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1923

383.

Residenztheater »Es lebe das Leben«

Irgendeine Vornotiz sprach davon, daß dieses mit zwanzig Lehren belastete Stück neu aufgearbeitet worden sei. Sudermann-Philologen – auch die wird es einmal geben – mögen uns verraten, wo und wann die Aufbügelung erfolgte, die Weisen, die gestern abend die Köpfe zusammensteckten, haben es nicht ergründet. So bleibt also im wesentlichen zu berichten, daß das alte Rührstück auch diesmal seine Wirkung nicht verfehlte und dank einer tüchtigen Aufführung einen sehr respektablen Erfolg erlebte. Die Liebesbüßerin Beate gab nicht, wie zuerst angekündigt, die Durieux, sondern Ida Wüst, die durch diese Leistung bewies, daß ihr neuerlicher Einfall ins seriöse Gebiet durchaus zu billigen ist. Hoffentlich wird ihr bald eine Aufgabe anvertraut, an die sie Fleisch und Blut nicht zu nutzlos zu verschwenden braucht wie an diese. Sie wurde wirkungsvoll assistiert von Hans Marr und Heinrich Schroth. Erwähnt seien noch besonders Else Wasa, Hermann Böttcher, Kurt Keller-Rebri und Joseph Klein. Die Regie führte Herr Oskar Kanehl, der, als er an der Rampe erschien, um für den abwesenden Autor zu danken, von einigen Böotiern für Hermann Sudermann gehalten wurde.

Berliner Volks-Zeitung, 3. Januar 1923

384.

Harden und seine Richter

Die Veranstaltung des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller im Großen Schauspielhause Harden über »seinen« Prozeß, die Republik und ihre Justiz

Vor einem vieltausendköpfigen Publikum sprach heute nacht nach Beendigung der Vorstellung Maximilian Harden im Raume des großen Schauspielhauses. Er sprach über seinen Prozeß, er sprach über die deutsche Republik, er sprach über die internationale Konstellation, länger als anderthalb Stunden die Hörer im Bann haltend. Welch einen Schädel hätten die beiden gemieteten Mörder da fast zertrümmert! Welch ein Redner ist das. Er verfügt über eine hinreißende Suada, über eine biegsame Stimme, die den Raum voll beherrscht. Beweis seiner Meisterschaft, Mittel, um die ihn jeder Redner beneiden könnte, nur mit streng disziplinierter Diskretion zu gebrauchen. Er dämpft nicht nur die Stimme, sondern bändigt auch den Strom der Rede; der Genial-Beredte wirkt fast nicht als Rhetor, es ist nach den ersten Worten eine Atmosphäre von Intimität um ihn, die das gigantische Amphitheater vergessen macht und dennoch nicht für einen Augenblick die große Spannung herabmindert. Hoffnungsloses Parteibeamtentum wird für das alles die Bezeichnung »theatralisch« finden. Ja, gewiß, es ist in Deutschland für einen Politiker, der seine Karriere machen will, ein Sakrileg, einen gutsitzenden Rock zu tragen und über eine scharmante Geste zu verfügen.

Vermerkt sei noch, daß Harden nochmals eingehend das Attentat und den Verlauf des Prozesses mit allen seinen Wunderlichkeiten schilderte. Er skizzierte die beiden Bravi, deren Verteidiger, den Vorsitzenden und die Geschworenen, und nicht selten knallten seine Sätze wie Peitschenhiebe. An dem Einzelfall dieses Prozesses entwickelte er ein Bild des an der Mordseuche erkrankten Deutschland. Und wenn er an den Anfang und das Ende seiner Ausführungen den Satz stellte: »Deutschlands Schicksal wird nur in Deutschland entschieden«, so ist das ein Appell, der an alle geht, nicht zum wenigsten an diejenigen, die dieses rastlose Hirn zu ewigem Stillstand verdammt sehen möchten.

Von Beifall umrauscht, verließ Harden das Rednerpult.

Berliner Volks-Zeitung, 4. Januar 1923

385.

Will Amerika eingreifen? Das neue Programm

Die englische Delegation hat Paris verlassen. Der Händedruck auf dem Bahnhof kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß in Zukunft Bonar Law und Poincaré sich als Gegner gegenüberstehen werden. Der größte Teil der Pariser Presse schwelgt in Wonne über die neu erlangte »Handlungsfreiheit«, und wenn nicht ein Wunder geschieht, werden wir in Kürze erfahren, was sich das Kabinett darunter vorstellt. Einstweilen ist Prophezeien müßig. So viel steht nur fest, daß Frankreich, indem es dem englischen Reparationsplan, der sich gewiß nicht durch besondere Rücksicht auf Deutschlands katastrophale Wirtschaftslage auszeichnete, ein eigenes Projekt entgegensetzte, das durch keine noch so gewagt konstruierte Kompromißbrücke mit dem anderen Ufer zu verbinden war, den letzten entscheidenden Schritt zu seiner politischen und seelischen Isolierung getan hat. An dieser Tatsache ändert in keiner Weise etwas die einstweilige Gefolgschaft Belgiens und Italiens, die beide ihre eigenen Interessen haben und in den letzten Jahren mehr als einmal von der einen zur anderen Front hinübergewechselt sind.

Und nun erscheint an der Peripherie des Reparationskriegsschauplatzes –: Amerika. Abermals. Als Mittler, als Schiedsrichter, als Partei? Auch diesmal scheinen die Vereinigten Staaten sich für keine bestimmte Rolle entscheiden zu wollen. Noch hat Hughes nichts von der bisher gewahrten kühlen Reserve aufgegeben. Von zuständiger Stelle ist bekannt gegeben worden, daß er » informatorische Verhandlungen« einleiten werde, um festzustellen, ob die Mächte bereit seien, einer internationalen Sachverständigenkonferenz zur Fixierung der deutschen Reparationsschuld zuzustimmen, an der auch Amerika teilnehmen könne. Weiter würde Hughes versuchen, sich darüber zu informieren, ob die Mächte geneigt seien, bis dahin von einer politischen Erörterung abzusehen. Sollten diesem Plan Hindernisse in den Weg gelegt werden, so heißt es weiter, so würden die Vereinigten Staaten vor aller Welt feststellen, wen die Schuld trifft.

Das ist ein sehr vernünftiger Entschluß, kein Zweifel, für Europa aber nur ein dürftiger Trost. Denn mindestens seit der Morgan-Konferenz, eigentlich schon seit Genua, liegt es vollkommen klar, daß die Ententemächte nicht eher dazu gelangen werden, das Reparationsproblem unter wirklich kaufmännischen Gesichtspunkten zu betrachten, ehe nicht Amerika in der Frage der interalliierten Schulden Entgegenkommen zeigt.

Man kann dem natürlich entgegenhalten, daß Amerika wenig Veranlassung habe, sich generös zu zeigen, solange man in Europa sich keine Mühe gebe, auch nur die Ansätze produktiver Politik bemerkbar werden zu lassen. Amerika sei verärgert durch das Überwuchern militaristischer Tendenzen, durch die an der Washingtoner Abrüstungskonferenz seitens des Herrn Briand verübte Sabotage, es sei überhaupt nicht willens, Zahlungsnachlaß zu gewähren, damit die Schuldner das Geld in Kanonen, Giftgasen und Monturen anlegen.

Sicherlich enthält diese Argumentation einen richtigen Kern. Aber es darf immerhin nicht unbeachtet bleiben, daß Amerika im Kriege auch Partei war, daß die Schlachtfelder Nordfrankreichs das Blut seiner Söhne eingesogen haben und daß Amerikas Politik im Kriege und während der Friedensverhandlungen die Verwüstung Europas eher forziert als aufgehalten hat. Auch Amerika hat an Europa etwas gutzumachen; denn daß dieses Europa so und nicht anders aussieht, dafür trag Amerika die Verantwortung mit.

Es ist also nichts damit getan., daß abermals »Informationen« eingeholt und Drohungen ausgesprochen werden, die eigentlich nur geeignet sind, Poincarés »Handlungsfreiheit« noch um ein wesentliches zu erweitern. Denn das würde die Zurückziehung der amerikanischen Truppen vom Rhein im Effekt bedeuten. Der Zustand des europäischen Patienten erfordert keine neue Diagnose, sondern schnellste Hilfe. In dieser Hinsicht eröffnet auch das neue Programm allzu schmale Ausblicke. Was nützen Verhandlungen, wenn nur gelegentlich Onkel Jonathans langer Schatten über den Konferenztisch fällt? Amerika muß wieder, voraussetzungslos!, als Gleicher unter Gleichen Platz nehmen. Die Abstinenztherapie Harding-Hughes hat den Zustand unseres Erdteils nicht gebessert!

Berliner Volks-Zeitung, 7. Januar 1923

386.

Der Moralkongreß

Mailand genießt von altersher den Ruf einer sehr unterhaltsamen Stadt. Der Fremde, der über die Alpen kommt, schnuppert begierig den Duft Italiens und setzt mit keckem Hechtsprung mitten in den Strudel der im einzelnen schon recht südlich hitzigen Vergnügungen hinein. Zu diesem Zweck blühen dort in verschwenderischer Fülle Institute, die der Erheiterung des erholungsbedürftigen Fremden dienen und weit opulenter und kostspieliger sind als selbst in den Metropolen der Debauche wie Paris und Wilmersdorf. Deshalb behauptet Mailand seit langem seinen Ruf als allbeliebte Kongreßstadt. Und deshalb hat sich wohl auch der internationale Kongreß für Moral gerade Mailand als Tagungsort ausersehen. Denn gerade wie der Champagnerwein, da, wo er wächst, am besten mundet, muß auch das Laster an der Quelle studiert werden, wenn es wirksam bekämpft werden soll. Dieser Kongreß wird sich, wie es in einer Zeitungsnotiz sehr schön heißt, mit der Feststellung der Vaterschaft (wessen? L.S.), gesetzlichen Maßnahmen gegen die Pornographie und Kinoreform beschäftigen.

Nachtijall, ick hör' dir trapsen. Das ist ja das oft bewährte Rezept, der Kunst ans Leder zu gehen. Man stellt einfach Dinge, die die Kunst betreffen, seelenruhig neben solche rein sozialhygienischer Natur, wie etwa die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten oder Maßnahmen gegen die Straßenprostitution. Denn für die Schwarzkappen sind die Begriffe künstlerische Freiheit und Syphilis identisch. Beide etwas heterogenen Elemente werden durch diese Art zu qualifizieren auf eine Stufe gebracht und mit der gleichen moralindurchsetzten Sublimatlösung behandelt.

Fernliegend bleibt nur, daß es in dieser neuen Periode chauvinistischer Erregungen doch noch Probleme gibt, die Grenzpfähle vergessen zu machen und die Völker einander näher zu bringen. Deshalb seien Sie, meine Damen und Herren, die Sie zur Feststellung der Vaterschaft und zum Kampfe gegen die Pornographie und für die Versittlichung des Kinos demnächst ins farbenfrohe Mailand reisen werden, respektvoller gegrüßt. Trotz Poincaré und Mussolini, der Geist übernationaler Kooperation marschiert trotzdem. Brunners aller Länder, vereinigt euch!

Berliner Volks-Zeitung, 12. Januar 1923

387.

Das Duell der Krüppel

Was nun?

Das ist die Frage der Stunde. Für Deutschland und Frankreich. Herr Poincaré hat das Prävenire gespielt und mit einem brutalen Coup alles in Frage gestellt, was in den letzten beiden Jahren an geistiger Abrüstung und wirtschaftlicher Annäherung immerhin erreicht worden ist. Und trotzdem sind die Dinge allzusehr im Fließen begriffen, als daß selbst eine Kardinaltölpelei solchen Grades alles Errungene zunichte machen könnte. Die Genueser Konferenz, das Wiedererscheinen Rußlands auf der Szene des Welttheaters, der Wiesbadener Vertrag, selbst das Abkommen Stinnes-Lubersac, alle diese Fäden, die herüber und hinüber gingen, um die isolierten Nationalwirtschaften aufs neue mit dem kunstvollen Häkelwerk Weltwirtschaft zu verknüpfen, diese mühevolle, undankbare Arbeit, die am treffendsten charakterisiert wird durch die programmatischen Namen Keynes und Nitti, kann nicht durch einen einzigen Tollhausakt ungeschehen gemacht werden.

Wenn die Einmarschdrohung auch seit langem bestand, ihre Realisierung wirkt dennoch als Überrumpelung. Das Essener Impromptu ist nicht nur ein Rechtsbruch, sondern auch ein Anachronismus. Denn die Franzosen kämpfen gegen einen imaginären Feind. Mindestens seit dem Londoner Ultimatum hat sich die Stellungnahme der deutschen Öffentlichkeit dem Reparationsproblem gegenüber wesentlich vertieft. Die Ära Wirth-Rathenau hat der bis dahin dominierenden, teils erregten, teils frostigen Ablehnung doch sehr viel Boden entzogen und der prinzipiellen Einsicht zum Durchbruch verholten, daß Deutschland um eine Politik der Leistung nicht herumkomme. Auch das Kabinett Cuno hat die Grundlinien der vorhergehenden Regierung widerstandslos übernommen. Und auf dem letzten Parteitage der Deutschnationalen, dieser Versagungspolitiker par excellence, hat Herr Hergt ausdrücklich die Berechtigung bestimmter französischer Forderungen für den Wiederaufbau anerkannt. Daß kein einheitliches und großzügiges deutsches Reparationsprogramm zustande kam, daß auch Wirths und Cunos Projekte Klarheit und feste Umrisse vermissen ließen und dadurch einiges Mißtrauen erwecken konnten, ist nicht auf die Willensstruktur beider zurückzuführen, sondern wurde verursacht durch schwerindustrielle Machtgelüste und parlamentarische Quisquilien. Die offenbaren Mängel der deutschen Reparationspolitik sollen nicht verteidigt werden. Aber an sich gewann der Erfüllungsgedanke immer mehr Terrain. Wenn er heute fast illusorisch geworden ist, so geht das auf das Konto der französischen Politik.

Aber gesetzt den Fall, dieses Deutschland wäre böswilliger und weniger leistungsgeneigt, als es tatsächlich ist, könnte selbst dann Frankreich solche Methoden wählen wie die von seiner Regierung beliebten und von der Kammer gutgeheißenen? Wir wissen es ja, wie gern Frankreich den Helmbusch wehen läßt und auf sein Siegervorrecht pocht, aber letzten Endes steht es doch in seiner blinkenden Waffenzier um keinen Deut günstiger da als das entwaffnete Deutschland. Beide sind sie schwerverwundete Länder, beide sind blutend und siech aus dem großen Treffen gekommen. Was da vor sich geht, ist ein Zweikampf zwischen Krüppeln. Nur daß der eine noch über etwas festere Prothesen verfügt und diesen Vorteil rücksichtslos ausnützt. Denn so turbulent sich auch der französische Militarismus aufführen mag, er ist doch nur die Krücke, die einen Lahmen stützt. Aber der Hinkefuß, der, in martialischen Erinnerungen schwelgend, mit seinem Stock wild um sich schlägt, verliert das Gleichgewicht und stürzt.

England ist durch den Friedensvertrag saturiert. Es ist den lästigen kontinentalen Konkurrenten los, hat dessen Kolonien und Marine übergeschluckt. Es kann trotz wirtschaftlicher Sorgen sich schon gelegentlich eine generöse Geste gestatten. Amerika gefällt sich in der Rolle des Goldonkels, den die armen, kleinen Neffen respektvoll an den Rockschößen zupfen. Die Türkei erscheint verjüngt am Goldenen Horn. Und selbst Rußland ersteht aus dem Blutbade, unsicher und tastend zwar noch aber im magischen Glanz einer großen Zukunft. Die einzigen wirklich Besiegten des Weltkrieges bleiben Deutschland und Frankreich. Denn mag Frankreich tausendmal militärisch gesiegt haben, ein Drittel seines Landes liegt in Trümmern, die russischen Milliarden sind verloren, und es ist selbst an die glücklicheren Alliierten verschuldet. Frankreich braucht Deutschland, wenn es leben will. Und Deutschland wieder, das von Kämpfen erschütterte, muß vorher mit Frankreich ins reine kommen, wenn es wieder gesunden will. Aber es kann nicht gesunden, solange es die Faust im Nacken spürt.

So sind sie, ob sie wollen oder nicht, durch die Wechselwirkung materieller Interessen aneinander gebunden, hat sie das Schicksal mit einander verkettet. Ein Anblick, traurig und lächerlich zugleich, diese beiden Bresthaften wie Gürtelkämpfer gegeneinander wüten zu sehen. Rücksichtslos nützt Frankreich heute seinen Vorteil aus. Aber was kann schon eine nahe Zukunft bringen?

In »Le Calvaire«, Octave Mirbeaus Kriegsroman von 1870, küßt der französische Soldat dem toten deutschen Ulan die kalte Stirn. Und eine unvergeßliche Zeichnung des großen Daumier zeigt ein hohes, schwarz verschleiertes Weib mit gramvoller Gebärde über ein von Leichen bedecktes Schlachtfeld schreitend. Und darüber steht: 1871. Ja, das ist die Geschichte der beiden auf eine kurze, grausame Formel gebracht: flüchtige Besinnung auf dem Calvarienberg, und dann beginnt das Spiel von neuem.

Muß es abermals beginnen? Wer in der Weltgeschichte nicht mehr sieht als eine Arena gräßlicher Gladiatorenkämpfe, als eine Folge von Hieb und Gegenhieb, von Untat und Vergeltung und wieder Untat, der mag an ein solches Fatum glauben. Wir anderen, die wir trotz alledem uns der Überzeugung nicht entschlagen können, daß Vernunft und Menschlichkeit als geheimwirkende Kräfte den Gang der Entwicklung entscheidend mitbestimmen, wollen uns nicht entmutigen lassen, weil durch den Beschluß jener Antireparationsinstanz, die in Frankreich noch immer regieren darf, der Vernunft sowohl als auch der Menschlichkeit ein vielleicht langfristiges Moratorium aufgenötigt worden ist. Poincaré hat auf zwei herzlich schlechte und durch vier Jahre Krieg entwertete Karten gesetzt, auf Militarismus und imperialistische Expansion.

»La séance continue!« rief einst der Präsident der französischen Kammer aus, als ein terroristisches Attentat die Deputierten aus dem Saale zu scheuchen drohte. Das Unrecht an Deutschland, der Frevel an allen friedeheischenden Völkern, begangen durch den Versailler Vertrag, ist längst Gegenstand des Appellationsverfahrens. Die Bajonette im Zentrum der deutschen Arbeit ändern nichts daran.

Die Sitzung geht weiter.

Berliner Volks-Zeitung, 16. Januar 1923

388.

Hermann Wendel

In der Phalanx der sozialdemokratischen Presse fehlt es seit Eisners und Mehrings Tode sehr an Erscheinungen, die mit Recht Beachtung über ihren engeren Kreis von Gesinnungsgenossen beanspruchen können. Im großen ganzen gibt das Cachet doch eine solide Bravheit, die die Klippen der Langeweile nicht immer besonders schwunghaft umschifft, häufiger noch sie gar nicht bemerkt. Ja, wenn ich jetzt in diesem Essayband von Hermann Wendel blättere, Aus drei Kulturen. Literarische und andere Essays. Von Hermann Wendel. Verlag für Sozialwissenschaft, Berlin. so kann ich aus meinem Herzen keine Mördergrube machen, sondern muß es offen aussprechen, daß hier der einzige sozialdemokratische Publizist ist, der durch sein stilistisches Gewissen, seinen freien und weiten Horizont und seine geistige Elastizität so weit hervorragt, daß bei der Beurteilung seines Schaffens das parteipolitische Moment überhaupt nicht mehr mitspielt und eine rein ästhetische Wertung platzgreifen darf.

Hermann Wendel ist kein Unbekannter. Vor zehn Jahren zog er als jüngster Abgeordneter in den Reichstag ein und erregte einen Sturm nationaler Entrüstung, als er, im Frühjahr 1914 auf den Salut eines französischen Parteigenossen für Deutschland antwortend, seine Rede mit dem leidenschaftlichen Ausruf »Es lebe Frankreich!« schloß. Das war nicht »würdelos«, wie damals die Anstandsdamen der bürgerlichen Fraktionen zeterten, sondern der Ausdruck heißer Friedenssehnsucht, durchbebt von dem Schauer allzu naher Ereignisse. Heute ist Wendel als aktiver Politiker, ich weiß nicht warum, stark in den Hintergrund getreten. Nur in der »Glocke« sind allwöchentlich seine rücksichtslosen Zeitglossen zu lesen. Er schreibt, wie so viele schlechte Patrioten, ein Deutsch, von dem die guten Patrioten profitieren könnten.

Seinen eigentlichen Ruhm verdankt er nicht seiner lebendigen Heine-Biographie, sondern seinen Schriften über die Kultur und die politischen Probleme der Balkanvölker, insbesondere Jugoslawiens. Niemand in Mittel- oder Westeuropa beherrscht diesen schwierigen Fragenkomplex so gut wie er, niemand hat sich so tief und liebevoll in Wesen und Eigenheit Südosteuropas versenkt. Serbien würde nur einen Akt der Gerechtigkeit vollziehen, wenn es diesen deutschen Kosmopoliten zum Ehrenbürger ernennen wollte.

Der vorliegende Band enthält eine Reihe von Aufsätzen, die zwischen 1904 und 1922 in deutschen Zeitungen veröffentlicht worden sind. Sie können die Publikation in einem Sammelbuch vertragen. Formal bestechend und inhaltlich instruktiv bringen sie eine farbige Folge von Gestalten aus dem deutschen, französischen und südslawischen Kulturkreis. Deutschland wird u.a. von Heinrich Heine, Herwegh, Lassalle, Detlev v. Liliencron und Alfred Kerr, Frankreich von Benjamin Constant, Baudelaire, Flaubert und Henri Barbusse repräsentiert. Besonders interessant sind natürlich die südslawischen Porträts; neben lichteren Geistern ist die Spitzbubenphysiognomie des seligen Nikita von Montenegro in unvergeßlichen Linien festgehalten.

Berliner Volks-Zeitung, 16. Januar 1923

389.

Gebot der Stunde

Mehr Aktivität!

Vom Rhein bis zur Lippe wimmelt ein stahlblauer Ameisenhaufen, die Poilus, Stadt für Stadt, Dorf für Dorf, Stück für Stück deutschen Landes unter die Botmäßigkeit eines fremden Staates bringend. Durch die Straßen der Industriezentren wälzt sich die drohende Schwere dunkler Eisenraupen, flankiert von pittoresken Kavalleriekolonnen, die sich neben den Monstren moderner Vernichtungstechnik etwas verjährt ausnehmen.

Ob die Soldaten mit Freuden dabei sind? Kinder des Volkes, sind sie zur Genüge unterrichtet, daß Eltern und Brüdern daheim der Brotkorb ziemlich hoch hängt. Ob sie die Zusammenhänge wittern? Ob sie wohl ahnen, daß der Operettenkrieg an der Ruhr, der der Generalität ohne Zweifel viel Pläsier bereitet, schuld daran ist, daß in ihrer zerstörten Heimat aus den Ruinen kein neues Leben sprießen will? Vielleicht wissen sie es noch nicht. Denn eine tüchtige Regierung in Paris sorgt dafür, daß die berühmte »vorzügliche« Stimmung aufrecht erhalten bleibt, und veranstaltet zu diesem Zweck einstweilen eine muntere Defaitistenhetze, deren erstes Ziel der kommunistische Deputierte und Leiter der »Humanité« Marcel Cachin ist, den man scheinbar zur Opferung auf dem Sühnealtar des gekränkten Vaterlandes ausersehen hat. Aber Frankreich ist nicht nur das Land des Justizverbrechens an Caillaux, sondern auch der Rehabilitation des Hauptmanns Dreyfus, für den einst die kühnsten und stärksten Köpfe der Nation in die Schranken traten. Zolas tönendes »J'accuse«, das vor fünfundzwanzig Jahren den Willen zur seelischen Erneuerung mobilisierte, schwingt leise weiter und wird eines Tages den befrackten und uniformierten Advokaten der Zerstörungspolitik mächtig anschwellend, wie die Posaune des Gerichtes, in die Ohren dröhnen.

Doch einstweilen behauptet die Stimmungsmache noch das Feld. Mag man den Politiker Poincaré ruhig einen größenwahnsinnig gewordenen Thersites schelten, der Regisseur Poincaré versteht sein Handwerk ohne Frage. Es ist kein Zweifel, daß die demokratische Linke seine Methoden mißbilligt und selbst unter den weißen Hemdbrüsten der Herren vom regierenden Block ein Gefühl des Unbehagens gelegentlich den Herzschlag verlangsamt. Aber nach außen hin erscheint die Stimmung einheitlich und die Opposition unbeträchtlich. Ein kolossaler Druck lastet auf der französischen Demokratie. Sie muß sich wohl oder übel der einen fatalen Parole beugen, wenn ihr nicht alle brennenden Teufel des Nationalismus an die Gurgel fahren sollen. Diese Abriegelung der Linken, dieser Triumph der schreienden poincaristischen Fassade über das Innere des Gebäudes, wo es weit weniger farbenfroh und sporenklirrend zugeht, das ist ein Meisterstück politischer Theaterspielerei.

Herr Poincaré ist sicherlich kein Vorbild. Aber diese energische Ausdauer für die Schaffung eines einheitlichen Exterieurs und dieses Verständnis für die Stimmungsbedürfnisse eines Volkes, – ich glaube, davon könnte auf ihre Art auch die deutsche Regierung lernen. Die von ihr proklamierte passive Resistenz entspringt sicherlich nicht freier Wahl, sondern wurde ihr durch die Aktion des Gegners aufgepreßt. Aber wenn sie diese Taktik durchführen will, ohne in Kürze vor der Alternative zu stehen, entweder klein beizugeben oder vom Schauplatz zu verschwinden, so muß sie den psychologischen Forderungen dieser krisenvollen Tage doch in weit höherem Maße Rechnung zu tragen versuchen.

Sie darf es nicht bei den Protesten bewenden lassen und im übrigen die Erweckung des furor teutonicus begünstigen. Es heißt jetzt vor allen Dingen, den furchtbaren ökonomischen Folgen der Okkupation rechtzeitig vorzubeugen. Schon heute machen sich die ersten Anzeichen bemerkbar. Die Mark sinkt weiter ins Fiktive, und in kurzer Zeit werden nicht nur die Preise in katastrophaler Weise steigen, sondern zum erstenmal auch seit fast drei Jahren wird das graue Gespenst der Arbeitslosigkeit bei uns im Lande umgehen.

Der Herr Reichskanzler hat Maßnahmen versprochen gegen bestimmte Auswüchse, die seit langem das Volk verärgern. Aber es kommt ja schließlich nicht vornehmlich darauf an, daß ein paar kleiner Schieberchen, die die Justitia allzu dreist hinter der Binde kitzelten, sich in den Maschen des Wuchergesetzes verfangen oder daß an ein paar Schlemmerstätten, die uns gewöhnlichen Sterblichen doch zu neunundneunzig Hundertsteln verschlossen sind, ein Exempel statuiert wird. Daß ein schwervalutiger Ausländer zum Souper sich indische Schwalbennester leistet und dann in Nachtlokalen sich an ausgezogenen Nutten delektiert und für eine Pulle Schampus, ohne zu zucken, Dreiviertel des Monatsgehalts eines kaufmännischen Angestellten dem Ober in die Hand drückt, – das alles ist mehr Sache des Geschmackes als Sache des Gesetzgebers. Dessen Amt ist es nur, zu verhindern, daß der allgemeine Lebensstandard noch weiter gedrückt wird, daß das tägliche Brot des Volkes zu einer munter sprudelnden Verdienstquelle für Produzenten und Händler wird. Also: Kampf fürs Brot, nicht Offensive gegen Likörstuben!

Der Herr Reichskanzler und mit ihm die Parteiführer haben zu nationaler Geschlossenheit aufgefordert. Eine gute Losung, die sich dennoch nicht durchsetzen wird, wenn nicht gewissen Imponderabilien eingehend und unverzüglich Rechnung getragen wird. Das Volk soll neue Opfer bringen. Aber wenn das Volk sieht (und es hat sehr scharfe Augen für so etwas!), daß das Opfer sich nicht auf alle erstreckt und die große Not eine bestimmte Kategorie von Volksgenossen nur mit neuen Profitmöglichkeiten beglückt, wenn sich an den Kriegs- und Revolutionsgewinnler auch noch der » passive Resistenz«-Gewinnler reihen soll, dann bleibt die nationale Geschlossenheit eine fromme, aber kaum seriöse Vorstellung.

Es war in diesem Sinne ein schwerer Fehler, daß in den Tagen des Einmarsches, in den Tagen einmütiger Erbitterung eine exorbitante Erhöhung des Kohlenpreises stattfinden durfte und eine hanebüchene Preissteigerung auf dem Lebensmittelmarkt einsetzte. Da hätte die Regierung eingreifen müssen. Auch die Agrarier dürfen sich nicht drücken, wenn nun einmal Opfer gebracht werden müssen. Das muß den Herrschaften deutlich gemacht werden. Denn wenn einer der allgemeinen Pflicht sich straflos entziehen kann, dann tut es bald jeder.

Es soll nicht bezweifelt werden, daß es dem Kabinett an gutem Willen fehlt. Es muß aber bezweifelt werden, ob es nach der ganzen Einstellung seiner führenden Persönlichkeiten imstande ist, das zu tun, was die Stunde gebietet. Denn das Gepräge verleiht ihm die Deutsche Volkspartei, die Partei des schrankenlosen wirtschaftlichen Individualismus also. In dieser Partei dominiert die Großzügigkeit eines Unternehmertums, dessen Meriten nicht verkleinert werden sollen, dem aber der Schutz der wirtschaftlich Schwachen stets ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist. Das Programm der Deutschen Volkspartei mit seiner Doktrin des sozialen Sichauslebens ist Problemen wie den gegenwärtig akuten nicht gewachsen. Die Zeit der Verelendung unterliegt anderen Gesetzen als die der expansiven Prosperität.

Vor einem Vierteljahr begann der große Ansturm gegen die alte Koalition zugunsten eines schwerindustriellen Kabinetts. Das Patronat der Deutschen Volkspartei über die Regierung, so hieß es damals, würde zur baldigen und befriedigenden Lösung der ganzen Reparationsfrage führen. Jetzt ist, wie unter Fehrenbach-Simons, die Partei der Schwerindustrie die ausschlaggebende geworden. Aber, ist es mehr als ein Zufall?, genau wie damals stellt sich die Reparationsfrage als schier hoffnungslos verbuddelt dar, die außenpolitische Situation ist fürchterlich, und alle Dämonen der französischen Vernichtungsstrategie, die von Sozialisten und Demokraten immerhin noch in Bann gehalten wurden, schwärmen entfesselt über die Demarkationslinie. An der Deutschen Volkspartei klebt wirklich so etwas wie die Rolle des Jettatore, es gibt Unheil, wenn sie regiert, – sie ist die prononzierte Partei des nationalen Unglücks. Dieses aber kann nicht durch die eine oder andere Partei beschworen werden, auch nicht von den mächtigen Herren der Produktion, sondern nur durch eine weise und vorurteilslose Konzentration aller schaffenden Kräfte. Die passive Resistenz nach außen darf nicht umschlagen in eine passive Resistenz nach innen. Waffenloser Widerstand dem französischen Imperialismus, aber aufs höchste gesteigerte Aktivität gegen alle Ausbeuter der Volksnot!

Berliner Volks-Zeitung, 17. Januar 1923


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