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1924

448.

»Die Finanzen des Großherzogs«

Union-Film der Ufa

Man begrüßt diesen Film schon aus dem Grunde, weil er einmal Gelegenheit gibt, ein paar Worte über Frank Heller zu sagen. Lieber Gott, wer schreibt denn über einen Belletristen und Verfasser von Unterhaltungslektüre? Und doch hat dieser schwedische Autor den Typ von neuem geadelt, er hat ihn gerettet aus den Klauen einer erstarrten Handwerksmäßigkeit. Er ist der entzückendste und kurzweiligste Erzähler von heute. Er erzählt nämlich durchaus nichts Besonderes, nichts was erklügelt oder problematisch belastet wäre. Er hält sich an Abenteurergeschichten mit kriminellem Hintergrunde, wie sie von Alexandre Dumas bis Conan Doyle tausendmal niedergeschrieben worden sind. Aber er hat eine so scharmante und spitzbübische Art zu plaudern, er arbeitet mit einem so unverwüstlichen Humor, daß er es sich erlauben darf, die Geschichten, die er erzählt, jählings unter einen parodistischen Reflektor zu bringen, ohne daß deshalb der Eindruck des Krampfig-Gequälten, des Witzigseinwollens auf alle Fälle entstünde. So ist ihm die Gestalt des Herrn Collin geglückt, des Globetrotters mit der belasteten Vergangenheit. Immer gutgelaunt, immer die Situation beherrschend, bald Detektiv, bald polizeilich gesuchtes Individuum, auf jeden Fall stets Retter in der Not, Helfer und Schützer der bedrängten Unschuld, so bleibt Philipp Collin mit jedem Wesenszug ein amüsanter Freibeuter, die einzige wirklich gerundete Schelmenfigur der modernen Literatur.

Der Regisseur Murnau stand also vor der Aufgabe, ein Romanbuch zu verfilmen, das zwar überreich ist an spannenden und aufregenden Begebenheiten, dessen eigentliche Anziehungskraft aber in der graziösen Ironie des Vortrags liegt. Das hat der Regisseur recht gut erkannt, aber von den Hauptdarstellern hatte nur Alfred Abel als Collin die grazile Linie des Körpers und die spöttische Intelligenz des beweglichen Filougesichts. Den Duodezfürsten Ramon XXII., den von zweihundertjährigen Staatsschulden niedergedrückten unseligen Gebieter eines meerumspülten Miniaturstaates, verbog Herr Harry Liedtke ins Niedliche. Der Großherzog des Buches ist nicht nur Kavalier und schöner Mann, sondern auch ein muskulöser Bursche, der es sich schon zumuten darf, mit seinen kräftigen Fäusten höchsteigenhändig eine Emeute gekaufter Banditen niederzuschlagen. Als Großfürstin Olga, die dem Zarenhof entflieht, um den lange verehrten Mann endlich einmal mit eigenen Augen zu sehen, sah Mady Christians wie immer wunderschön aus. Aber das war eine beliebige kosmopolitische Dame, nicht das Blut der Romanows. Das Unberechenbare, das Launische, ja Gewalttätige der Zarennichte fehlte. Ausgezeichnet war dagegen das schwefelfarbene Brigantenquartett, ebenso der schuftige holländische Spekulant des Herrn Vallentin.

Mit allen Einschränkungen muß gesagt werden, daß schon allein durch die prächtigen Aufnahmen aus dem Süden und die bewegten nächtlichen Straßenszenen hier ein Film entstanden ist, der sich schnell die Gunst des Publikums erringen wird, auch wenn das amüsante Gesicht und die tänzerische Heiterkeit der Vorlage nicht durchweg erreicht ist.

Berliner Volks-Zeitung, 9. Januar 1924

449.

Hinkemann und Hakenkreuz

Der organisierte Theaterskandal

In Niederschönenfeld hat Ernst Toller das Drama » Der deutsche Hinkemann« geschrieben, ein Versuch, die Tragödie des Kriegers, dem eine Kugel das Geschlecht zerschmettert, zum Symbol des deutschen Volksschicksals zu erheben. Ein kühner Vorwurf, dessen Gestaltung vielleicht nicht restlos gelungen ist. Jedenfalls aber gibt Toller eine Folge von Szenen, in denen, um ein Bild Hebbels zu gebrauchen, »die Nacht plötzlich ein Gesicht erhalten hat«. Aus Dunkelheit und Grauen schlägt die Flamme der Menschlichkeit empor. So wird Hinkemanns Leidensweg zu einer jener peinvollen Phantasien, wie wir sie von der Kunst der Gotik her kennen. Man denkt an die gemalten Fieberträume eines Höllenbreughel oder Hieronymus Bosch, die alle zunächst so wüst anmuten und deren tief-sittlicher, fast pedantisch-moralischer Kern sich doch dem Beschauer schließlich offenbart. Vorausgesetzt, daß dieser guten Willens ist, von seinen Augen Gebrauch zu machen.

Um Hinkemanns Schicksal riecht es nach Pech und Schwefel, echte Höllengerüche, echte christliche Gerüche also. Im Dresdener Staatstheater aber hat es am 17. d.M. nach allen Pestilenzen der deutschvölkischen Hinterwelt gestunken. Und daran war nicht der arme Hinkemann schuld, sondern sein Publikum.

Ein Theaterskandal ist an sich eine Angelegenheit, über die man sich nicht weiter aufzuregen brauchte. Es ist ohne Zweifel das gute Recht des Publikums, seine ablehnenden Gefühle zu bekunden. Das ändert sich aber augenblicklich, wenn die Sache organisiert wird, wenn die Entrüstung nicht spontan sich Luft macht, sondern eingedrillte Lümmel kolonnenweise ins Theater dirigiert werden, um dort die kochende Volksszene vorzuführen. Bei der Dresdner Uraufführung des »Hinkemann« war der ganze völkische Heerbann aufgeboten. Es ist auch dementsprechend zugegangen.

Solche Dinge sind widerwärtig, aber sicherlich nicht ganz neu. Völlig neuartig ist nur, daß eine Zeitung solche Vorfälle nicht nur nicht verurteilt, sondern den Skandalmachern auch noch einen Ruhmeskranz auf die niedrige Stirn drückt. Es braucht eigentlich danach kaum gesagt zu werden, daß es sich hier um die »Deutsche Zeitung« handelt, die schon immer die robuste Fürsprecherin eines gewissen zugekämmten nationalistisch-antisemitischen Rüpeltums gewesen ist. Dort schreibt also unterm Strich ein sicherer »S.«, der aus weiser Voraussicht nur seinen Anfangsbuchstaben preisgibt und es der Kombinationsgabe des Lesers überläßt, sich das Ganze auszumalen: »Wir wollen froh sein, daß unsere deutsche Jugend noch so rein empfindet.« Unser »S.« gibt zwar zu, daß einige jüngere Herren »taktische Fehler« begangen hätten (o, erfahrener Radaustratege!), aber er konstatiert mit Genugtuung, daß größtenteils »gereiftere ältere Leute« von der Partie waren. Als ob es nicht auch grauhaarige Lausejungen gäbe? Aber was erregte denn so an dem Stück? »S.« sieht darin eine »Verhöhnung des Christentums und des Deutschtums«. Ein prächtiger Spaß! Seit wann ist es der »Deutschen Zeitung« eigentlich so sehr um das Christentum zu tun? Was wird Wotan dazu sagen, daß man zu Ehren seiner pazifistischen Konkurrenz aus Palästina in Dresden die Speere schüttelt?

Die liebenswürdige Radauchronik des Dresdener Vertreters des Maurenbrecher-Blattes aber hat noch einen besonderen Beigeschmack. Bisher war es Brauch eines halbwegs gesitteten, also nicht völkischen Publikums, wenn es schon glaubte, seinem Unwillen über ein Drama Ausdruck geben zu müssen, wenigstens die Schauspieler mit einiger Generosität zu behandeln. Aber Freund S. zieht gegen die Künstler los, als wären sie Komplizen des in Niederschönenfeld sitzenden Staatsverbrechers Toller. Er rüffelt den Spielleiter Wiecke, weil er Polizei zum Schutze heranholte, und er drückt seine Mißstimmung so aus:

»Es wäre seine Pflicht gewesen, die Vorstellung abzubrechen: Decarli ( Jude) soll gesagt haben, wir setzen die Aufführung durch, und wenn ich bis früh um 6 Uhr spiele

Wo in aller Welt hat schon einmal eine solche Stigmatisierung eines Schauspielers durch den Referenten einer als politisch geltenden Zeitung stattgefunden? Man muß schon in die Nebelhöhlen antisemitischer Erpresserblättchen steigen, um ähnliches zu finden.

Und der Effekt dieser Hetze? Die Antwort gibt ein Telegramm des »B.T.« aus Dresden:

»Die für Donnerstag angesetzte ›Hinkemann‹-Vorstellung ist abgesagt worden. Diese Absage ist verursacht durch Drohbriefe an sämtliche mitwirkende Schauspieler, worin ihnen mit Erschießen auf offener Bühne gedroht wurde. Darum weigerten sich die Künstler morgen aufzutreten, so daß das Stück abgesagt werden mußte.«

Somit ist »Hinkemann« also der Brutalität der Nationalkrapüle zum Opfer gefallen. Aber wäre nicht ein gewisser Zusammenhang nachzuweisen zwischen diesem Ausgang des Skandals und dieser Art der Berichterstattung? Wirklich, das alte Wort »Revolverjournalismus«, das bisher nur im übertragenen Sinne gebraucht wurde, wird hier auf seinen schlichten Ursinn zurückgeführt. Da wird nicht viel Geseires gemacht. Kein verschmitztes Augenzwinkern, kein dürftig maskierter Appell an die Bestie im Menschen. Nein, ganz klar und deutlich wird den Herren Revolver- und Knüppelbesitzern das Ziel gewiesen: »Decarli (Jude)!« Also los!

Aber interessiert sich in Dresden niemand dafür, diesen Herrschaften, die jeden Regenwurm für die leibhaftige Midgardschlange halten, das Handwerk zu legen? Ach, dort herrscht der Ausnahmezustand, und die Gilde vom Hakenkreuz fühlt sich geborgen wie in Abrahams Schoß.

Deutsches Volksstück 1924!

Berliner Volks-Zeitung, 25. Januar 1924

450.

Zur Ästhetik der Politik

Ein paar Glückliche, die den Vorzug genossen haben, Herrn Adolf Hitler in großen Versammlungen reden zu hören, berichten, daß dieser Mann durchaus nicht der große Rhetor sei, als den ihn auch seine Gegner sich gewöhnlich vorstellen. Er sage eigentlich immer dasselbe, aber um seinen Worten durch die Geste Nachdruck zu verleihen, schlage er ständig mit Armen und Beinen um sich, so daß nach kurzer Zeit schon sein Kragen durch die Anstrengung völlig durchgeschwitzt sei und sich um seinen Hals schmiege wie das dünne Gewand um die feuchten Glieder der Najade.

Herrn Hitlers durchgeschwitzter Kragen hat seine Bedeutung. Sein Publikum sieht, wie er sich abmüht fürs Volk. Und in München wirkt so etwas vertrauenerweckend. Aber schön ist es nicht. Weder in München noch anderswo.

Überhaupt, wie sehen unsere Politiker aus. Man werfe nur einmal einen Blick auf die Bilder in Kürschners Parlamentskatalog. Es ist der reine Anti-Modespiegel. Grünbemooste Bratenröcke, Plastrons aus den schweren Tagen des Kulturkampfes, Wellblechkragen, praktisch, aber mißfällig dem Auge, abwaschbare Porzellanwesten, Röllchen aus Kaugummi, Selbstbinder, zielstrebig emporsteigend, kühne Symbole der hochfliegenden Pläne des Trägers ... Wie gesagt, ein Rundgang durch die verstecktesten Winkel der Kostümgeschichte der letzten fünfzig Jahre. Und wer einmal in die Couloirs des Reichstags verschlagen wird, der findet das alles gewiß sehr interessant, wünscht aber dennoch, um zu reiner Beschauerobjektivität zu kommen, zwischen sich und diesen Schatz kulturhistorischer Kuriositäten die distanzschaffende Glaswand.

Aber, Scherz beiseite, warum müssen bei uns die Berufspolitiker, von nicht allzuvielen Ausnahmen abgesehen, so furchtbar popelig wirken? Soll das eine Konzession an die demokratischen Gefühle der Menge sein? Ich glaube, das ist ein Irrtum. Auch der Besucher von Volksversammlungen sieht am Rednerpult lieber einen sorgfältig gekleideten Herrn als eine Figur, die an die Auferstehung des Lazarus erinnert.

Zum Beispiel: Herr Mussolini, der auf breite Volksmassen stets so unwiderstehlich gewirkt hat, erschien als Häuptling seiner Schwarzhemden nicht etwa isabellenfarbig aufgemacht, sondern stets in einem vorzüglich sitzenden Sakkoanzug, und sein Antlitz verriet deutlich die ständige Behandlung durch einen geübten Friseur. Und niemand nahm Anstoß an seinem gepflegten Äußern, obgleich er, wie bekannt, vor zwanzig Jahren als simpler Dorfschullehrer angefangen hat.

Nun sollen unsere Volkstribunen durchaus nicht etwa mit einem Schlage Dandies werden. O nein. Aber man kann, wenn man in eine Versammlung geht, um zu ein paar tausend Mitbürgern zu sprechen, vorher ruhig seine Buxen plätten lassen. Das ist keine große Konzession an die Eitelkeit. Die Leute sehen es und sagen: »Das hat er unseretwegen getan!« und fühlen sich geschmeichelt, und die kleine Freundin, die den Mann der Massen nachher ganz für sich allein okkupiert, hat auch ihre Freude daran.

Berliner Volks-Zeitung, 29. Januar 1924

451.

Genf oder Moskau? Stresemanns bedenkliches Experiment

Der Außenminister Dr. Stresemann hat neulich in seiner Elberfelder Rede gesagt, am internationalen Horizont werde ein Silberstreifen sichtbar. So gern wir dieser hoffnungsvollen Feststellung beipflichten möchten, wir können bis jetzt mit unbewaffnetem Auge nur wahrnehmen, daß in der europäischen Politik die lastende Starre der vergangenen Monate einer gewissen Bewegung gewichen ist. Es ist wenigstens manches in Fluß gekommen. »Ob Glück, ob Unglück, lehrt das Ende.«

Natürlich liegt in der Tatsache, daß die Welt in der Lösung oder mindestens neuen Behandlung der Reparationsfragen das Alpha und Omega einer das Ganze umfassenden Regelung erblickt, ein nicht zu unterschätzender Fortschritt. Und indem wir das konstatieren, müssen wir weiter konstatieren, daß unsere Außenpolitik daran völlig unbeteiligt ist. Es ist nämlich eine Fiktion, daß wir wie Frankreich, wie England, daß wir wie alle anderen Staaten auf Gottes weiter Erde eine Außenpolitik haben. Wir haben einen Außenminister mit dem dazu gehörenden amtlichen Betrieb. Wir hören auch gelegentlich die Räder der großen Mühle in der Wilhelmstraße klappern. Aber es bleibt beim Klappern. Resultat? – Fehlanzeige. Gewiß, das außenpolitische Wirkungsfeld Deutschlands ist zurzeit nicht nur begrenzt, sondern auch unbequem. Es ist eine undankbare Aufgabe für einen Diplomaten, nur auf weite Sicht zu arbeiten. Und, wie die Dinge liegen, die deutsche Diplomatie kann nicht auf Tageserfolge rechnen, sie kann sich nicht das vergnügte Intermezzo gestatten, gelegentlich eine Rakete farbenglänzend zersprühen zu lassen. Ihre Tätigkeit muß sich darauf beschränken, künftiges Handeln vorzubereiten, zu sondieren, die Wandlungen der internationalen Atmosphäre zu beobachten. Nur eine Möglichkeit weitausholender Aktivität gibt es: den Weg freimachen zu helfen für den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Gerade auf diesem Gebiete aber wird so gut wie alles versäumt. Nichts geschieht, um die Öffentlichkeit darauf vorzubereiten, daß dieser Schritt einmal erfolgen wird und muß.

Stimmungsmäßig steht die breite Masse des deutschen Volkes dem Völkerbund von Genf mit höchstem Mißtrauen gegenüber. Die Motive sind sehr verschieden, es soll auch hier nicht auf deren Stichhaltigkeit eingegangen werden, aber das Gefühl ist einheitlich. Was geschieht von seiten unserer außenpolitischen Leiter, um eine neue Stimmung vorzubereiten, um den Leuten klarzumachen, daß, mögen sie schon den Völkerbund für ein von Wilson und Satan gemeinsam ausgehecktes Komplott gegen Deutschland halten, er doch ein Instrument ist, das auf alle Fälle gebraucht werden muß? Kein Ideal in seiner heutigen Form, sicherlich nicht das; aber doch eine Tribüne, ein Sprachrohr, ein Mittel, um Deutschlands Stimme im Rate der Völker hörbar werden zu lassen.

Die gegenwärtige englische Regierung hat sich die Befriedung Europas als Ziel gesetzt. Wir wissen nicht, welche Energien ihr zu Gebote stehen, welche Pläne sie bereits ausgearbeitet hat. Sie hat nur über einen Punkt des Programms sich deutlich ausgesprochen. Sie hat erklärt, daß sie die Komplettierung des Völkerbundes durch Hinzuziehung Deutschlands und Rußlands mit aller Kraft betreiben werde. Und ihr erster politisch bedeutsamer Akt, die Anerkennung Sowjetrußlands, kam ganz aus diesem Geiste. Das wäre für Deutschland immerhin ein Grund, um dem Völkerbundsproblem endlich einmal offen ins Antlitz zu schauen, anstatt wie bisher entweder zu schimpfen oder mit verlegener Kehrtwendung zu verschwinden. Nichts geschieht, um eine vernünftige Diskussion in die Wege zu leiten, nichts geschieht, um der Öffentlichkeit den Gedanken vertraut zu machen, daß, wenn die Einladung einmal an Deutschland ergeht, es nicht nein sagen kann, ohne irreparablen Schaden anzurichten.

Der deutsche Außenminister aber tut nichts, um den Übergang zu einer Völkerbundspolitik zu ermöglichen. Er bleibt passiv wie seine Vorgänger, und wenn er einmal zu dieser Frage Stellung nimmt, dann verbirgt er sich hinter Einwänden und Vorbehalten, die alle zusammen nicht mehr bedeuten als eine höfliche Ablehnung. Herr Stresemann macht hier, wie so oft, als Außenpolitiker Innenpolitik. Er rechnet nicht mit der Wirklichkeit, sondern spekuliert auf den Beifall der nationalistischen Oppositionsbank. Schlimmer noch. Neulich im Auswärtigen Ausschuß und gestern im Plenum des Reichstages hat Herr Stresemann mit großer Emphase die »Universalität« des Völkerbundes betont. Das heißt, in unser geliebtes Deutsch übertragen, daß Deutschland seine Stellung dem Völkerbund gegenüber von der der russischen Regierung abhängig zu machen geneigt ist. Sollte also Rußland aus irgendwelchen Gründen dem Völkerbund fernbleiben oder nicht zugelassen werden, so würde auch Deutschland im Schmollwinkel bleiben. Das nennt man Nibelungentreue. Wie die Herren Radek und Sinowjew sich vor Lachen biegen werden!

Rußland hat seine eigenen Interessen. Wenn es glaubt, England gegenüber keine Position aufgeben zu müssen, wenn es glaubt, die Verbeugung vor Genf nicht ohne gehörige Konzessionen machen zu dürfen, so ist das seine Sache. Wir haben nur unsere eigenen Interessen zu vertreten und sonst nichts. Und Deutschland ist bepackt genug, um sich nicht noch die Sorgen anderer aufzubürden. Es darf nicht zum zweitenmal der Fehler von Rapallo wiederholt werden, wo die deutsche Diplomatie, von Tschitscherin überrumpelt, einen an und für sich vielleicht ganz nützlichen Wirtschaftsvertrag gerade in dem denkbar ungünstigsten Augenblick unterzeichnete. Die Publikation wirkte wie ein Blitz aus heiterem Himmel und trug der deutschen Diplomatie das Odium der Sprengung der Weltkonferenz ein. Diese Spuren sollten eigentlich schrecken.

Es ist heute leider noch so, daß Deutschland in hohem Maße von der Sympathie der Welt abhängt. Um diese sich zu sichern, dazu gehört zweierlei: Tätigkeit und Aufrichtigkeit! Der englische Premierminister hat bei seinem Amtsantritt entschieden betont, daß er bei den Verhandlungen mit Frankreich völlig ehrlich vorgehen werde, das gleiche aber auch von der anderen Seite verlange. Das ist die erste und letzte Forderung MacDonalds; dieser kategorische Imperativ seiner Politik gilt auch, und erst recht! für Deutschland. Wenn die deutsche Außenpolitik auf der Bärenhaut liegt, so erleichtert das Englands Pläne nicht.

Wenn aber Deutschland zu einer zweideutigen Geste ausholt oder in die englisch-russische Auseinandersetzung eingreift in der Weise, daß die englische Aufgabe erschwert wird, so stört es dadurch die Kreise der englischen Politik empfindlich und riskiert den Sturz in eine Isolierung, deren trostlose Eintönigkeit nur durch den Hohn der Moskauer hin und wieder freundlich belebt wird. Das neue Deutschland und das neue Rußland haben bisher wenig Berührungspunkte miteinander gehabt. Der Leiter der Innenpolitik, Herr v. Seeckt, hat die Kommunistische Partei verboten. Herr Dr. Stresemann, der Leiter der Außenpolitik, aber techtelmechtelt mit der Regierung, deren Propagandaabteilung Herrn v. Seeckt den Anlaß zum Einschreiten gegeben hat. Es geht eben nichts über eine einheitliche Linie. Eine Möglichkeit nur gibt es: Deutschland und Rußland müssen beide in den Völkerbund. Wenn unser Außenministerium schon zu wissen glaubt, bestimmenden Einfluß auf die Entschlüsse der russischen Diplomatie zu haben, dann sollte es in diesem Sinne wirken. Die heutige Haltung ist völlig absurd und widerspricht den Interessen Deutschlands, ohne auch Rußland irgendwie zu nützen.

Deutschlands Schicksalsweg führt nach Genf. Bald vielleicht wird die Stunde kommen, wo das wird ausgesprochen werden müssen. Wenn wir eine Außenpolitik hätten, würde sie alles tun, um diesen Weg zu erleichtern und zu beschleunigen. Aber wir haben keine Außenpolitik. Zwischen Furcht und Hoffnung pendelt das hurtige Improvisationstalent Herrn Stresemanns. An dem Silberstreifen am Horizont, den sein frohes Auge entdeckte, ist er völlig unschuldig. Herr Stresemann kann gut und ausdauernd reden. Aber der Rest ist Schweigen.

Berliner Volks-Zeitung, 29. Februar 1924

452.

Lossow

Die Sünde gegen das Reich

Die Zeugenaussage des Generals Lossow bot im bisherigen Verlauf des Münchener Prozesses ohne Zweifel die interessantesten Momente. Denn dieser General ist, obgleich er es lebhaft bestritt, in erster Linie Politiker. Seine Rede war ohne Zweifel vorzüglich pointiert und von höchster Wirkung immer dann, wenn er sich der Anklagebank zuwandte und die Herrschaften mit wenigen aber höchst treffenden Worten charakterisierte. Nach den aufgeregten Expektorationen Hitlers, dem langweiligen und verlogenen Gallimathias Ludendorffs, ein Mann von kühlem Intellekt, der sich nicht in Nebensachen verliert, sondern den Kern der Sache eindeutig herausschält.

Alles, was Lossow über die Angeklagten sagte, war von einer erbarmungslosen Richtigkeit. Weniger befriedigend war, was er zur Interpretation seiner eigenen Haltung vorbrachte. Es bleibt bestehen, daß der von ihm frivol heraufbeschworene Konflikt mit »Berlin« den Kampfverbänden und ihren Führern erst den entscheidenden Anstoß gegeben hat. Neben dieser Tatsache wird es fast gleichgültig, ob er in diskreten Unterredungen den Führern der Putschisten nun etwa noch besondere Avancen gemacht hat oder nicht. Hitler bestand auf dem »Marsch nach Berlin«, Lossow wollte nur den »Druck auf Berlin« zur Beschleunigung der Direktoriumspläne. Was stellte Lossow sich unter dem »Druck« auf Berlin vor, angesichts der Tatsache, daß an der bayerisch-thüringischen Grenze die Guerilleros der Verbände in Massen aufmarschiert waren? Wäre Lossow noch Herr der Situation gewesen nach dem Losgehen des ersten Schusses? Es ist nicht sein Verdienst, daß die Bombe schließlich nicht im Coburgischen platzte, sondern in München.

Ein Kapitel für sich bilden die Konferenzen über das Direktorium. Lossow hat lediglich ausgesagt, mit den Herren Minoux und Admiral Scheer, die beide Anhänger dieser Pläne waren, darüber gesprochen zu haben. Welcher Mittel man sich bedienen wollte und wer mit von der Partie war, darüber schweigt der General. Selbstverständlich müßte das Gericht die beiden Herren sofort als Zeugen laden. Besser noch, der Oberreichsanwalt müßte an dieser Stelle einhaken. Denn hier wenigstens handelt es sich um das Reich und nicht um Bayern allein.

Lossow fand seinen packendsten Ausdruck in der Erklärung über die Schießerei an der Feldherrnhalle. Den Feuerbefehl, so führte er aus, hat nicht der General Lossow gegeben, sondern der Staat. »Der Staat hat befohlen, wer gegen die Autorität des Staates zu Tode marschieren will, der wird militärisch zur Vernunft bekehrt und wenn Blut dabei fließt.« Wenn das richtig ist, dann hat Lossow über sich selbst den Stab gebrochen. »Der Staat und der Staatsgedanke sind dabei geschädigt worden, und der Staat Bayern wird lange Zeit brauchen, bis er sich von dem ihm hier zugefügten Schaden erholt hat.« Vorzüglich gesagt! Aber gibt es nicht außer dem bayerischen Staat ein größeres deutsches Vaterland, dessen Majestät seit drei Jahren ununterbrochen verletzt worden ist durch das Treiben der bayerischen Verschwörercliquen, ob sie nun auf Ludendorff hörten oder auf Kahr?

Lossow betont, durch sein Verhalten während der Bierkellerrevolution Deutschland vor unermeßlichem Schaden bewahrt zu haben. Und Kahr wird heute sicherlich das gleiche sagen. Aber das Verdienst einer Stunde löscht nicht das Verbrechen von Jahren aus. Und darüber kann nicht das putzige Münchener Gericht urteilen. Ganz Deutschland muß das Tribunal bilden über sie alle, die wider das Reich sich vergangen haben: Lossow, Hitler, Ludendorff, Kahr ...

Berliner Volks-Zeitung, 11. März 1924

453.

Kant und die Sträflinge

In einer soeben bei Georg Stielke erschienenen Sammlung von Kant-Anekdoten – die Auswahl hat mit freundlichem Verständnis Kurt Joachim Grau besorgt – wird die folgende nachdenkliche Geschichte erzählt:

»Kant wechselte sehr häufig seine Wohnungen, weil er sich überall durch den herrschenden Lärm beschwert fühlte. Zuletzt kaufte er sich in einer ziemlich geräuschlosen Gegend der Stadt, nahe dem Schloß, ein Haus mit einem kleinen Garten, wo er ganz nach seinen Wünschen leben konnte. Nur das Singen der Insassen eines unweit davon liegenden Gefängnisses störte ihn auch hier noch oft bei der Arbeit. Er beschwerte sich bei der Polizei über diesen ›Unfug‹, wie er sich ausdrückte, und erreichte auch glücklich, daß die Gefangenen angehalten wurden, nur bei verschlossenen Fenstern ihrer Sangeslust stattzugeben.«

Es gibt eine andere und bösere Lesart dieser Geschichte: Kant habe von der Polizei gefordert, den Sträflingen solle das Singen überhaupt verboten werden, und die Polizei habe der Beschwerde tatsächlich nachgegeben und den armen Teufeln das Singen untersagt, damit die Ruhe des Herrn Professors nicht gestört werde.

Ein talentierter Pamphletist hat in einer etwas gehässig geratenen Analyse der »deutschen Mentalität« diese Anekdote aufgegriffen und behauptet, Kant habe, wie alle bedeutenden Repräsentanten des Deutschtums, kein Herz für die Kreatur gehabt; dem Verfasser der Schrift vom ewigen Frieden habe der Sinn für Humanität gefehlt. So lieblos kann einer werden, der dem andern Mangel an Liebe vorwirft.

Mißverstanden ist in dieser Veräußerlichung, in dieser beabsichtigt tendenziösen Zuspitzung die tiefere, fast bizarre Symbolik des Vorganges: die Einsamen, die den Einsamen stören. Die Männer im Gefängnis gröhlen ihr Leid in die Welt hinaus; der Einsiedler in dem bescheidenen Haus am Schloß aber bildet aus seinem Leid eine unerhörte Melodie. Die Gassenhauer der Sträflinge verhallen in der Nacht, aber das Lied des Immanuel Kant wird für ewige Zeiten Finsternisse durchdringen und die Nacht besiegen.

Man erzählt von Gustav Mahler, daß er in ländlicher Zurückgezogenheit, die er gesucht hatte, um in Stille eine Symphonie zu vollenden, fast zu Tode gequält wurde durch die Konkurrenz der – Singvögel, die sich in der Gegend in seltener Anzahl zusammengefunden hatten. Die Freunde sahen, wie der Meister immer tiefer in seelische Überreiztheit hineingeriet und beschlossen, ihn von dieser geräuschvollen Plage zu befreien. Und so veranstalteten sie eines Morgens unter den Tierchen eine gewaltige Metzelei. Als der Meister zur Arbeit ging, um sein Herzblut zu verströmen, da hatte das Blut der kleinen Vögel schon den Rasen ringsum gerötet.

Die vielen kleinen Lieder müssen dem einen großen weichen. Der Weg zum Werke gleicht immer dem Marsch einer Armee. Zurück bleiben Trümmerstätten und zertretene Freuden. Aber auch das Singen bleibt immer. Und darauf kommt es an.

Das Tage-Buch, 12. April 1924

454.

Wir und die alten Parteien

Zur diesmaligen Wahl treten mehr Parteien an als sonst. Zwar werden es nicht so viele sein, wie Fama angesagt, aber noch immer genug. In den »großen« Parteien hat man seine Witze gemacht über dies Überangebot, aber leider vergessen, die sehr greifbare Nutzanwendung daraus zu ziehen: daß nämlich diese neuen Parteigruppen nur die natürliche Folge der unerfüllt gebliebenen Wahlversprechungen von 1920 sind. Das erhellt am besten die Tatsache, daß hauptsächlich aus den Kreisen der Arbeitnehmer und des durch die Inflation verwüsteten Mittelstandes diesen Neubildungen ihre Anhängerschaft zufließt. Schließlich hat das Gros dieser Leute schon einmal gewählt, schon einmal einer Partei angehört. Wenn man aber die Bulletins der Parteikanzleien in der Lindenstraße und der Bernburger Straße liest, dann muß man den Eindruck gewinnen, als handelte es sich hier nicht um Bürger dieser freundlichen Welt, sondern um lästige Zugereiste aus irgendeiner extramondänen Sphäre. Weil vier Parteien nicht verstanden haben, den primitivsten politischen und wirtschaftlichen Wünschen gerecht zu werden, deshalb treten heute zwanzig Parteien auf den Plan. Und die Zahl der neuen Parteien wird wachsen mit den Quadraten des Versagens der alten.

Die Republikanische Partei unterscheidet sich von allen diesen Gründungen dadurch, daß sie nicht auf die Depression einzelner besonders mitgenommener Berufsgruppen spekuliert. Sie verspricht keine Paradiese. Sie weiß, daß die Wiederherstellung der in Krämpfen zuckenden deutschen Wirtschaft nur auf Grund eines sinnvollen und umfassenden Planes vor sich gehen kann, daß dazu aber in erster Linie ganz große politische Gesichtspunkte nötig sind. Aber die alten Parteien betrachteten als Grundlage bisher niemals die wirklichen Lebensnotwendigkeiten des ganzen Volkes, sondern immer nur das Krähwinkel-Niveau der Einzelinteressen. Die Republikanische Partei betont mit Macht: die Gesundung kommt nur aus dem Geiste einer weiten und gutfundierten Politik und nicht aus dem Geiste des Industriebureaus und des Gewerkschaftssekretariats. So kämpft die Partei für ein neues politisches Leben, für die Wiedererweckung des verloren gegangenen Glaubens an die Mittel der Politik, gegen die Indifferenz, gegen den Nihilismus der von den Parteien enttäuschten Massen.

Wir wissen, daß wir unbequem sind. Wir wissen aber auch, daß unsere Parole verstanden wird. Von vielen sogar, die uns heute mehr mit dem Herzen zustimmen als mit dem Kopfe. Noch sind wir eine neue Erscheinung, noch müssen wir rechnen mit der Trägheit der deutschen Staatsbürger in allen Dingen, die Entschlußfreudigkeit heischen. Wir greifen unsere Gegner schonungslos an und erwarten keine Schonung. Aber was wir fordern, das ist, daß dort, wo man uns bekämpft, man nicht die allerdümmsten und allerältesten Phrasen in Gruppenkolonne aufmarschieren läßt.

Wir Republikaner sollen Zersplitterer sein, so jammern die Demokraten und Sozialdemokraten. Man konzediert uns gute Absichten und nützliche Ideen, aber in der Praxis laufe unsere Aktion darauf hinaus, in diesem Entscheidungskampfe zwischen Links und Rechts der Linken wertvolle Kräfte zu verzetteln. Vielleicht, so sagt man, wird es von zwei, drei demokratischen Mandaten abhängen, ob im kommenden Reichstag eine bürgerlich-sozialdemokratische Koalition regieren wird oder der Bürgerblock. Und diese zwei, drei demokratischen Mandate könne unsere Partei, ohne selbst einen Erfolg zu erringen, sehr leicht gefährden. Glaubt denn wirklich ein verständiger Mensch, daß bei einer so geringen Mehrheit der Linken der Bürgerblock etwa nicht zustande käme? Zwei, drei Mandate sollen eventuell den Ausschlag geben?! Ausgezeichnet! Aber zweifelt auch nur einer daran, daß trotz eines Vorsprunges von drei Mandaten die Herren Koch, Geßler und von Siemens sich nicht jederzeit für den Bürgerblock entscheiden würden?

Man kann einem großen Problem nicht mit arithmetischen Spitzfindigkeiten beikommen. Die eine Gefahr kommt von rechts. Die andere aber steckt in den Verfassungsparteien selbst: – die Zaghaftigkeit, die Kompromißsucht, der Mangel an republikanischer Bekenntnistreue. Die Links- und Mittelparteien hatten im vergangenen Reichstag die Mehrheit, und sie haben die Republik so ziemlich verspielt. Diese Parteien aber präsentieren heute nichtsdestoweniger die gleichen Männer und die gleichen Methoden. Nichts gelernt und alles vergessen, so rücken sie in den Wahlkampf, eine Armee, die mit ledernen Kartaunen gegen moderne Artillerie kämpft. Es handelt sich für uns nicht darum, wie stark die Linke in den Reichstag kommt, sondern wie diese Linke schließlich aussieht. Ehrliche Unterstützung jedem mutigen und aufrechten Republikaner, das beherzigt die Republikanische Partei als Selbstverständlichkeit, aber für diese schwammigen, verfetteten und frühzeitig verfallenen Parteileiber gibt es nur noch eine Therapie: – das Fegefeuer!

Sie müssen durch. Es hilft nichts!

Die Nation, 26. April 1924

455.

Hitler als Erzieher

Was die deutsche Republik von ihren Gegnern lernen kann...

Herr Esser, Hitlers Adlatus, hat in München in einer Rede die Befreiung seines Herrn und Meisters gefordert und dabei gesagt: »Wir fordern von unsern Abgeordneten, daß ihre parlamentarische Tätigkeit nur im Auf- und Zuschlagen der Pultdeckel und im Blasen von Trillerpfeifen bestehen darf, bis Hitler wieder frei ist«.

Demokratische Blätter jammern über diese Aufforderung zur Sabotage und knüpfen daran eine nicht gerade kurzweilige Vorlesung über den Ernst parlamentarischer Pflichten usw. Dabei könnten aber gerade die demokratischen Parteien und ihre Organe ein wenig lernen von dieser stoßkräftigen Art des Vorgehens ihrer Gegner. Die Rechtsradikalen haben gewiß ein großes Mundwerk und renommieren gern, aber wenn sie etwas wollen, dann rollen sie auch. Dann tun sie etwas und beschränken sich nicht auf rhetorische Kunststücke und moralinsaure Argumentationen.

Adolf Hitlers Strafe ist eine reine Galanterie-Strafe, ein juristisch getünchter Erholungsurlaub. Und doch zetern seine Leute, als wäre hier seit der Kreuzigung Christi das größte Justizverbrechen geschehen.

Ob sie nicht unter sich ein Augurenlächeln austauschen, bleibe dahingestellt. Aber sie wissen, wenn sie schreien und immer wieder schreien, dann wird es schließlich doch in die taubsten Ohren dringen.

Aber Fechenbach sitzt weiter im Zuchthause, Toller wird in Niederschönenfeld weiter gequält, und Zeigner zappelt im Netz der reputierlichen Bürger, die die Rettung der Ordnung in nicht ungeschickter Weise mit einem kleinen politischen Racheakt zu verbinden wußten.

Hinter Hitler steht letzten Endes ein Bäckerdutzend, hinter diesen drei Männern stehen große Parteien, – oder sollten wenigstens stehen. Aber diese Parteien haben ihre Pflicht getan. Sie haben protestiert, sie seufzen erleichtert auf und wenden sich Dingen zu aktuellerer Art und mehr Wahlprofit versprechend.

Und deshalb wird Hitler bald wieder mitten unter seinen Freunden weilen. Und deshalb werden Fechenbach und Zeigner ihre Strafe bis zum letzten Tage verbüßen, falls nicht das Schicksal einen gütigeren Ausweg wählt.

Adolf Hitler hat in einem etwas propagandistisch wirkenden Anfall von Selbsterkenntnis gesagt, daß er kein Führer sei, sondern nur ein Trommler. Große Erkenntnisse hat er auch den Seinen wirklich nicht auf den Weg zu geben. Aber das Trommeln, ja, das Trommeln, das haben sie von ihm gelernt.

Montag Morgen, 28. April 1924

456.

Rudolf Breitscheid, der Edelbonze

Das Bild eines »führenden Sozialisten«

Hellmut v. Gerlach hat in letzter Zeit unter Anwendung seiner ganzen bedeutsamen dialektischen Kunst aufgefordert, am 4. Mai sozialdemokratisch zu wählen. Darüber wird sich niemand mehr gewundert haben als die Sozialdemokratie selbst, in ihrem schärfsten und intelligentesten Kritiker einen so warmen Fürsprecher gefunden zu haben. Niemand auf der bürgerlichen Linken hat unerbitterlicher an der Vervollständigung der Sündenregister der SPD gearbeitet, Montag für Montag. Und die Gründer der Republikanischen Partei, das sei hier doch aus der Schule geplaudert, sind in ihrer Auffassung, daß die Partei der Wels und Zubeil irreparabel sei, nicht zum wenigsten durch die Artikel Gerlachs bestärkt worden. Ein bemerkenswerter Fall immerhin, daß heute der Führer der Pazifisten seine Getreuen auffordert, mit den gleichen Sozialdemokraten in Allianz zu treten, die er so oft mit wahrhaft wissenschaftlicher Gründlichkeit analysiert hat. Eine seltsame Koalition ist da im Entstehen, die Pazifisten, die » bürgerlichen Pazifisten«, oft abgelehnt und grausam verhöhnt von der Partei, rüsten sich, deren wackeligen Karren durch den Wahlkampf zu ziehen. Warten wir ab, ob diese mittelgroße Koalition divergierender Elemente den etwas improvisierten Liebesakt vom 4. Mai überlebt, wenn wir auch der Sozialdemokratie, der ihre letzten Koalitionsbeilager verteufelt schlecht bekommen sind, von ganzem Herzen diese unerwarteten Zärtlichkeiten gönnen. Wir fürchten nur, daß die Tristitia diesmal bei den Pazifisten sein wird. Wir fürchten es um so mehr, da über dem Brautbett der lange Schatten Rudolf Breitscheids ruht.

Es scheint so, daß Hellmut v. Gerlach, dieser gütige, oft betrogene Mensch auch diesmal wieder das Opfer seines einstigen Parteifreundes Breitscheid geworden ist. Ein skurriler Gedanke, Gerlach macht die Wahl für den Mann, der seine Schöpfung, die Demokratische Vereinigung ruiniert hat, dazu verlassen hat in dem Augenblick, wo es sich zeigte, daß auf dieser Plattform kein Mandat zu erobern war. Gerlach fungiert, mit Bewußtsein oder nicht, das ist gleichgültig, als Einpeitscher für einen Mann der nicht wert ist, ihm die Schuhriemen zu lösen.

In der Geschichte des Verfalles der Sozialdemokratie nimmt das Kapitel Breitscheid einen ganz besonderen Platz ein. Wir müssen uns mit dieser Persönlichkeit befassen, denn Rudolf Breitscheid ist für viele, auch von uns, eine Hoffnung gewesen, und ist es heute noch für einige. Beweis: Gerlach.

Rudolf Breitscheid hat es immer vorzüglich verstanden, als der Mann mit dem Nimbus der kommenden großen Mission zu gelten. Für die einen ist er der kommende Außenminister, für die andern der kommende große Parteireformator, der nur auf seine Stunde wartet, um dann schon alles ins Lot zu bringen. Aber Rudolf Breitscheid ist weder das eine noch das andere. Unwillkürlich glaubt man bei ihm an eine große Zukunft; vielleicht nur deshalb, weil seine Vergangenheit so ausgedehnt ist. Leider ist Breitscheid völlig zukunftslos. Er ist weder der Mann der Tat, noch der Mann des Gedankens; er ist überhaupt kein Mann, er ist ein Meter achtzig auf Seidenfutter gearbeitet.

Eines muß zugegeben werden: er wirkt immerhin farbig neben der trostlosen Öde der VSPD-Bonzenschaft. Eine ondulierte Seele zwischen ungekämmten oder glatzköpfigen Gemütsleben. Zwischen Jägerhemden und Wellblechkragen eine gepflegte Erscheinung. Zwischen Parteimuftis und Bezirkspopen unbestreitbar der Edelbonze. Er ist ein vorzüglicher Redner. Man kann ihm stundenlang zuhören. Gelegentlich ärgert die gleichmäßig suffisante Miene, die blasierte Pose. Aber dann überrascht eine treffende Ironie, ein ungewöhnliches Bild. Nur wenn er feierlich wird, wenn er Gesinnung aufzutragen beginnt, dann intoniert ein unsichtbares Grammophon: »Wenn die alten Eichen rauschen ...«

Es ist leider irrig, von einem ungewöhnlichen Redner eine ungewöhnliche Politik zu verlangen. Herr Breitscheid, auf den viele hofften, hat mit dem Schlendrian der Sozialdemokratie seinen Frieden gemacht. Wäre das alles, man könnte die Akten schließen. Ja, wenn die Oppositionsspielerei nicht wäre, nicht diese überhebliche Geste: »Ich weiß es besser, wartet nur ...« Das Geheimnis Breitscheids: So zu scheinen, als stünde er zu allen Dingen eben anders und mache er nur gezwungen mit. Aber er macht eben mit und wird immer mitmachen. Und alle Worte, ob pathetisch, ob ironisch, ob süß oder bitter, sie können nicht darüber hinwegtäuschen: die Grundlage dieses Politikers ist ein nicht alltägliches Phlegma, das allerdings beansprucht, für geistige Überlegenheit genommen zu werden. Ein Flaneur von müder Eleganz, dieser ewig »kommende Mann«, der äußerlich so viel Wert darauf legt, von den Bonzen abzustechen und doch, wenn die Stunde zum Handeln gekommen ist, stets resigniert und mit melancholischem Augenaufschlag dahin geht, wohin der Bonzenweg führt. Wenn ein Parlamentarier reif ist zur Pensionierung, so ist es Rudolf Breitscheid. Warum Herr v. Gerlach seinen ganzen Einfluß aufbietet, um gerade diesen beklagenswerten Invaliden von neuem den rauhen Winden des öffentlichen Lebens auszusetzen, bleibt schlechterdings unerfindlich. Oder sollte er ihn doch besser kennen?

Die Nation, 3. Mai 1924

457.

D'Annunzio stiftet ein Denkmal

Eine dürre Zeitungsnotiz berichtet, Gabriele d'Annunzio lasse in London seine sämtlichen Manuskripte versteigern, um von dem Erlös der Duse ein Denkmal zu errichten. Die Gabe eines Dichterfürsten, nicht wahr? Die Gabe eines Herzogs von Mussolinis Gnaden! Eine Gabe, so großartig, daß die Kulturwelt, wenn es so etwas gäbe, leidenschaftlich Verwahrung einlegen müßte. Aber man echauffiert sich heute nicht mehr so leicht. Was bedeutet neben Millionen geschändeter Menschenleiber ein geschändetes Grab? Vielleicht meint es Herr d'Annunzio auch nicht so ernst, vielleicht ist es ihm nur um das bißchen Reklame zu tun. Aber Herr d'Anunnzio ist ein Meister der Reklame. Er bleibt da nicht auf halbem Wege stehen. Er wird sich nicht damit begnügen, die Lebende von der Höhe ihrer Kunst in die Grabkammer der kalten fressenden Verzweiflung gestoßen zu haben, der Toten noch läßt er ein Denkmal setzen, damit es Zeugnis ablege für seinen Ruhm. Denn sie kann sich ja nicht wehren. Sie konnte sich niemals wehren.

Und so wird dieses Standbild aus dem Erlös der Manuskripte des Göttlichen auf ihrer Grabplatte lasten, ein drückender Alb; eine Vision des Lebens, wo es am schlimmsten war, wird sie verfolgen in die Ruhe des Todes hinein. So wird dieses Standbild aufragen wie ein geiler Triumph des Männchens, seinem Kitzel die herrlichste Frau unserer Zeit geopfert zu haben. Er aber wird generös sein, er wird zur Enthüllung eigens eine Ode verfassen. Er wird in irgendeiner Phantasieuniform im hellen Tageslicht vorbeispazieren – und aus seinen Augen wird das dreiste Siegesbewußtsein leuchten: Sie starb um mich!

Aber ob der Held des »Fuoco« auch wagen wird, in nächtlicher Stunde in dieses steinerne Antlitz zu blicken? Ach, Herr d'Annunzio ist vorsichtig. Er wird sich hüten, Tote zum Souper einzuladen. Sie sind zwar nicht durch die Bank so magistral, so steif-feierlich, so bösartig vom point d'honneur besessen wie der Herr Comthur. Aber Tote machen nicht so viele Worte, sie sind so grenzenlos sachlich. Oder, d'Annunzio, bringen Sie den Mut auf zu Ihrem melodischen Lyrismus, wenn die Verwesung an Ihrem Schreibtisch lehnt?

Doch Sie können ganz beruhigt sein. Die große Komödiantin hat zu einer Rolle kein Talent: zum Gespenst. Und wollten Sie sie tausendmal zitieren, Eleonore Duse würde nicht kommen, sondern lächeln, unendlich tragisch lächeln über den Irrtum ihres Lebens, Leporello für den Edelmann gehalten zu haben.

Montag Morgen, 12. Mai 1924

458.

Rathenau und Matteotti

Am 24. Juni tritt der Reichstag zusammen. Am Tage der Ermordung Rathenaus. Wird der deutschnationale Reichstagspräsident ein paar Worte des Gedenkens finden? Wie sollte er. Richtete sich nicht damals vor zwei Jahren der Volkszorn gegen seine Partei? Nein, der Reichstagspräsident dürfte wenig Neigung verspüren, den Mann zu feiern, dessen Tod zur erschütterndsten Anklage gegen die Agitationsmethoden der Reaktion wurde.

Und der Reichstag selbst? Wird sich auch nur ein einziger Linksmann finden, der erinnert, daß an diesem Tage das Blut des größten und geistigsten Menschen der deutschen Republik vergossen wurde? Wenn es einer täte, der Herr Präsident würde sofort unwirsch bemerken, Walter Rathenau stehe nicht auf der Tagesordnung. Walter Rathenau hat niemals auf der Tagesordnung der deutschen Politik gestanden.

Zwei Jahre sind seit dem Mordtage erst verflossen. Und doch muten heute jene Geschehnisse um den 24. Juni herum wie Märchen aus grauer Vorzeit an. Der Schmerz und Zorn des republikanischen Volkes – es gab damals ein republikanisches Volk! –, die Hunderttausende unter den schwarzrotgoldenen Fahnen auf der Straße, das mächtige »J'accuse« des Kanzlers Wirth gegen die Mordpartei.

In diesen Tagen ist das faszistische Italien im Innersten aufgewühlt worden durch die feige Mordtat an dem sozialistischen Führer Matteotti. Der Verdacht hatte sich sofort gegen Granden der absolut herrschenden Partei gerichtet. Man tuschelte Namen. Die Polizei machte Anstalten, den Fall à la bavaroise zu behandeln. Da brach ungeheuer elementar die Erregung des Volkes aus. Anderthalb Jahre Faszismus mit seinen Karnevalsaufzügen, Fahnenweihen und Paraden haben das sittliche Bewußtsein eines Volkes nicht verschütten können, das kindlich unbefangen in den Tag hineinlebt und dessen Zahl an Analphabeten der deutsche Bildungsphilister rügend vermerkt. Es knisterte plötzlich im Gebälk des turmhohen Parteigerüstes. Gewalttaten hatte der fascismo ein gerütteltes Maß verübt. Aber das ging über die täglichen Rizinusattentate hinaus. Die Omnipotenz des Diktators stand in Frage. Die Universitäten hielten Trauerfeiern ab. Die Gerichte schlossen für einen Tag. Massendemonstrationen häuften sich. Zeitungen, deren Direktoren kompromittiert waren, stellten ihr Erscheinen ein. Die Phalanx der anständigen Menschen erwies sich stärker als der eiserne Ring der Diktatur. Mussolini mußte der allgemeinen Empörung Opfer hinwerfen. Und er begann aufzuräumen. Schreckte auch vor den Würdenträgern in seiner nächsten Umgebung nicht zurück. Größen der Partei wurden verhaftet, der Polizeipräsident wurde in die Wüste geschickt, und endlich, das wichtigste, das Kabinett umgebildet. Aus einem politischen Mord erwächst dem Lande unverhofft ein politischer Kurswechsel.

Man kann das, vielleicht, mit Skepsis betrachten. Möglich, daß Mussolini zunächst nur Ellbogenfreiheit gewinnen will, daß er nicht wagt, selbst mit seinen großen Mitteln gegen ein spontanes Massenempfinden anzuregieren. Aber selbst wenn das Konkordat des modernen Bonaparte mit der Demokratie nur eine Geste bedeutet, – es bleibt der Eindruck, daß diese Geste die erzwungene war.

Mussolinis Italien ist einigermaßen abgehärtet, aber nicht abgestumpft. Es weiß, daß alle Duldsamkeit dann eine Grenze findet, wenn der Zusammenhang der Nation mit dem Weltgewissen bedroht ist. Dieses Band zwischen Deutschland und der Welt ist zerrissen. Das ist die Tragödie Deutschlands, daß es nicht die Ursache seiner Isolierung begreifen kann. Man empfindet dunkel die große Barriere um das Land, aber man denkt dann an Friedensvertrag, die Schuldlüge und feindliche Propaganda. Man weiß nicht, wie gründlich man sich wieder einmal selbst ausgekreist hat.

In Italien wird ein Wortführer der Opposition, Anhänger also einer zahlenmäßig nicht gerade bedeutsamen Macht, Opfer eines Anschlages, geschmiedet in den Bezirken der allgewaltigen Regierungspartei. Die Folge ist nicht nur strenge Untersuchung des Falles, sondern unerbittliches Zugreifen und in der Erkenntnis, daß es nicht allein darum geht, ein paar Verschwörer dingfest zu machen, sondern das System zu wandeln, in dem solche Taten reifen, gründliche Änderung der ganzen politischen Basis.

In Deutschland ist kein Oppositioneller, sondern ein Mitglied der Regierung ermordet worden. Die Folge war nicht unbedingte Abwehrstellung des Staates gegen eine Opposition, die mit Meuchelmord arbeitet, sondern nach kurzem Aufschwung immer größere Nachgiebigkeit, immer wichtigere Konzessionen an die Mentalität, der die Untat entstieg. Niemand dachte daran, resolut den Pestherd auszubrennen. Heute, nach zwei Jahren, beantragt die Partei des Außenministers die Abschaffung der schwarz-rot-goldenen Reichsfarben. Wer weiß heute noch, daß die gegen Rathenau geschleuderte Handgranate ein schwarz-weiß-rotes Band trug? Und wer es weiß, will es vergessen. In Italien entzieht sich der Staat der Mordatmosphäre. In Deutschland verfällt der Staat immer mehr der Infektion durch jenes Gift und wendet sich mit aller Härte gegen diejenigen, die den Kampf gegen die Mordseuche aufnehmen.

Deutschland steht allein in der Welt und wundert sich darüber! Und die schwachen Brücken zu Macdonald oder Herriot werden nachts von dummen Jungen, die sich für national halten, demoliert.

So wird niemand des gemordeten Rathenaus im Reichstag gedenken. Es wird ein parlamentarischer Alltag sein wie jeder andere. Aber über den Häuptern der behäbigen Handwerker des Parlamentarismus wird ein grauenhafter Zug von Schatten dahinziehen: – die Toten der Republik!

Der 24. Juni sollte zum Bußtag der deutschen Politiker werden.

Montag Morgen. 23. Juni 1924

459.

Rudolf Hilferding

Der Mann ohne Schatten

Stefan Großmann hat in seiner Betrachtung über den Berliner Kongreß der deutschen Sozialdemokratie auch die Gestalt Rudolf Hilferdings einer eingehenden Bewertung unterzogen und ihn das geistige Haupt der Partei genannt. Ja, er ist sicherlich ihr geistiges Haupt, so wie Paul Löbe ihr Arm sein könnte, während die Wels und Crispien unbestritten die beiden Hemigloben des Gesäßes repräsentieren. Erwägt man aber die Relationen zwischen Führer und Gefolgschaft, berücksichtigt man insbesondere den heutigen Stand der Sozialdemokratie überhaupt, so ergibt sich ganz zwangsläufig die Frage, ob der klügste Mann der Partei auch deren geeignetster Führer ist und weiter, ob nicht sein geistiger Vorsprung nur möglich wird durch die Beschaffenheit der andern.

Hilferding bringt ein geschultes Hirn mit und Blick für politische Möglichkeiten. Schade, daß die grauköpfig gewordene Partei es sich sowieso schon längst abgewöhnt hat, von Unmöglichkeiten zu träumen. Sie ist ja schon so lange auf die »Politik des Möglichen« eingeschworen und hat ihr eine Position nach der andern geopfert. Nein, Hilferding, der Kunktator, hat der Partei von heute nicht mehr viel zu geben.

Übrigens hat dieser prädestinierte Mahner und Bremser einmal eine klassische Gelegenheit versäumt zur Auswirkung seiner allerpersönlichsten Begabung. Das war in der alten Unabhängigen Sozialdemokratie, als der Moskauer Sturmwind die Partei völlig ins Lager der Sowjetgläubigen fortzutreiben drohte. Damals wäre es Pflicht der Besserwissenden gewesen, dem törichten Diktaturgerede mannhaft offen entgegenzutreten. Hilferding, nicht anders wie Breitscheid, sprach das befreiende Wort nicht. Die Beiden schwammen mit, etwas verdrossen, etwas hochnäsig, aber sie schwammen eben. Erst als Moskau unbedingte Unterwerfung forderte und mit höhnischer Siegergeste dem rechten Flügel die Tür wies, da fand Hilferding endlich die Sprache, die er ein Jahr früher hätte finden müssen. Hätte er die starke und rücksichtslose Opposition von 1919 und 1920 mit dem gleichen Kraftaufwand bekämpft wie die lendenlahme und ungefährliche Opposition von 1924, vielleicht wäre dem deutschen Sozialismus von dem Passionsweg der letzten Jahre einiges erspart geblieben.

Ein Versagen in historischer Stunde. Denn Rudolf Hilferding ist kein Mann der Initiative, sondern der Reflexion. Einer der unechten Lassalle-Jünger, die das sagen, was ist, wenn es eigentlich schon jeder weiß und wenn es nicht mehr mit einem Risiko verknüpft ist. Daß er trotzdem zum Parteiorakel avancierte und auch außerhalb der Partei einen nicht geringen Ruf genießt, verdankt er der sehr aparten Form, die er jedesmal findet, verdankt er nicht zuletzt dem metallenen Glanz von Wissenschaftlichkeit, den er seinen späten Wahrheiten stets zu geben weiß. Er verfügt in hohem Maße über die kühle, scharfe Dialektik des modernen Ökonomisten. Er vertritt darin in Reinkultur die für die gegenwärtige Epoche so ungemein typische Überheblichkeit einer bestimmten Abart der Wirtschaftspublizistik, die sich auf dem besten Wege befindet, in Besserwisserei, Schulmeisterei und Wissensdünkel die Rechtsnachfolge des langsam mythisch werdenden Philologen anzutreten. Hilferding hat ein sehr großes Wissen, aber es wird nicht fruchtbar am lebenden Menschen, es erstarrt im Kalkül, es wird nicht zur Weisheit. Und wird auch nicht mobil zur politischen Aktion.

Es ist eine eisige Barriere um ihn. Eine Zone, in der das Gefühl schweigt. Seine Rede ist die des Mannes, der sich nur mit den großen Linien abgibt und sich um Kleinigkeiten nicht kümmert. Er bleibt immer der gelehrte Marxist, systemgläubig, mathematisch exakt, aber immer ohne das Wesentliche des führenden Menschen, ohne den Funken, ohne die Witterung des Irrationalen hinter den Dingen, ohne die Ahnung gerade des echten politischen Logikers, daß das Irreguläre des Lebens den Schlüssen der Logik gelegentlich ein freches ironisches Schnörkelchen anzuhängen beliebt. Denn wirklich groß war immer nur der Politiker, der es verstanden hat, hin und wieder verteufelt unlogisch zu handeln. Und Führer ist nur, wer einmal seinen ganzen Wissenskram vergessen kann. Schnurgerades Denken ist schätzbar, schätzbarer der Instinkt.

Kein Herz, keine Faust. Ein Kopf. Aber der Kopf einer Partei, die immerhin keine erschütternden Ansprüche mehr stellt. Die sich endgültig auf ein gemächliches Tempo eingerichtet hat. Und sich, etwas parvenuhaft, ein bißchen Intellektualität als Fassadenschmuck leistet. Wäre Hilferding ein problematisch flackerndes Ingenium, die Partei würde auf diesen Luxus dankend verzichten.

Führer sein, das heißt auch: Fähigkeit zur Wärme, zum Mitleiden. Hilferding hält Distanz. Auf dem Parteitag herrscht er einen harmlosen Zwischenrufer an: »Schweigen Sie!« Das Haupt einer Arbeiterpartei soll gewiß nicht tränenselig schwafeln und nicht demagogisch allen und jeden Radikalismen nichtssagende Komplimente machen. Aber diese wahrhaft ludendorffische Abfertigung zeugt von innerem Hochmut und selbstgerechter Verhärtung und belegt nur neu das freundliche Wort Lichtenbergs, daß man in Deutschland das Nasenrümpfen eher lernt als das Nasenputzen.

Friedrich verlangte von seinen Generalen »Fortune«. Die französische Revolution schnitt ihren geschlagenen Feldherren den Kopf ab. Um Rudolf Hilferding ist nicht das Flügelrauschen der Siegesgöttin. Die Sozialdemokratie als moralische Anstalt stempelt Gott sei Dank persönliches Malheur nicht zum Verbrechen. Und Hilferding blickt auf einen ausgedehnten Gottesacker beerdigter Unternehmungen zurück. An wieviel sichtbaren Stellen hat er nicht gestanden! Und wieviel ist von alledem geblieben? Seine einstige Tätigkeit im »Vorwärts« ist vergessen. (Eisner, der »Ästhet«, der als Phantast Verlachte, ist unvergessen.) Er ist Leiter der »Freiheit« gewesen in einer Zeit, da der »Vorwärts«, an die Noske-Politik gekoppelt, versandete. Er hat die unerhört günstige, niemals wiederkehrende Chance nicht gesehen, hier ein geistig repräsentatives Organ des deutschen Sozialismus zu schaffen. Die Ansätze zu einer völlig neuen sozialistischen Journalistik in seinem eigenen Blatt hat er nicht erkannt, geschweige denn gepflegt. Die Talente wanderten ab; die Pressekommission führte alles wieder in die Bahnen jener traditionellen Popeligkeit zurück, die das Gros der sozialdemokratischen Presse in Deutschland für Leser von Geschmacksansprüchen so unerträglich macht und der bürgerlichen Konkurrenz ein ausgesprochenes Übergewicht verleiht. Eines Tages ging Hilferding in aller Stille davon. Und bald darauf empfahl sich seine Schöpfung, die »Freiheit«, noch stiller. Was er anfaßte, blieb Episode.

Er zog ins Reichsfinanzministerium ein. In schlimmer Zeit gewiß. Aber auf der Basis der großen Koalition und, zunächst, mit einer nicht unbeträchtlichen Autorität. Kein Finanzminister vor ihm ist mit so viel überparteilichem Vertrauen begrüßt worden. Er umgab sich mit einem Staket von reaktionären Beamten. Nach den ersten Reden und Interviews sah und hörte man nichts mehr. Desto mehr munkelte man von seinen Währungsplänen. (Im übrigen sackte die Mark weiter.) Bis dann eines trüben Tages die Koalitionskrise kam und Hilferding ausgeladen wurde. Man merkte es kaum. Er selbst vielleicht auch nicht. Gewiß, er hat weder die Krise noch seine jähe Verfrachtung verschuldet. »Fortune« verlangte Friedrich von seinen Generalen ...

Was ihm fehlt, das ist eben der wehende Helmbusch, das, was enthusiasmiert. Er ist immer Vorgesetzter, niemals Kamerad. Der Hoffärtige und Ewig-Überlegene wird nicht der Liebling der Götter. Wenn Hilferding spricht, wenn er mit seiner ziemlich leisen, aber scharfen Stimme, immer etwas dozierend, Perspektiven aufweist und Vergangenes vorüberziehen läßt, dann ist um ihn die dünne Aura des Respektes. Nicht weniger, nicht mehr. Vielleicht hat er einmal als blutjunger Kerl, ehrgeizig, sehnsüchtig nach Wissen und Gütern dieser Welt, wie Chamissos romantischer Held der Hölle seinen Schatten verkauft. Aber er scheint dabei mit erheblichem Manko abgeschlossen zu haben. Er hat weder das Glückssäcklein noch die Siebenmeilenstiefel für sein verloren gegangenes Menschliches eingetauscht. Er muß an einen marxistisch gebildeten Teufel geraten sein, der, auf die Verelendungstheorie eingefuchst, sich sagte, es muß erst alles ganz schlimm werden, ehe es besser wird. Der hat ihm für sein unsterbliches Teil einen Stoß Makulatur auf den Tisch geworfen.

Das Tage-Buch, 5. Juli 1924


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