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300.

Dreikönigstag

Die Konferenz von Cannes

Heute, am 6. Januar, beginnen in Cannes endlich die offiziellen Verhandlungen, nachdem zwischen den einzelnen Delegationen schon seit Tagen Beratungen gepflogen wurden. Längst ist Herr Briand mit seinen journalistischen Heerscharen am Platze, und Lloyd George hat sich diesmal Herrn Winston Churchill als politischen Sauerstoffapparat mitgebracht, falls ihm im Gedränge die Luft wegbleiben sollte. Von diesem unternehmungslustigsten aller Politiker weiß die Fama bereits zu berichten, daß er hin und wieder nach dem benachbarten Monte Carlo hinüberwechsle, um dort in den Gefechtspausen am Spieltisch für sein eigenes Reparationsproblem tätig zu sein.

Der 6. Januar ist nach dem Kalender das Fest der heiligen drei Könige. Die christlichen Kirchen betrachten diesen Tag als Ausgangspunkt der Heidenmission und erinnern alljährlich daran. Und seit altersher hat die christliche Kunst mit Vorliebe den Aufzug der morgenländischen Fürsten dargestellt und ihre Freude gehabt an der satten Ausmalung des fremden phantastisch schillernden Pompes. Das Volk aber hielt sich lieber an das farbenfreudige Beiwerk, und am Dreikönigsabend tollte allerhand Mummenschanz und Maskenspiel in den Straßen herum. Und »Dreikönigsnacht« hieß ursprünglich die schönste romantische Komödie Shakespeares.

In Cannes wird man sich entscheiden müssen, welchem von den beiden Teilen dieses Doppelcharakters man Rechnung zu tragen hat. In dieser Zeit der Verwirrung und Gewalttätigkeit regt sich trotzalledem zart und schüchtern ein neuer Geist. Wird man diesem dienen? Oder wird man, wie bisher, an der schlichten Wahrheit vorübergehen und mit maskierten Worten und Gefühlen Mummenschanz treiben?

Die Presse von London und Paris ist voll von Gerüchten. Wir wollen nicht nochmals die unzähligen Kombinationen wiederholen, die in der letzten Woche allein laut geworden sind. Es ist ebenso zwecklos, Hoffnungen zu erwecken, wie schwarz zu malen. Zahlreiche Besprechungen führender Männer der Wirtschaft sind vorangegangen. Es ist das erste Mal vor einer solchen Konferenz, daß die Stimme der finanziellen Sachverständigen stärker war als die der militärischen. Mag man es als günstiges Vorzeichen hinnehmen, daß über die Möglichkeiten einer Kreditoperation lebhafter disputiert wurde als über irgendwelche Sanktionen.

Es ist in der Entente eine modernistische Strömung am Werke, die bemüht ist, die Reparationsfrage auf eine Basis zu stellen, auf der sie den heutigen gemeingefährlichen Charakter verliert. Das Londoner Ultimatum noch war der Ausfluß einer von Affekten getrübten Einstellung. Man sprang über alle praktischen Erwägungen hinweg. Man wollte ohne alles Drum und Dran Deutschlands Unterwerfung, zweite Auflage von Versailles. Deutschland hat diese Unterwerfung vollzogen. Heute wissen die Vertreter dieser Politik, daß man das Unglück des ersten Versailles nicht durch ein zweites wettmachen konnte.

»Vermeinest du, weil du tugendhaft seiest, soll es in der Welt keine Torten und keinen Wein mehr geben?« so ruft in Shakespeares »Dreikönigsnacht« ein lebensfroher Saufaus einem sauertöpfisch heuchlerischen Tugendbold zu. Glaubt ihr, weil ihr euch prinzipientreu nennt und die Weltgeschichte für euch mit 1918 aufgehört hat, soll eurer verbohrten Prinzipienreiterei halber keine Ordnung in die Welt kommen und der Friedfertige nicht den ersehnten Frieden erhalten? so rufen wir denjenigen zu, die sich mit aller Kraft einer notwendigen Entwicklung entgegenstemmen.

Herr Poincaré hat mit erhobenem Finger daran erinnert, daß in Cannes ein Denkmal Eduards VII. stehe und daß sich im Schatten des Vaters der Entente nicht so Greuelvolles begeben dürfe, wie eine Neueinstellung der Entente Deutschland gegenüber. Es ist ein altes Kunstmittel aller Reaktionäre, wenn das Leben zum Durchbruch rüstet, Schatten zu zitieren.

Werden diesmal die Schatten doch noch stärker sein? Wird das Wort des Redners nochmals die nackte Tatsache in ein buntes trügerisches Maskenkleid hüllen dürfen?

In weiter Ferne noch verschwimmt in Nebeln der Gedanke der Weltwirtschaftskonferenz. Er wird in greifbare Nähe rücken, wenn die Konferenz von Cannes ebenso unbefriedigend verläuft, wie die bisherigen Verhandlungen dieser Art. Bis dahin aber wird die internationale Wirtschaftskrise abermals beängstigend gestiegen sein, und kein diplomatischer Taschenspieler wird darüber hinwegtäuschen können, daß das Siegel von Versailles längst zerbröckelt ist und die losen Blätter des großen Dokumentes als Beute des Windes in der Welt umherwehen.

Berliner Volks-Zeitung, 6. Januar 1922

301.

Kammerspiele »Anatol«

Dieses graziöse Werk Schnitzlers ist jetzt bald dreißig Jahre alt, aber man kann ihm keine Geheimratsecken ansehen. Und wenn einmal die österreichische Welt, von der es Leben und Atem empfangen hat, dahingestorben sein wird, »Anatol« wird seinen Ruhm behaupten. Es gibt kaum etwas in deutscher Sprache, was ihm an heiterer Anmut gleichkommt, und sein Duft rührt nicht von französischem Ersatzparfüm her.

In den Kammerspielen führte Regie der Moskauer Iwan Smith. Er hörte aus diesen Szenen nur die Melancholie und nicht das Gekicher der Liebesgötter, und spielte, mit Ausnahme von »Abschiedssouper« und »Hochzeitsmorgen«, Schnitzler wie Tschechow.

Anton Edthofer hat die Melodie des »Anatol« im Blut; etwas melancholisch, etwas schürzenjägerisch und etwas eingebildet, alles in allem, es wurde ein Mensch daraus.

Hermann Thimig spielte den Freund Max mit Pädagogenbrille, bürgerlich-reputierlich; Selbstironie in den Konturen der Gestalt.

Und die Damen? Erika v. Thellmann war typisches süßes Mädel, Lina Lossen große Dame, die an ihrer Tugend leidet, Margarete Christians Ballettkätzchen, treuherzig, sentimental, gefräßig in drolligem Durcheinander, Margarete v. Bukovics flatterhaft. Und die schöne Russin Arbenina raste kosakisch durch Anatols Hochzeitsmorgen, Sträuße und Vasen demolierend. Man sollte ihr endlich eine Rolle geben, in der sie ihre große Begabung harmonischer entfalten kann.

Berliner Volks-Zeitung, 7. Januar 1922

302.

Die Teutomanie

Verehrter Leser, Sie haben sicherlich schon einmal gesehen, wie ein Affe auf dem Ast schaukelte, sich kratzte und dazu allerhand mehr oder weniger appetitlichen Unfug verübte. Es ist seit Darwin kein Zweifel, daß wir zu diesem Wesen, das sich da eben wie ein richtiger Affe aufführt, in einem Verwandtschaftsverhältnis stehen, es als unseren Stammvater betrachten müssen. Durch die Aufhellung dieses Zusammenhanges hat der Affe für uns nichts Verehrungswürdiges gewonnen. Auch der passionierte Darwinist denkt nicht daran, auf den Baum zu klettern und sich zu kratzen.

Es ist ohne Zweifel sehr pietätvoll, seiner tierischen und menschlichen Vorfahren zu gedenken, aber es gibt kein Gesetz, es ihnen gleichzutun. Die Geschichte der Menschheit besteht aus ewigem Formenwechsel. Wiederkommen kann etwas nur dann, wenn alle Vorbedingungen erfüllt sind. Alle Kultur wird getragen von notwendigen Entwicklungsmomenten, nichts kommt aus der Retorte des Experimentators.

Die alten Germanen waren vermutlich nicht besser und nicht schlechter als andere Menschen auch. Leider wissen wir herzlich wenig von ihnen. Weniger als von Griechen, Ägyptern und Chinesen.

Das müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir uns mit der heute so beliebten Mode des »germanischen Ideals« auseinander setzen wollen. Das Hakenkreuz ist ja reine Äußerlichkeit; die meisten, die sich damit schmücken, wissen davon nur, daß es das Vereinsabzeichen des Antisemitismus ist. Doch darüber hinaus gibt es eine Bewegung, die emsig nachzuweisen sich bemüht, daß die Wurzeln unserer Kultur in Island zu suchen sind, und daß zweitausend Jahre deutscher Geschichte von Christus bis zu Marx und Nietzsche nicht mehr bedeuten als eine Verirrung und eine Verfälschung des germanischen Volkstums.

Vielleicht haben diese guten Leute sogar recht. Vielleicht wäre es besser wir tanzten noch heute um die Irminsäule, anstatt um das Podium mit der Onestepkapelle. Aber zweitausend Jahre sind eine lange Zeit, und Christus, Bonifazius und Goethe lassen sich nebst den Folgen nicht einfach eskamotieren. Die Väter unserer Bildung, unseres Wissens und Glaubens sind nicht identisch mit den Vätern unserer Rasse. So ist es immer und überall gewesen. Jede Kultur birgt expansive Kraft in sich, dringt über die Grenzen des Stammes hinaus und vermischt sich mit anderen an und für sich fremden Elementen zu einer neuen Einheit.

In unserer Bildung sind in der Tat sehr viel fremde Elemente. Aber sie sind uns vertraut, wir sind mit ihnen verwachsen. Die Deutschtümler mögen rassentheoretisch tausendmal recht haben, wahr bleibt doch, daß nichts mehr mit der Germanenkultur, von deren Herrlichkeiten sie erzählen, uns verbindet. Klassik, Romantik, Aufklärung, Christentum, lauter Dinge, die wir erleben können. Die Bibel ist, auch für den Nichtgläubigen, zum Volksbuch geworden. Homers bunte Welt ist nicht mehr fortzudenken, aber mit der Edda können wir nicht das mindeste mehr beginnen.

Und deshalb ist der Germanenkultus von heute nicht mehr wert als die Buddha-Mode, oder der Laotsefimmel, oder der Tagore-Kult. Nur daß diese wesentlich harmloser sind, da die Möglichkeit zu politischer Ausmünzung fehlt. Und muß denn etwas mit aller Gewalt nachahmenswert sein, nur weil es ein paar tausend Jahre zurückliegt? So kommen wir wieder auf die Geschichte von dem Affen auf dem Baum zurück.

Berliner Volks-Zeitung, 11. Januar 1922

303.

Neues Volkstheater »Heuchler«

Es ist gut und nützlich, sich dieses technisch unvollkommene, aber von bitterböser Sozialsatire strotzende Erstlingswerk Bernard Shaws anzusehen; aber dringend gewarnt sei vor einem bequemen: »So sind die Engländer!« Nicht nur auf »Albions Pharisäerinsel« gibt es solche Hausbesitzer, wie den Herrn Sartorius, der von Respektabilität trieft, sich stolz als »selfmademan« bezeichnet, und doch nie in seinem Leben gearbeitet, sondern sein Vermögen Pfennig für Pfennig den Ärmsten der Armen abgepreßt hat. Und nicht nur in England gibt es »Sozialethiker« vom Schlage des Dr. Trench, der sich über des Spelunkenbesitzers Herzenshärte entrüstet, aber auf den gleichen Elendsquartieren – Hypotheken stehen hat, deren Zinsgenuß ihm bürgerlich reputierlich zu leben gestattet.

Die Aufführung dieser Komödie, die Shaw selbst zu seinen »unerquicklichen Stücken« rechnet, bietet manche Schwierigkeit. Die Form ist nicht gemeistert und manchmal weiß man nicht, ob die Bizarrerie der Situation der Absicht oder der Hilflosigkeit des Autors entspringt. Herr Friedrich Lobe, der selbst den Sartorius als aalglatten, von Innen beherrschten Komödianten ohne eigentliche Harpagonzüge spielte, hielt als Regisseur die Aufführung straff zusammen. Helene Konschewska interessierte lebhaft in der Studie einer Hysterika; Arnim Schweizer gelang ausgezeichnet der Polonius dieses Stückes, der Schwätzer und Schulmeister Cokane; Paul Herm und Leonhard Steckel hielten sich nicht ganz auf dieser Linie.

Berliner Volks-Zeitung, 14. Januar 1922

304.

Molière, sein Weg und die Zeit 15.1.1622/15.1.192

Man hat Molière unendlich oft in die deutsche Sprache zu übertragen versucht, man hat ihm dicke Bücher gewidmet. Dem Gebildeten bei uns ist sein Name so vertraut, wie der des Shakespeare oder Sophokles. Aber auf unserem Theater erscheint er fast immer als Fremdling. Der »Tartuffe«, der »Eingebildete Kranke«, der »Bürger als Edelmann« sind volkstümliche Figuren geworden, aber auf der Bühne setzen sie fast immer in Erstaunen, verbreiten häufig einen Kreis von Kühle um sich, den der Deutsche nicht durchschreiten kann. Und doch hat er's in der Schule gelernt, daß Molière stets ein volkstümlicher Dichter gewesen sei, verhaßt und verspottet bei den Bildungsphilistern, bei den »Gezierten«, für die Kunst Künstelei und Spielerei bedeutete.

Rein äußerlich verdutzt uns gewöhnlich bereits das absonderliche Kostüm der Zeit, in der er lebte und dichtete. Gewaltige Allongeperücken bedecken die Häupter der Männer, sie tragen Stulpenhandschuhe, die bis über die Ellenbogen reichen, gehen in hohen, unbequemen Stöckelschuhen tänzelnd und kokett, immer wie auf dem Parkett. Die Kleidung der Frauen ist nicht weniger pomphaft absurd. Kultur und Luxus sind gleichbedeutend geworden. Und wie die Kleidung Gefühl und Rede; es ist alles ein wenig zurechtgestutzt, ein wenig geschminkt. Nur die Diener und Kammerzofen, die Kinder des Proletariates haben das Recht, zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen.

Die Tragödie aus der Zeit des »Sonnenkönigs«, die stelzenden Dramen der Corneille und Racine sind vergessen, erfreuen sich nur in Frankreich noch einer gleichfalls reichlich mit Staub bedeckten Verehrung. Nur der Komödiendichter Molière blüht in seinem Vaterland noch wie am ersten Tag. Wenn die deutsche Bühne ihn nicht vollkommen zu assimilieren verstand, so deshalb, weil seine Versform, der Alexandriner – jene sechsfüßig-jambischen, paarweis gereimten Verszeilen mit dem scharfen Einschnitt in der Mitte –, für unser Ohr immer etwas fatal Klapperndes behält, auch, wenn die Übersetzung Rhythmus und Pointe zu meistern versteht. Aber daß Molière zwischen Schnörkeln des Kleides und der Seele Ewig-Menschliches entdeckte, das hat ihm dauernde Jugend gesichert, das macht, daß das helle Lachen und das verhaltene Weinen seiner Komödien noch heute gehört wird.

Er ist Pariser Kind, Sohn eines braven Kleinbürgers, der ein kleines Hofamt inne hat. Der Vater sichert ihm die Stelle eines königlichen Kammerdieners. Der junge Jean Baptiste Poquelin erhält eine ausgezeichnete Erziehung auf der Jesuitenschule und macht frühzeitig die Bekanntschaft geistig hochstehender Menschen. Der Pariser Jahrmarkt mit den Gauklern, Schaubuden, Komödianten reizt seine Phantasie; der Zwanzigjährige nimmt Abschied von der Welt der Karriere und folgt als der Komödiant »Molière« der Schauspielerin Madeleine Béjart in die Provinz. Er entwickelt sich bald zum tüchtigen Darsteller und verfaßt für seine Truppe eine Reihe kleiner Farcen.

Jahrelang zieht er als Direktor verschiedener Wandertheater durch die verschiedensten Teile Frankreichs. Das Leben ist oft hart, und das Gewerbe des Schauspielers in sozialem Verruf. Der, den man eben noch mit Schminke und Perücke beklatschte, wird im bürgerlichen Kleid zum Paria. Molière durchlebt Jahre des Kampfes und der Entbehrung. Als Sechsunddreißigjähriger spielt er mit seinen Leuten in Paris und erringt einen glänzenden Erfolg.

Nun beginnt seine Glanzzeit. Seine Komödien, keck und witzig in der Verspottung der Zeittorheiten, schaffen ihm Ruhm und Feindschaft. Er verhöhnt in den »Gezierten« die anmaßende Dilettantenclique des Hotel Rambouillet, und setzt eine flüchtige Mode unsterblichem Gelächter aus. Er sammelt die Typen des bunten Pariser Lebens; die Werke dieser Jahre wimmeln von anmaßlichen Gelehrten, bornierten Medizinern, dümmlichen Provinzkavalieren, gerissenen Lakaien. Plötzlich hört er auf, dieses Kleinzeug unter die Lupe zu nehmen, er spitzt einen furchtbaren Pfeil gegen ein Hauptlaster der Zeit: – die religiöse Heuchelei. Vier Jahre hindurch kämpfen die Frommen gegen die Aufführung des »Tartuffe«. Einer der höchsten Beamten des Staates sieht sich in dem schmutzigen, scheinheiligen Freibeuter abkonterfeit. Eine kaum erwartete Instanz beendigt den Konflikt, erscheint wie der Gott aus der Theatermaschine und gibt das Stück frei. Es ist der König.

Ludwig XIV. steht vor der Geschichte nicht als Held da. Eitelkeit, Wollust, Grausamkeit, Verschwendungssucht entstellen das Charakterbild dieses westeuropäischen Sultans. Er hat sein Land arm gemacht und zugleich dessen Seele durch einen falschen Nationalstolz vergiftet. Aber seine angeborene Ritterlichkeit ließ ihn in dem Kampfe zwischen dem kleinen Komödianten und dessen großmächtigen Gegnern richtig empfinden, wer die Sache der Wahrheit führte. Ludwig, der später als Frömmler endete, hat durch seine Parteinahme für Molière als junger Mann der Bigotterie einen furchtbaren Schlag zugefügt.

Als der Dichter diesen Sieg errang, hatte er bereits jene Heirat mit der blutjungen Armande Béjart geschlossen, der Tochter der Jugendgeliebten, die auf der Höhe des Lebens seine Tage verdüsterte. Der Komödiendichter, der die Misere so vieler betrogener Ehemänner dem Gelächter preisgegeben hatte, mußte das Schicksal seiner Gestalten erleben. Er litt schwer darunter, vielleicht am meisten, daß das junge Weib, das er liebte, an ihm vorüberflatterte, ohne daß er sich fähig fühlte, sie durch seine Liebe zu binden. So kommt in übermütig komponierte Szenen ein weher und bitterer Ton, im »Misanthropen« bricht die Verzweiflung sich in leidenschaftlichen Ausbrüchen Bahn, in »George Dandin« zeichnet seine Verstimmung ein grausam verzerrtes Abbild des eigenen Schicksals, im »Geizigen« sprengt Harpagon, der Wucherer, den possenhaften Rahmen und wächst zu tragischer Größe.

Mit fünfzig Jahren ist Molière ein vom Tode gezeichneter Mann. Am 17. Februar 1673 spielt der Schwerkranke die Hauptrolle in seinem »Eingebildeten Kranken«. Er droht körperlich zu versagen; er lehnt es ab, sich niederzulegen, mit Rücksicht auf die Theaterarbeiter, die um den Lohn des Abends kommen, wenn die Vorstellung abgesagt wird. Im dritten Akt stürzt er zusammen und windet sich zwischen den Kulissen in furchtbarem Krampf. Er wird nach Hause gebracht, wo er in einem Blutsturz stirbt.

Die Frommen haben dem Verfasser des »Tartuffe« nicht verziehen. Der Erzbischof von Paris verweigert das »ehrliche« Begräbnis; der König tritt für den Toten ein, wie einst für den Lebenden. Nachts, ohne Gesang, wird der Sarg von zwei Priestern durch die Rue Montmartre geleitet und im Bereich einer Kapelle versenkt. Aufgehetzte Spießbürger stören den letzten Gang des Dichters mit Flüchen und Steinwürfen.

 

Der Prozeß Molières gegen seine Zeit ist für ewig zu seinen Gunsten entschieden. Heute, nach drei Jahrhunderten noch, ist er seines Volkes nationalster Dichter. Noch immer schallt sein übermütiges Lachen weiter, und zwischen Spott und Schwermut ahnen wir eine reine, ritterliche Seele. Er durfte wie der Komödiant Shakespeare ohne Zagen bis zu den Sternen greifen.

Berliner Volks-Zeitung, 15. Januar 1922

305.

Staatliche Propaganda Die Republik und ihre Gegner

Es ist ein Haupttrumpf der Rechtsparteien, zu behaupten, die Republik habe im Volke keine Wurzel gefaßt, und die deutsche Seele sei noch monarchistisch durch und durch. Jede Propaganda zur Festigung und Vertiefung des republikanischen Gedankens wird von den reaktionären Parteien zu der sarkastischen Feststellung benutzt, daß sich die Republikaner in dem von ihnen geschaffenen Staate scheinbar nicht so recht sicher fühlen, daß sie für kurz oder lang eine Ausmietung in wenig ansprechenden Formen befürchten. Wir Republikaner verhehlen am allerwenigsten, daß den großen Massen der unbedingt zur neuen Staatsform haltenden Arbeiterschaft sehr viel stimmungsmäßige Opposition in bürgerlichen Kreise entgegensteht und sehr viel bewußte Feindseligkeit in der höheren Beamtenschaft, die zwar dem neuen System ihre Dienste leiht, aber nichtsdestoweniger mit Vorliebe nach rückwärts die Blicke richtet. Die Frage drängt sich auf: fällt das stark genug ins Gewicht, um uns an der Zukunft der Republik verzweifeln zu lassen?

Es gibt in jedem Staat eine Opposition, deren Forderungen weit über die herrschende Konstitution hinausgehen. Nur eine von allen guten Geistern verlassene Regierung arbeitet deshalb mit dem Vorwurf der Vaterlandslosigkeit und Staatsfeindlichkeit. Ausschlaggebend für die Staatsgefährlichkeit einer Opposition darf niemals deren Prinzip, sondern nur deren Agitationsmethode sein. Wir werfen unseren Deutschnationalen nicht ihren Monarchismus vor, sondern die Skrupellosigkeit, mit der sie versuchen, aus der ungeheuerlich kritischen Situation des ganzen Volkes für ihre Parteigeschäfte Kapital zu schlagen. Die monarchistische Forderung ist eine Sache, über die sich durchaus anständig disputieren läßt; jene Politik aber, die die wirklichen und vermeintlichen Niederlagen unserer parlamentarischen Regierung der Entente gegenüber zum Anlaß unverhüllter Freudenorgien nimmt, schädigt des Volkes Gesamtinteresse, ist antinational schlechtweg.

Wir brauchen uns nicht zu schämen, offen zuzugeben, daß der Republikanismus in Deutschland vor dem Kriege ein schwaches Pflänzchen war. Hier und da im Bürgertum lebten nur Ideengänge von 1848; die bürgerliche Demokratie begnügte sich mit der Forderung des parlamentarischen Regimes. Die Sozialdemokratie hatte die Republik zwar zum Programmsatz erhoben; in der Praxis beschränkte sie sich aber auf die Kritik der Torheiten und Übergriffe des damaligen Inhabers der Krone. Anarchistisch-syndikalistische Tendenzen fielen politisch nicht ins Gewicht. Alles in allem: eine grundsätzliche und zielbewußte republikanische Bewegung gab es in den Tagen des Kaisertums nicht.

Dieser Umstand aber hinderte weder die »staatserhaltenden« Parteien, noch Regierung, noch Bureaukratie, an einer sehr lebhaften monarchistischen Agitation. Dem gar nicht vorhandenen Republikanismus stand eine unendlich eifrige und in den Formen oftmals bizarre Propaganda zur »Erhaltung« des Thrones entgegen. In der Schule wurde nicht ein Sterbenswörtchen von der Verfassung und von Bürgerrechten gesagt, desto mehr von der Unübertrefflichkeit des monarchistischen Systems und den Vorzügen des gegenwärtigen Kaisers und des Thronfolgers. Die Justiz, mit dem Donnerkeil des Majestätsbeleidigungsparagraphen ausgerüstet, ahndete jede kleine Entgleisung am Biertisch, als gehe es darum, der Schlange des Aufruhrs ein für allemal den Kopf zu zertreten. Justiz, Schule, Kirche, Militär –: es gab keine Institution, die es nicht von vornherein als ihre heiligste Pflicht erachtet hätte, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den monarchischen Gedanken zu stärken. Und jeder kleine Krieger- und Schinkenverein bemühte sich, in dieselbe Kerbe zu hauen; der Ordenssegen blühte, und Gesinnungsschnüffelei und Denunziantentum nicht minder.

Das alles war unsagbar täppisch und läppisch, und ein menschenfeindlicher Timon hätte mit gutem Recht bittere Worte über die politische Intelligenz des deutschen Volkes gebrauchen können, das einer so ausgefallenen Pädagogik und törichten Bevormundung gegenüber nicht offen die Forderung der Republik auf sein Banner schrieb. Das Volk war geduldig, freventlich geduldig, selbst der Parlamentarismus, in allen Ländern außer Rußland eine blanke Selbstverständlichkeit, galt als Stück eines durch gewissenlose Individuen nach Deutschland eingeschmuggelten Jakobinertums. Die ganze Staatsweisheit der wilhelminischen Ära erschöpfte sich in dem populären Spruch: » Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!«

Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Die Linksparteien haben das Heft in der Hand; die anderen Parteien, die sich einst breit und aufdringlich um den Thron geschart hatten, sind Opposition; die Monarchie hat sich selbst ihr Grab geschaufelt. Und seltsam, was dem alten System als das natürlichste von der Welt galt, wird dem neuen System als Verbrechen angekreidet: – die Propaganda für die Staatsform! Die verhaßte »Ebert-Republik« aber beansprucht für sich nur das gleiche Recht wie die alten kaiserlichen Regierungen: sie will die Anschauungen im Volke verbreiten, daß die gegenwärtige Staatsform die einzig mögliche sei, daß jeder Versuch sie zu ändern, Unheil und Blutvergießen zur Folge haben müsse ..., sie steht ferner zu ihrem Recht, neben den praktisch-politischen Momenten das Geistige und Weltanschauungsmäßige der neuen Staatsform gebührend zu betonen, in der klaren Einsicht, daß der Staat kein reines Machtinstrument sein darf, sondern eine sittliche Instanz.

Ob das der deutschen Republik bisher durchweg gelungen ist, mag bezweifelt werden, soll hier auch nicht zur Erörterung stehen. Aber das eine sollte ihr jedenfalls konzediert werden: daß sie in ihrem Werben um Herz und Seele der deutschen Staatsbürger sich niemals zu jener Nervosität und jener Kleinlichkeit verirrt hat, die nicht wegzudenkende Eigenschaften des alten Regimes waren. Nochmals: niemand tastete ernsthaft das deutsche Kaisertum an, aber die Republik steht einer Kohorte von Gegnern gegenüber, die kopflos und herzlos gegen die republikanische Idee und ihre Träger wüten.

Die Republik führt einen Abwehrkampf. Daß sie es tut und weiterhin tun muß, soll uns nicht zu trüben Diagnosen verleiten. Wir Republikaner aber haben die Pflicht, ihren ideellen Gehalt klar und deutlich herauszuarbeiten und dafür zu sorgen, daß niemals wieder jene Methoden von »Staatserhaltung« Fuß fassen, wie sie von Bismarck bis Wilhelm dem Letzten vorherrschend waren. Es geht um eine neue Ordnung aus dem Geiste der Brüderlichkeit, es geht um den Staat aus dem Geiste des Gemeinschaftsgefühls: – es geht nicht um die Konservierung des Staates als Zuchtanstalt. Der Geist der Puttkamer, Kröcher, Michaelis und Jagow war der Geist von Krähwinkel. Wir haben ihn erkannt und wollen ihn bekämpfen, auch wenn er einmal in eigene Reihen sich einschleichen sollte. Wir selber wollen für Deutlichkeit und Sauberkeit sorgen und verbitten uns die vorlaute Kritik derjenigen, die, keine Warnung achtend, in blindem Hochmut über den Halys gezogen sind, um ein großes Reich zu zerstören.

Berliner Volks-Zeitung, 22. Januar 1922

306.

»Der große Bariton« Theater am Kurfürstendamm

Direktor Robert versetzte den »guten Europäern«, die imstande sind, seine Premierenpreise zu erschwingen, gestern abwechslungshalber einen Schmarren amerikanischer Herkunft. Eine »romantische Komödie« nennen das die Herren Ditrichstein und Hatton. Im ersten Akt ein leidlich lustiges Durcheinander im Direktionszimmer eines großen New-Yorker Theaters; babylonische Sprachverwirrung der kosmopolitischen Sänger- und Musikantenwelt, die den appetitlichen Dollarnoten nachjagt. Dann konzentriert sich das Interesse auf Jean Paurel, den berühmten französischen Bariton italienischer Geburt, der, grauköpfig, aber noch immer unwiderstehlich, alle Frauenherzen weichsingt, während einer Don-Giovanni-Aufführung den Rest seines einst so melodischen Kehlkopfes einbüßt, seinem Nachfolger und Rivalen die Braut abtritt und nach etlichen lamentablen Ergüssen schließlich mit lädierten Stimmbändern, aber ungeknickter Männlichkeit die Bühne verläßt, um sich endgültig den Damen zu widmen. Da diese Angelegenheit gestern abend stürmisch beklatscht wurde, so wissen wir jetzt Gottseidank, was man in Berlin-W und Amerika-N unter »romantisch« versteht.

Es ist wohl seit des alten Thespis wanderndem Kunstinstitut unabänderliches Bühnengesetz, daß der ärgste Kitsch am sorgfältigsten behandelt wird. Unter Eugen Roberts Leitung ging eine Aufführung vor sich, die immerhin eines Luxustheaters würdig ist. Bassermann lieh dem Jean Paurel die Konturen der Tragikomödie großen Stils; seine Partnerin, das kleine zarte Fräulein Margarete Schlegel, verstand es durchaus, sich im Schatten dieses Titanen zu behaupten. Unter den zahlreichen Episoden, die vorüberhuschten, hätte man insbesondere Herrn Engers ein längeres Verweilen gewünscht.

Berliner Volks-Zeitung, 22. Januar 1922

307.

Der Fehdehandschuh Lloyd George und Poincaré

Als die Konferenz von Cannes begann, wußten wir, daß irgendwann, irgendwo eine größere, eine Weltkonferenz folgen würde. Über jeder Konferenz der alliierten und assoziierten Mächte, die seit London stattfand, irrlichterte bereits der Schatten der nächsten. Das zeugt für die Unsicherheit der Staatsmänner, spricht in tausend Zungen von der Größe ihrer Aufgabe, von der Kompliziertheit der internationalen Probleme.

Wir haben keine Veranlassung, diese Entwicklung zu beklagen. Die Geheimdiplomatie verfällt, es regt sich ein neuer demokratischer Geist, der stärker ist als die halben und zagen Entschlüsse der Politiker. Ein Geist, der unerbittlich weitertreibt, der fühlen läßt, daß alles, was bisher geschah, nur Etappe war auf einem Wege, dessen Ende noch niemand kennt. Lloyd George hat in seiner jüngsten Rede vor den Liberalen den Sinn dieser Kette von Konferenzen beherzt dahin skizziert: »Jede Konferenz ist eine Sprosse auf der Leiter, die zum Frieden auf Erden führt.«

Am 15. Januar noch hatte Herr Stephan Lauzanne, einer der journalistischen Granden in der Gefolgschaft Poincarés, gegen diese Methode geschrieben, die die Entente zu verderben imstande sei. Lauzanne wies weiter darauf hin, daß die Sitzungen des Obersten Rates sich überlebt hätten, Poincaré selber habe das »Kinodiplomatie« genannt: »Wir wissen nun auch, daß es eine Diplomatie des Jazz-bend und des Bakkarat ist. Frankreichs Interessen haben dabei nichts zu gewinnen. Seine Würde aber könnte Schaden leiden. Poincaré hat den Wunsch, sich oft und ausführlich mit Lloyd George zu besprechen, aber anderswo als in Palasthotels und Kasinos.« Messerscharf klingt die Antwort Lloyd Georges an die »Leute, die erklären, es seien der Konferenzen genug gewesen«: »Am meisten treten für die Rückkehr zur alten Diplomatie die ein, die unter ihren Verwüstungen leiden ... die Männer, die die Konferenzen hassen, sind die Männer der starren Ansichten, die nicht gern der Wirklichkeit ins Auge sehen. Es ist gut, wenn sie gezwungen werden, dies hin und wieder zu tun.«

Als Lloyd George auf der Rückreise von Cannes in Paris verweilte, um mit dem Nachfolger Briands die Situation vertraulich zu besprechen, verlautete zunächst nichts Bestimmtes über den Ausgang der Unterredung. Daß er kein günstiger war, deuteten einige Pariser Blätter gerüchtweise an, bestätigte bereits einige Tage später der Artikel des Chefredakteurs der »Times«, Wickham Steed, der die Franzosen höflich, aber entschieden mahnte, auf dem Boden der Realität zu bleiben. Dergleichen ist allerdings seit einem Jahr schon oft gesagt worden; die letzte feierliche Beglaubigung des katastrophalen Ausgangs gibt erst Lloyd George in seiner Rede.

Er hat, wie immer bei solchen Gelegenheiten, seinen Hörern eine etwas krause Mischung von Pathos, Ironie und gesundem Menschenverstand versetzt. Wenn er von der Notwendigkeit internationalen Vertrauens sprach und von dem Argwohn, der die Handelsbeziehungen nicht wieder aufkommen lasse, hatte er fast die Salbung eines Methodistenpredigers, der, mit einem Küchenstuhl und einer Posaune bewaffnet, am Sonntag in den Hyde-Park geht, um ein bunt zusammengewürfeltes Publikum mit seinen Heilslehren zu erquicken. Aber wo es um die Kernpunkte ging, da verzichtete Lloyd George darauf, auf die Rührungsseligkeit seiner Landsleute zu spekulieren, und seine Rede klang höllisch spitz und pfiff durch die Luft wie eine schlanke Damaszener Klinge. Von französischer Seite zum Beispiel waren die ohne Zweifel etwas monströsen Ausmaße der kommenden Weltwirtschaftskonferenz zum Gegenstand des Spottes gemacht worden; man hatte über die Zahl der Sachverständigen gewitzelt und die ganze Veranstaltung den größten Kuddelmuddel seit der Verwirrung um den Turmbau von Babylon genannt. »Tausend Sachverständige?« rief Lloyd George, »nun sie werden immer noch billiger sein als die militärischen Sachverständigen«. Und er hatte die Lacher auf seiner Seite.

Es kann kein Zweifel bestehen, diese Rede war durch Inhalt und Tonart eine Kampfansage an den »Poincarismus« und zugleich ein großartiger Versuch, das gesamte England um die Fahne der Koalitionsregierung zu sammeln. Lloyd George kennt die Opposition der Arbeiterpartei, der Pazifisten und der liberalen Asquith-Gruppe; er hat stellenweise ganz in ihrem Geiste geredet. Andererseits aber hat er denen, die noch immer in Frankreich eine Schutzmauer gegen die »deutsche Gefahr« erblicken, vor Augen geführt, daß dessen Politik ein Risiko für den englischen Handel bedeute, der bei einer künstlich in Verwirrung gehaltenen weltpolitischen Situation nicht gedeihen könne, und daß aus diesem Grunde die ganze Nation engagiert sei.

So bleibt also wahr, daß Briand seinem ehrgeizigen und ungeduldigen Rivalen in einem sehr unbequemen Augenblick den Platz frei gemacht hat. Sicherlich war Poincaré, als er von neuem die Szene betrat, auf einen langen und zähen Kampf gerüstet. Dennoch dürfte er kaum mit einer so baldigen und einer so rückhaltlosen Fehdeankündigung gerechnet haben. Wenn er, was gewiß zu erwarten ist, jetzt den gallischen Hahn in die Arena treiben wird, muß es sich zeigen, ob die Stimme der Vernunft schon stark genug ist, um den heraldischen Tierpark zu übertönen. Die nächsten Wochen werden die Probe aufs Exempel bringen.

Berliner Volks-Zeitung. 24. Januar 1922

308.

Die Eisenbahnkrankheit

Der Fluch auf die Juden

Als vor beinahe hundert Jahren die ersten Eisenbahnen wie bunte gemächliche Riesenspielzeuge durch Europa zu rollen begannen, legte irgendein wissenschaftliches Kollegium in einem Gutachten die Meinung nieder, daß dieses neue Fortbewegungsmittel für die geistige Gesundheit der Fahrgäste gefährlich werden müßte. Wir sind heute allzu geneigt, über diese weitblickenden Herren zu spotten; tatsächlich ist ihre langatmige Abhandlung längst dem Lachkabinett kulturhistorischer Kuriositäten einverleibt.

Doch, Hand aufs Herz, haben sie nicht am Ende recht behalten? Ist nicht doch der Verstand der Menschheit seitdem ein wenig ins Kollern gekommen? Zum mindesten geht im Gehirn mancher Zeitgenossen eine merkwürdige Veränderung vor, sobald die Waggontür hinter ihnen zugeklappt ist.

Kein Zweifel: es gibt eine Eisenbahnkrankheit! Ich denke da nicht an jene bis zu jäher Übelkeit aufsteigende Depression, die viele nach längerer Fahrt befällt. Das ist eine Angelegenheit der Magennerven, die ebenso gut beim Genuß der neuesten Operette wie bei der Lektüre besonders nationaler Zeitungen akut werden kann. Die Krankheit ist ernsthafter.

Wie viele Leutchen, die sonst friedfertig sind und auf kulante Umgangsformen Wert legen, nehmen, wenn der Zug sich in Bewegung gesetzt hat, eine brummige, unhöfliche Miene an, setzen sich herausfordernd den Kneifer auf und spähen umher, ob nicht eine fremde Stiefelspitze sich der ihrigen nähert oder im Gepäcknetz der Pappkasten des Nachbarn die eigene Handtasche in ihrer Bewegungsfreiheit zu beengen droht. (Von den Konflikten, die das Rauchen auf dem Gang mit sich bringt, sei barmherzig geschwiegen.)

Ganz schlimm aber wird es erst, wenn in einem schlecht gelüfteten Coupé politisiert wird. Politik und mangelhafte Ventilation scheinen überhaupt in innigen, bis heute noch nicht geklärten Beziehungen zu stehen.

Und über was wird im Zeichen des geflügelten Rades durchweg, ausschließlich geredet? Brauche ich es noch zu verraten? Über die Juden, die Juden, die Juden ...! Wenn man im Sommer mit einem Bäderzug an die Nordseeküste, oder nur einmal von München nach Nürnberg gefahren ist, wird man den seltsamen Gedanken nicht los, als sei die Eisenbahn eine ausgeprägt antisemitische Erfindung.

Die Judenfrage! In tausend Variationen kehrt dieses unerschöpfliche Thema wieder. Jeder trägt sein Scherflein bei. Der elegante Herr im Pelz und der »kleine Mann« mit dem abwaschbaren Blechkragen; der Geschäftsreisende aus der Stadt und der Agrarier aus Pommern, der nach Berlin reist, um inmitten der Lockungen einer angekränkelten, international schillernden Weltstadtkultur mannhaft für deutsches Wesen Zeugnis abzulegen. Die Handwerkersfrau, die Bäuerin und die niedliche Krankenschwester, deren Pflege Gesunden zuträglicher ist als Kranken. (Daß auch ein Staatssekretär aus dem Reichspostministerium dem Einfluß dieser Atmosphäre unterliegen muß, versteht sich von selbst.)

Nein, die Eisenbahn hat uns nicht gut getan. Über den Wolken thront das Kollegium der Gutachter von Anno Dazumal und freut sich unbändig, daß ein Experiment von 100 Jahren seine These erhärtet hat.

Berliner Volks-Zeitung, 26. Januar 1922

309.

Innere Wiedergutmachung

Die Frage der Amnestie

Der Verfassungsausschuß des bayerischen Landtages hat vor kurzem einen Untersuchungsausschuß für Niederschönenfeld abgelehnt, und in Lichtenburg schienen neue Hungerstreiks bevorzustehen. Wer parteimäßig gebunden ist, wird natürlich in diesen Fällen sofort automatisch Stellung nehmen. Aber auch wer sich frei weiß von Neigung zu einseitiger Parteinahme, wird sich innerlich tief beunruhigt fühlen. Beunruhigt, daß es Dinge bei uns gibt, die nicht sterben wollen, und deren Überflüssigkeit, ja, Schädlichkeit doch die meisten von uns empfinden. Wir haben heute mehr denn je die Pflicht, gegenwärtig zu fühlen und mit Schatten der Vergangenheit abzurechnen. Für immer. Und doch legen sie sich überall über die Arbeit unserer Tage.

Wir sind heute den revolutionären Ereignissen von 1919 bis 1921 weit genug entrückt, um sie historisch werten zu können, und doch noch nahe genug, um die wirklichen Triebkräfte rein menschlich würdigen zu können. Wir wissen einigermaßen, was daran scheinbar berechtigte Hoffnung war, was falsche Rechnung, was unbegreiflicher Irrtum. Daß wir so empfinden können, spricht dafür, daß trotz alledem unsere innerpolitischen Verhältnisse sich konsolidiert haben, daß trotz allem Fanatismus von rechts und links die Periode des Bürgerkrieges langsam ein Stück Vergangenheit zu werden beginnt. Wir können die letzten Jahre unserer Geschichte bereits sachlich betrachten.

Stimmen wir dem bei, so bleibt uns nichts anderes übrig, als auch durch die Tat zu beweisen, daß wir gewillt sind, mit den Resten der unseligen Zeit aufzuräumen. Es sind noch viele Menschen in deutschen Gefängnissen, die nicht mehr verbrochen haben als ihre Freunde, die sich der Freiheit erfreuen; sie haben in ihrem Sinne die Revolution weitertreiben wollen und dabei Handlungen begangen, die mit einem wohlassortierten Paragraphenlager zusammenstoßen mußten.

Bestraft werden kann natürlich nur, wer sich in den Händen der Justiz befindet. Aber im Fühlen des Volkes bleibt immer ein peinlicher Nachgeschmack, wenn sich die Schärfe des Gesetzes gegen die Teilnehmer eines Kollektivvergehens wendet, deren Auswahl lediglich der Zufall arrangiert hat. Es herrscht eine tiefe Verstimmung darüber in weiten Kreisen unseres Volkes und eine ebenso lebhafte Sehnsucht, daß endlich einmal reiner Tisch gemacht wird.

Und wie war die Justiz, die diese Fälle untersuchte und aburteilte? Auch der verbohrteste Aktenreiter oder Ordnungswüterich wird nicht versuchen, ein gutes Wort für sie einzulegen. Sie wollte sicherlich nicht ungerecht und nicht übermäßig hart sein, wollte vielleicht sogar im einzelnen Falle die besonderen Umstände berücksichtigen. Aber sie konnte nicht anders, sie war Partei, Partei im ärgsten Kriege der Welt, im Bürgerkriege. Über die Tätigkeit der Sondergerichte namentlich haben graugewordene, bewährte Juristen sich mit tiefstem Entsetzen ausgesprochen. Der Rahmen dieser Gerichte war eng gezogen, die Richter selbst standen noch ganz unter dem Eindruck der jüngsten Geschehnisse, es fehlte der sichtende und wertende Zeitabstand; dazu die übermäßige Anzahl von Fällen, die dem einzelnen Gerichte zugewiesen waren, – es konnte in der Tat kein anderes Resultat ergeben als eine Rechtsprechung nach den Methoden des Taylor-Systems. Natürlich fällt die Hauptschuld nicht auf die Richter, sondern auf Regierung und Reichstag, die zu dieser Amerikanisierung der Rechtspflege Ja und Amen sagten.

Brauchen wir an dieser Stelle nochmals darauf zu verweisen, mit welcher Glimpflichkeit gegen Kappisten und Rechtsradikale verfahren wurde, wenn sich diese wirklich einmal durch einen unglücklichen Zufall auf die Anklagebank verirrten? Die Niederwerfung des Kapp-Putsches war die heroische Tat eines einmütigen Volkes, doch was nachher folgte, ein langer tragischer Abderitenstreich. Lüttwitz-Garden stellten Männer als Bolschewisten an die Wand, die eben noch die Verfassung gegen ihren Herrn und Meister verteidigt hatten, und in Westfalen wanderten sozialistische Arbeiter, die mit der Waffe in der Hand für die schwarzrotgoldene Republik eingetreten waren, als Rotgardisten in die Gefängnisse.

Nun kann dem von amtlicher Stelle entgegengehalten werden, daß seit Jahr und Tag fleißig amnestiert wird. Daß Zuchthausstrafen in Gefängnisstrafen umgewandelt werden, Strafverkürzungen eintreten und von dem Rechte der Bewährungsfrist häufig Gebrauch gemacht wird; insbesondere seien diejenigen, bei denen politische Motive einwandfrei nachgewiesen sind, längst auf freiem Fuß. Das ist gewiß recht lobenswert, dennoch ungenügend, da der Nachweis »politischer Motive« etwas so außerordentliches Schwieriges ist, daß er nur in wenigen hervorstechenden Fällen gelingen kann. Und jene vielen, die einfach mitgerissen, wenn man es sagen will, verführt wurden, sollen sie schlechter dastehen als die andern, denen das Gericht politische Motive attestiert hat? Sollen die »politischen Motive« nur dem Parteifunktionär, dem öffentlich bekannten Agitator zugebilligt werden? Hier klafft ein Widerspruch, den das schlichte Rechtsempfinden nicht überbrücken kann.

Ein anderer Einwand: sollen denn auch jene freigelassen werden, die sich grobe Übergriffe zuschulden kommen ließen, die den allgemeinen Tumult benutzten, um zu rauben und zu stehlen, die Eisenbahngleise losrissen und an Dynamitabenteuern beteiligt waren? Diesem durchaus berechtigten Einwand ist entgegenzuhalten, daß schon zahlreiche Kriminalverbrechen, die unzweifelhaft nicht mit politischem Vorzeichen versehen sind, außerordentlich schwer aufgehellt werden können infolge des gründlichen Versagens der Zeugen. Wenn das schon in normalen Zeitläuften möglich ist, wieviel größer ist diese Gefahr in Zeiten allgemeiner Aufregung und Kopflosigkeit, wo um jede Gewalttat sich ein bunter und verwirrender Fries von Gesichtern zieht. Es ist unter solchen Umständen psychologisch verständlich, daß so ziemlich jeder in einem Menschen, der ihm gegenübergestellt wird, den Mann erkennt, der ihm ein Leid zugefügt hat. Es ist ganz klar, daß eine abgrenzende Formel gefunden werden muß, daß nicht jeder Schwerverbrecher, der die günstige Gelegenheit für seine Zwecke ausbeutete, einfach auf die Menschheit losgelassen werden darf. Aber ebenso klar ist, daß die Judikatur der Sondergerichte mit größtem Mißtrauen betrachtet werden muß, und daß es bei dem ganzen Wesen dieser Institutionen bezweifelt werden muß, daß sie imstande waren, das Fragezeichen, das über den ihnen zur Klärung zugewiesenen Fällen schwebte, zu beseitigen. Wo die Verurteilung also wegen Eigentums- und Roheitsdelikten oder noch schlimmeren erfolgte, da möge die Sache nochmals an ein ordentliches Gericht gegeben werden, das keine Schnellarbeit zu leisten hat, und wo im Anfechtungsfalle eine Berufungsinstanz noch immer korrigieren kann.

Man zittere doch nicht vor einer Erschütterung der Staatsautorität, wenn Menschen, die durch Richterspruch verurteilt sind, plötzlich die Gefängnistür geöffnet wird. Es gibt nur eines, was der Staatsidee gefährlich werden kann: das ist das verbitternde und zerfressende Gefühl im Volke, daß Unrecht geschehen ist. Auch der Jagow-Prozeß entbehrte nicht dieses häßlichen Beigeschmacks. Aus einem großen Verschwörerbunde hat man einen zum »Führer« nominiert und abgeurteilt, einen Mann, dessen Name als Häuptling des Unternehmens nur sehr wenige auf die Straße gelockt hätte. Frei aus ging der erfahrene Politiker und einflußreiche Agrarierführer Wangenheim, ebenso der kleine flinke Bohrwurm Schiele; und am Zeugentisch machten gutgebügelte Herren launige Ausführungen über die komische Verwirrung in der Reichskanzlei, ohne daß ihnen jemand in die Parade fuhr – sie waren ja keine Führer! Man wird nicht nur in konservativ eingestellten Kreisen über den Ausgang dieses Prozesses den Kopf schütteln. Es ist von einer gefährlichen Symbolik für die Tragikomödie der neudeutschen Justizverwirrung, daß das einzige Urteil, das einem prominenten Rechtsputschisten eine immerhin ansehnliche Strafe auflud, eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einem Fehlurteil hat. Müßte nicht die Amnestieforderung aus menschlichen und politischen Gründen bald akut werden, sie müßte schon erhoben werden, um die Justiz, die so viel verdorben, die einen Fundus an Vertrauen restlos aufgezehrt hat, vor die Tatsache zu stellen, daß der Staat selbst eingreifen mußte, um mit seinen Kräften und in seinen Grenzen die Folgen zu beseitigen.

Es handelt sich also nicht um einen Gnadenakt, aus der Überfülle eines gütigen Herzens gewährt. Es handelt sich um eine Rehabilitation, um den Versuch einer Wiedergutmachung, um den seelischen Aufschwung eines Staates über allmählich verjährenden Zank und Streit zu jener Sphäre, in der Gerechtigkeit nicht gleichbedeutend ist mit Rache. Fraglich bleibt es, ob dieser Appell jetzt schon in der Öffentlichkeit Resonanz finden wird. Aber wer diesen Ausführungen beipflichtet, der sollte das seinige dazu beitragen, um wenigstens einer öffentlichen und sachlichen Erörterung dieses Themas die Möglichkeit zu verschaffen.

Berliner Volks-Zeitung, 29. Januar 1922


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