgendwie interessierten. Und es wird nicht anders, ehe nicht irgend jemand es offen ausspricht, daß auch der Filmkönig schließlich in Unterhosen herumläuft, wenn er den stolzen Hermelin an den Garderobenhaken gehängt hat. Grund zur Zufriedenheit hat schließlich nur der ewige deutsche Oberlehrer: während das Theater sich gegenwärtig bald wild-expressionistisch, bald karg und farblos bis zur grauen Nüchternheit gebärdet, feiert im Film der orthodoxe Akademismus Orgien. Das vielverpönte Jambendrama von einst ist tot. Dem Jambenfilm gehört die Stunde.

Berliner Volks-Zeitung, 27. März 1923

406.

Um den Rhein

Der Entmilitarisierungsplan

Eines der Hauptargumente der französischen Politik bei der Auseinandersetzung mit England bildet stets der Hinweis, daß Frankreichs Ostgrenze nicht genügend geschützt sei und umfassenderer Sicherungen bedürfe gegen einen etwaigen deutschen Überfall. Das klingt einigermaßen absurd: denn Frankreich ist heute, und dürfte es auf lange Zeit hinaus bleiben, die herrschende kontinentale Militärmacht, während der deutsche Militarismus als letzte Bastion nur noch die »Wehrbeilagen« rechtsstehender Blätter behauptet und durch Stimmaufwand ersetzen möchte, was ihm faktisch an Kraft und Möglichkeiten fehlt. Dennoch tut man gut daran, das französische Argument nicht einfach zu ironisieren. Denn mag es sich hier auch um völlig aus dem Irrationalen steigende Zukunftsängste handeln, stärker als Tatsächliches noch, stärker als ökonomische Interessen selbst stehen im Völkerleben Wahnvorstellungen und schiefe Aspekte der wünschenswerten friedlichen Entwickelung hemmend im Wege. Es kommt also nicht so sehr darauf an, festzustellen oder zu widerlegen, ob Deutschland für das Frankreich von morgen wirklich eine Bedrohung darstellt, als vielmehr zu erkennen, wie lebhaft dieser Glaube weite Schichten des französischen Volkes beeindruckt und der Politik der gegenwärtigen Regierung sein Signum gibt.

Es ist deshalb in Deutschland von allen vernünftigen Elementen begrüßt worden, als seinerzeit in England sowohl als auch in Frankreich die Frage eines Garantiepaktes zwischen diesen beiden Mächten diskutiert wurde. Die Vorteile für uns lagen auf der Hand: wenn Frankreich von dem Albtraum der deutschen Revanche befreit war, dann konnte es auch auf seine Rheinpolitik verzichten und die Truppen allmählich zurückziehen. Der Fortfall der gigantisch anschwellenden Besatzungskosten hätte für produktivere Zwecke angewendet werden können und die Reparationspolitik erst richtig auf dem Boden der Wirklichkeit Fuß fassen lassen. Der Gedanke war zu praktisch, um realisiert zu werden. Er scheiterte in Cannes an dem Widerstande der Engländer. Der ergrimmte Poincaré zog dem heftig zappelnden Briand kurzerhand das Brett unter den Füßen fort, der gelenkigste aller Staatsmänner sackte weg und am Quai d'Orsay etablierte sich im Januar 1922 jenes starre System, das in der Ruhrbesetzung seine traurige Krönung erreicht hat.

Nun knüpft man in England, und zwar gerade in den Kreisen der beiden liberalen Parteien, wieder an Ideen an, die durch eine konträre Entwicklung am Wege liegen geblieben schienen. Man etikettiert die Sache heute nicht mehr mit »Garantiepakt«, sondern, und vielleicht treffender, mit » Entmilitarisierung des Rheinlandes«. In diesem Sinne hat General Spears, der militärische Expert der Lloyd George-Liberalen, ein Projekt ausgearbeitet und »Daily Chronicle«, das führende Organ dieser Partei, spinnt den gleichen Faden in vielbeachteten Artikeln weiter. Die Leitgedanken lassen sich dahin zusammenfassen: Deutschland muß den Beweis für seinen Leistungswillen erbringen; es wird dann in den Völkerbund aufgenommen und, unter Abschaffung der interalliierten Rheinlandkommission, dem Völkerbund die Garantie für die Exekutive auferlegt. Anstelle der zurückgenommenen französischen Truppen soll der Sicherheitsdienst entweder einer lokalen deutschen Gendarmerie unter dem Befehl englischer Offiziere oder einer internationalen Gendarmerie übertragen werden.

Das alles ist einstweilen natürlich noch Papier. Es läßt sich wohl mit Fug bezweifeln, ob die Regierung Poincarés, ob der hinter ihr stehende nationale Block, nachdem sie sich beide in so ungeheuerlicher Weise auf Prestigepolitik festgelegt haben, einen Weg beschreiten können, an dessen Ausgangspunkt das schlichte Grab aller annektionistischen Hoffnungen liegt. Man kann auch bezweifeln, ob der reichlich knochenschwache Völkerbund einer derartigen Aufgabe gewachsen ist und drittens, ob die englische Regierung in absehbarer Zeit überhaupt beabsichtigt, ihre große Autorität für die Pazifizierung des Kontinents einzusetzen; vermutlich sind ihr die beiden Kämpen noch nicht müde genug und damit noch nicht reif für Vermittlung. Aber unabhängig von diesen aktuellen Erwägungen muß doch ausgesprochen werden, daß, wenn einmal eine Lösung erfolgen soll, es nur durch ein solches oder ähnliches Arrangement geschehen kann.

Natürlich bliebe auch in diesem noch immer günstigsten Falle genug des Bitteren zu schlucken. Denn das Rheinland ist schließlich deutsches Land und nicht Allerweltsland. Aber töricht wäre es, greifbarem Fortschritt mit den lauten, aber leeren Formeln nationaler Teufelsaustreiberei entgegentreten zu wollen. Gerade wer in der deutsch-französischen Verständigung ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, erblickt, der muß dafür eintreten, daß von Rhein und Ruhr möglichst bald französisches Militär und französische Administration verschwinden. Denn durch die Zustände im alten und neuen okkupierten Gebiet wird eine gegenseitige Verbitterung aufgezüchtet, wird der Nationalhaß gerade dorthin getragen, wo er bisher zum Glück noch nicht vorhanden war, nämlich in die sozialistische Arbeiterschaft, die in nationalistischen Affekten im allgemeinen eine exklusive Angelegenheit sah, eine Sonntagsbelustigung der Bourgeoisie. Es ist bedauerlich, aber kann nicht verschwiegen werden: wenn Deutschland und Frankreich wieder einmal Geschmack aneinander finden sollen, dann dürfen sie sich wie ein paar verzankte Nachbarsleute für geraume Zeit gar nicht sehen. Während es früher eine volkstümliche These war, daß die Völker sich besser kennen lernen müssen, um sich zu verstehen, so trifft in diesem Falle leider eher das Gegenteil zu: sie kennen sich nur zu gut; das ist ihr Unglück. Beiden tut Vergessen bitter not.

Wenn irgendwo in Europa die Desinfektion bald einsetzen muß, dann am Rhein.

Berliner Volks-Zeitung, 29. März 1923

407.

»Werstands Universal Robots«

Theater am Kurfürstendamm

Oscar Wilde hat in einem seiner Essays die berückende Zukunftsvision eines Sozialismus entworfen, der mit einer von kapitalistischer Spekulation befreiten Technik die Erde in ein Paradies verwandelt. Alles Häßliche und Unsaubere bleibt der Erledigung durch die Maschine überlassen, während der Mensch ein Dasein des Schönen und Geistigen mit vollen Zügen genießen darf.

Berauschendes Bild eines radikal-ästhetischen Kopfes. Der tschechische Dramatiker Karel Czapek, der sich jüngst dem deutschen Publikum mit einer satirischen Insektenkomödie sympathisch vorgestellt hat, setzt in seinem utopistischen Drama »W. U. R.« (Werstands Universal Robots) ein dickes Fragezeichen dahinter. Er schreibt die Tragikomödie des Strebens nach dem Paradiese. Auch sein Harry Domin will die Menschheit aus Arbeitssklaverei in ein Arkadien seligen Nichtstuns führen. Ein im Mythischen bleibender Experimentator Werstand hat das Geheimnis der lebenden Materie entschleiert, und sein Neffe, ein Ingenieur, hat begonnen, künstliche Menschen zu schaffen. Harry Domin wertet das neue Wissen industriell aus. Auf einer Insel im Weltmeer werden in einer gigantischen Fabrik »Roboter« geschaffen, lebende Puppen, Fronknechte, Arbeitsknechte mit Hirn, aber ohne menschliches Fühlen, ohne Liebe, ohne Haß, ohne Furcht vor dem Tode – Automaten in Menschengestalt. Die sollen dem Herrn der Schöpfung den Erbfluch abnehmen, im Schweiße seines Angesichts den Mutterboden Erde zu bestellen.

Aber Harry Domin, der Idealist der übersteigerten Technik, rechnet falsch. Die Roboter werden zur Verdammnis. Die kapitalistische Welt zwingt zur Überproduktion künstlicher Menschen, die ja billiger sind als die lebenden; Arbeitslosigkeit tritt ein, Verdrossenheit, Aufruhr, die imperialistischen Mächte machen die Roboter zu Soldaten und die Maschinen zerstampfen die Lebenden. Zugleich rächt sich die Natur für den Eingriff in ihre Rechte: der Schoß der Frauen verdorrt, die Erde scheint ihre Fruchtbarkeit verloren zu haben, die Menschheit wird von ihren Kreaturen dezimiert.

In den Robotern, den Hirnwesen ohne Seele, erwacht das Selbstgefühl. Robot arbeitet, Robot beherrscht die Waffen, – Robot gehört die Erde von Rechts wegen. Und überall flammt die Revolution der Automaten auf, verschwinden die Menschen, und als letzte Bastion des aussterbenden Menschengeschlechts wird Werstands Insel gestürmt. Harry Domin sinkt mit seinem strahlenden Weibe Helene, mit Helene Blory, die einst gekommen war, als Sendbotin der Humanität, um den Robotern Befreiung zu bringen. Erschlagen werden Domins Mitarbeiter; begnadigt wird einzig Alquist, der Alte, der im Arbeitskleid unter Robotern wie ein Roboter gescharwerkt hat.

Aber was wollen die Armen mit ihrer Freiheit. Sie sind zum Aussterben verurteilt. Frau Helene hat Werstands Manuskript verbrannt. Das Geheimnis der Fabrikation ist unwiederbringlich dahin. Vergebens müht sich Alquist, die Zauberformel von neuem zu finden. Dennoch ist auch mit den Robotern eine Wandlung vorgegangen: sie haben den Schmerz kennen gelernt. Wurden die Ersten von ihnen, wenn ihre Zeit abgelaufen, wie Maschinen zerschlagen, so wissen sie nun durch Leiden um Todesfurcht. Und wie Alquist gegen ein männliches Versuchsobjekt das Seziermesser erhebt, da fällt ihm die Gefährtin weinend und bittend in die Arme. Aus Larven sind fühlende Wesen geworden. Die Menschheit ist gerettet. Über dem ersten Liebespaar leuchtet der Stern des neuen Bundes: »Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Same und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.«

Das ist in großen Zügen der Inhalt dieser dramatischen Utopie aus der Region des Henry George Wells. Was Czapek geben konnte, eine von Ethos und Intelligenz erfüllte Laienpredigt gegen die fortschreitende Mechanisierung der menschlichen Gesellschaft, hat er gegeben. Er hat sie gegeben mit Erfindungskraft und spitzer Komödiendialektik und grellroten Kulisseneffekten. Was er nicht gegeben hat, das große Schweigen um die letzten Menschen, das läßt sich nicht mit Intellekt und Bühnentechnik schaffen. Das ist eben Gnade. Gelungen aber ist ein faszinierendes Theaterstück, weitsichtig, im besten Sinne gesinnungsvoll, von guter europäischer Luft durchweht, ein Schauspiel mit rücksichtslos fortreißendem Tempo. Das wurde von einer in atemloser Spannung verharrenden Zuschauermenge bereitwillig anerkannt und durch immer erneuten starken Beifall bestätigt.

John Gottowts Regie bewältigte alles Bildhafte, die zwischen Phantastik und kühler Technik geteilten Interieurs, die Rebellion der Menschenmaschinen, die Kubinsche Vision des Aufruhrs, meisterhaft. Was sie schuldig blieb, war die Zügelung der Solisten. Diese, Maria Fein, Stahl-Nachbaur, Conrad Veidt, schrien, tremolierten, zappelten, wimmerten und trieben bei guter und richtiger Grundanlage ihrer Rollen zeitweise bis an die Grenze ungewollter Travestie. Disziplinierter erschienen die Vertreter der Epigonen der entarteten Zivilisation, Rudolf Felix, Robert Forsch und Hugo Keßler, während Erich Walter einen unvergeßlichen Augenblick hatte, wie aus der starren, eckigen Maske des Automaten plötzlich zwei leidende Menschenaugen um Erbarmen flehten.

Berliner Volks-Zeitung, 1. April 1923

408.

»Der Kampf der Geschlechter«

Renaissance-Theater

Das bürgerliche Schauspiel des alten Rußland wird niemals bei uns heimisch werden. Für uns bedeutet das Drama Aktion, aber für die Russen, wir wissen es von den Moskauer Truppen, breite Zustandschilderung, Dehnung, Auskosten von Stimmungsvaleurs, Lyrismus. So konnte ein Großer wie Tschechow niemals sich bei uns einbürgern, Andrejew blieb immer ein flüchtiger, wenn auch nicht ungern gesehener Gast, und Arzybaschew vollends wird seinen Logierbesuch im Renaissance-Theater nicht ungebührlich prolongieren.

Dieser »Kampf der Geschlechter« ist kein Schauspiel sondern eine Diskussion über Erotik, und zwar eine langweilige. Die alte Weisheit des Meister Eckart, daß die Wollust der Kreaturen mit Bitterkeit gemenget, deutet Arzybaschew am warnenden Exempel von vier Pärchen mit einer Konsequenz, die mit ermüdender Pedanterie fatal verwandt ist, neu aus. Da fehlt Steinbergs schwarze Vergrämtheit, fehlt Wedekinds rote Dämonie, fehlt selbst die exhibitionistische Besessenheit, die vor mehr als zehn Jahren Arzybaschews »Sanin« zu einem internationalen Sensationserfolg verhalf und grüne Sekundaner und halbflügge Konservatoristinnen nächtlich beunruhigte. Nach dieser langatmigen Unterhaltung über das Wesen des Sexualtriebes aber gehen wir in sanftem Halbschlummer heimwärts. Ob der Autor, der einst als fanatischer Verneiner überlieferter Moralsätze verrufen war, beabsichtigt hat, als Schlafmittelersatz aufzutreten, mögen die Götter wissen. Es bleibt hier nur zu registrieren, daß auf einigen Umwegen R. Arzybaschew zu den moralischen Autoren gelangt ist.

Karl Heinz Martins Regie entlockte dem Stück eine Lyrik, die es gar nicht hat. Er übernahm von den Russen die zarten Stimmungen und gebrochenen Töne, ohne die Dehnungen zu übertreiben. Aber die Schauspieler? Sie haben keine Aufgaben. Sie stellen lebende Bilder und räsonieren zwischendurch. Wo nichts ist, da haben auch Künstler wie Emanuel Reicher und Carl Goetz ihr Recht verloren.

Berliner Volks-Zeitung, 5. April 1923

409.

Die vierte Phase

Loucheurs Rolle in London

Vor zwei Wochen etwa hat in einer Rede Reichskanzler Dr. Cuno das Wort von der »dritten Phase« geprägt, in die der Ruhrkampf eingetreten sei. Man kann diese Feststellung durchaus unterschreiben. Die erste Phase war der Einmarsch der französischen Truppen, die Organisierung des Abwehrkampfes deutscherseits. Die zweite: der verunglückte Versuch der Franzosen, das selbst genommene Pfand produktiv zu machen. Die dritte Phase ist Selbständigmachung des militärischen Apparates, Steigerung der Erbitterung auf seiten der Bevölkerung, Gewalttaten, Willkür, Racheakte der davon Betroffenen.

Die erste Phase war Politik, die zweite Krieg, wenn auch mit anderen Mitteln. Die dritte Phase bedeutet Anarchie, Anfang vom Ende, wenn nicht schleunigst eine machtvolle Hand den Schlußpunkt setzt.

Wer soll es tun? Die beiden Parteien in diesem grausamen Ringen sind schier unlöslich ineinander verkrampft. Deutschland kann keinen Schritt unternehmen, der im Lande selbst als Kapitulation aufgefaßt werden könnte. Ein Angebot selbst, das lediglich den Friedenswillen bekundet und den Versuch unternimmt, die Reparationsfrage auf realen Boden zu stellen, würde von den französischen Chauvins als »weiße Fahne« ausgelegt und dazu mißbraucht werden, die Regierung Poincarés erst recht in eine gefährliche Intransigenz hineinzutreiben, obgleich kaum bezweifelt werden kann, daß die Mehrheit des Kabinetts ein Ende des Abenteuers herbeisehnt und gern eine Lösung akzeptieren möchte, die das französische Prestige nicht allzu sehr belastet.

Wir haben analoge Fälle in den Kriegsjahren erlebt. Wenn damals irgendwo eine Stimme der Vernunft vernehmbar wurde, so schrie man auf der anderen Seite sogleich um so lauter, daß das ein Zugeständnis der Niederlage sei und daß man jetzt nur noch »ein wenig« durchzuhalten brauche, um sich den Endsieg und damit die Diktatur über den Gegner zu sichern. Da die Regierenden nirgendwo aus dem Kriege eine reiche Ernte an politischen Erfahrungen in die Scheuern gebracht haben, so wiederholen sich leider die alten Fehler in neuer Form, und diejenigen unter den Mächten, die wohl imstande wären, zu intervenieren, hüten sich wohl, den Kampf zu eröffnen gegen jene Potenz, gegen die Götter selbst vergebens anrennen.

Was ist das Ziel der beiden Gegner, wenn man alle phantastischen Kriegsträume deutscher Wolkenkuckucksheimer, alle Annexionspläne von Franzosen gleichen Schlages außer Spiel läßt?

Deutschland ist sich bewußt, daß es Reparationen zu leisten hat, und ist auch bereit, für die Erfüllung Garantien zu gewähren. Aber Deutschland kann nicht auf Bedingungen eingehen, die seine innere Wiederherstellung ständig von neuem gefährden, und vor allen Dingen will es endlich als Gleiches unter Gleichen verkehren, anstatt, nach Versailler Muster, einfach fremden Willen zu vollstrecken, ohne selbst gefragt zu werden.

Frankreich will zunächst Geld, Geld und nochmals Geld, um seiner zerrütteten Wirtschaft aufzuhelfen. Frankreichs Finanzen sind nicht weniger verwüstet, als einige seiner Provinzen. Seine Valuta wird, das bedenkliche Bild trifft in diesem Falle durchaus zu, von den Bajonetten gestützt. Aber Bajonette sind auf die Dauer ein wenig erquicklicher Sitz. Unabhängig von ökonomischen Pfändern für seinen Wiederaufbau aber wünscht Frankreich Sicherungen politischer Natur. Es fürchtet eine deutsche Revanche und möchte, da der Garantiepakt mit England nicht Wirklichkeit geworden ist, am liebsten einen Schutzwall zwischen sich und Deutschland, und zwar in Form eines Rheinlandes von zweifelhafter Autonomie. Dieses Projekt ist deshalb so unheilvoll, weil seit Jahrhunderten bekanntlich die Durchdringung oder gar Eroberung des Rheinlandes eine Lieblingsidee des französischen Imperialismus bildet, und weil man heute nie weiß, inwieweit die Verfechter dieser Idee tatsächlich nur an die Sicherung ihres Landes denken oder ob perfiderweise die Nervosität des Volkes zu dunklen Plänen mißbraucht wird.

Was also zwischen den beiden Ländern steht, sind ernsthafte wirtschaftliche Angelegenheiten und Seifenblasen, dem Hirn schlechter Politikaster entstiegen. Und, es scheint so etwas wie ein historisches Gesetz sich darin zu manifestieren, die Seifenblasen erweisen sich gefährlicher als die Realitäten. Jedesmal, wenn die Diskussion zwischen den beiden Antipoden auf das rein Wirtschaftliche beschränkt bleibt, fühlt man die Entspannung, aber wenn die Politiker dominieren, ist die Atmosphäre sofort wieder elektrisch geladen.

Vielleicht ist Herr Loucheur unter diesen Umständen gar nicht einmal auf der falschen Fährte, wenn er in seinen Londoner Vorschlägen, die wohl mehr den Zweck verfolgen, die abgebrochene Debatte zwischen England und Frankreich neu zu eröffnen, als etwas Kompaktes zu bieten, Phantasie und Wirklichkeit, konkretes, wirtschaftliches Denken und politische Träumereien etwas absurd miteinander vermengt. Seine wirtschaftlichen Vorschläge sind durchaus diskutabel, aber die rheinische Republik bleibt eine Konzession an den Boulevard. Ein nüchterner Geschäftsmann wie Loucheur dürfte sich kaum der Illusion hingeben, ein innerlich wesensfremdes, ausgedehntes Gebiet lasse sich auch nur in verschleierter Form angliedern. Aber, um den Herren Patriotards wenigstens die Vorstellung abzugewöhnen, als sei der Verhandlungstisch die Schlachtbank für alle nationalistischen Aspirationen, mußte dieses Opfer an Intellekt wohl gebracht werden.

Im übrigen darf Loucheurs Autorität in Frankreich nur mit einiger Vorsicht eingeschätzt werden. Sein Verhältnis zu Poincaré war vielfachen Schwankungen unterworfen. Die Öffentlichkeit widmet ihm einiges Mißtrauen; seine Sachverständigkeit wird nicht bestritten, wohl aber erfreut sich sein mit allen Salben der Kriegsgewinnlerzeit gestrichener Reichtum keiner besonderen Hochachtung. Im allgemeinen gilt der frühere Wiederaufbauminister, der wiederholt nach der Nachfolge Poincarés gestrebt haben soll, als eine Persönlichkeit, die mit einiger Vorsicht zu genießen ist. Man kann ihn daher nicht einfach als Vertrauensperson der Regierung betrachten, ebensowenig wie als Exponenten des französischen Großkapitalismus überhaupt. Richtig ist wohl, daß Poincaré ihn, der eine immerhin einflußreiche industrielle Gruppe vertritt, in London gewähren ließ, da seine Bestrebungen nach einer Richtung hin laufen, die auch der Regierung genehm wäre, die sie einstweilen aber aus innerpolitischen Gründen meiden muß. Ob aus Loucheurs Londoner Besprechungen etwas Positives herausspringen wird, kann vor der Hand nicht beantwortet werden. Wahrscheinlich aber ist, daß die französische Regierung darin die Möglichkeit sieht, auf einem Umwege die Diskussion mit England von neuem zu beginnen und damit einen wichtigen Schritt zur Überwindung der gegenwärtigen Isolierung zu unternehmen.

Man wird in Deutschland gut tun, diese Entwickelung wachsam und ohne Überschwang im Hoffen zu verfolgen. Immerhin läge ein Fortschritt darin, wenn die französische Öffentlichkeit genötigt würde, sich endlich einmal ernsthaft mit dem kritischen Standpunkt der Engländer vertraut zu machen. Möglich, daß Loucheurs Mission die erste Notbrücke geschlagen und eine vierte Phase eröffnet hat, die Phase der langsam wiederkehrenden Vernunft.

Berliner Volks-Zeitung, 8. April 1923


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