Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

320.

Bayerns »Föderalismus«

Die Nachforschungen von badischen Justizbeamten in München haben den hellen Zorn der bayerischen Ordnungsparteien erregt; außerhalb Bayerns wird von den Reaktionären aller Schattierungen sekundiert, und die »Deutsche Tageszeitung« nimmt es sich heraus, von einer »Bespitzelung« Bayerns zu sprechen. Das ist natürlich gehässigste Übertreibung, niemand will sich in innerbayerische Angelegenheiten einmischen, aber wenn politische Persönlichkeiten, die seit Jahr und Tag eine einflußreiche Rolle spielen und den Regierungskurs mitbestimmen, in den Verdacht geraten, Mitwisser und Begönnerer einer feigen und grausamen Mordtat zu sein, resp. wenn die Spuren, denen die Staatsanwaltschaft nachgehen muß, in das Hauptquartier der patentiertesten Ordnungshüter führen, so kann kein Pochen auf das starkentwickelte bayerische Stammesgefühl, auf geheiligte Traditionen und wohlerworbene Rechte darüber hinwegtäuschen, daß dort im Staate etwas faul ist.

Wir wollen hier nicht noch einmal das umfangreiche Anklagekapitel aufrollen. Es ist wohlbekannt. Auch das gelegentliche Zusammenarbeiten bayerischer Monarchisten mit Agenten französischer Klüngel chauvinistisch-klerikaler Färbung ist wiederholt von Blättern der Rechten, wenn auch etwas verschämt, zugegeben worden. Wichtiger ist das Hauptargument, mit dem sie alle, von Xylander und Pittinger bis zu Heim operieren, das unverfängliche Mäntelchen, das sehr viel Verfängliches deckt: – es ist das föderalistische Argument.

Die Streitfrage »Zentralismus oder Föderalismus?« ist so alt wie Bismarcks Reichsgründung. Es hat deswegen oft Debatten von sehr unterschiedlichen Hitzegraden gegeben, aber im allgemeinen war man sich darüber einig, daß bei dieser Frage nicht nur das Stammesbewußtsein der Angehörigen der Länder den Ausschlag zu geben habe, sondern daß mindestens in gleichem Maße finanz- und verwaltungstechnische Momente zu berücksichtigen seien. Ob strengere Bindung oder Lockerung des Reichsgefüges: – das war für viele, die sich ernsthaft mit diesem Problem befaßten, in erster Linie eine Frage der Praxis, d.h. also der kühlen nüchternen Erwägung.

Von einer halbwegs einheitlichen föderalistischen Bewegung war in der wilhelminischen Ära nicht die Rede. Den welfischen Junkern kam es in erster Linie auf die Wiedereinsetzung ihres Königshauses an; für den bayerischen Klerus waren kulturpolitische Momente am wesentlichsten; die ziemlich starke föderalistische Diaspora in den Rheinlanden, in Hessen und Süddeutschland aber war in erster Linie demokratisch orientiert, erhielt Tendenzen von 1848 aufrecht und bekannte sich durchweg zu dem großdeutschen Ideal. Der alte Föderalismus also war nicht reichsfeindlich, sondern verwarf Bismarcks kleindeutsche Lösung als unvollkommen, forderte größere Selbständigkeit der Gliedstaaten, um einmal den Anschluß Österreichs zu ermöglichen, und um gegenüber dem spezifisch preußischen Militarismus und Bureaukratismus die freiheitliche Überlieferung der süddeutschen Länder zu wahren. Der alte Föderalismus war schwarzrotgold und, trotzdem seine Verleumder es oft genug behaupteten, niemals separatistisch. Der neue Föderalismus, mit dem Hauptquartier München, ist reaktionär und durch und durch separatistisch. Das ist der Unterschied.

Kahr, der Protektor Ludendorffs, hat als erster die föderalistische Parole für Bayern ausgegeben. Lerchenfeld, der Besonnene, mußte immerhin die Parole aufnehmen, wenn er auch von der Praxis seiner Vorgänger abrückte. Vor kurzem hat der Innenminister Dr. Schweyer in einer Programmrede eine gründliche Revision der Weimarer Verfassung im föderalistischen Sinne gefordert.

Wir tun gut, die Frage einer Neugliederung des Reiches, auch wenn sie aus vielen wirtschaftlichen Gründen wohl in der nächsten Zeit nicht akut werden wird, nicht aus den Augen zu verlieren. Aber wir tun ebenso gut, in dem neubayerischen Föderalismus nicht mehr zu sehen, als eine populäre Maske für reaktionäre und monarchistische Bestrebungen, aus keinem anderen Grunde geschaffen, als um den Koalitionsregierungen im Reiche und in Preußen Schwierigkeiten zu bereiten und die Entwicklung zur Demokratie zu verhindern. Während gegen das von »Juden und Agenten des Internationalismus« regierte Reich gehetzt wird, verschmäht man es nicht, mit Kommissären der französischen Reaktion über eine Lostrennung Bayerns vom Reiche und Vereinigung mit Tirol oder über die Schaffung einer Donaukonföderation zu verhandeln. Und während man in München Flugblätter verteilt über die Wirtschaft der »vaterlandslosen Gesellen« in Berlin, liefert man den Horthy-Banden die Waffen zur Massakrierung der Deutschen des Burgenlandes. Das sind die bayerischen »Föderalisten«, abgesprengte Elemente der preußischen Junkerkaste, für die einst die Vorherrschaft Preußens und die Nichtachtung der Bundesstaaten Selbstverständlichkeit war, solange sie fest im Sattel saß und die heute bereit ist, das Reich zu zerstören, weil sie diesen Platz aufgeben mußte.

Neuerdings wird kolportiert, die Deutschnationalen gedächten Herrn v. Kahr als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Gesetzt den Fall, das gelänge, oder die Herrschaften, die in München die Macht besitzen, kämen durch einen großen Wahlerfolg der Rechten in die Reichsregierung, die Umsetzung ihrer föderalistischen Theorien in die Praxis würde höchst seltsam sein. Wehe dann den Gliedstaaten, die sich nicht einfach der Reaktion fügten! Wehe den demokratischen Regierungen Hessens oder Badens, wehe den sozialistischen Regierungen Sachsens und Thüringens! Der »christliche und föderalistische Kurs«, der Bayern in Deutschland eine so traurige Sonderstellung verschafft hat, wäre für das Reich der Anfang vom Ende.

Berliner Volks-Zeitung, 28. Februar 1922

321.

Städte

Es war vor einigen Tagen auf der Plattform der Straßenbahn. Neben mir unterhielten sich zwei junge Leute über ihre Reisepläne, und ich hörte, wie der eine sagte: »In Paris läßt es sich viel billiger leben als hier. Aber Paris ist nichts für mich; ich habe zuviel Temperament.«

Ich wandte flüchtig den Kopf zur Seite und sah einen schmächtigen Jüngling, der augenscheinlich nicht allzuviel zuzusetzen hatte.

Doch sein Stoßseufzer rührte mich. Ich dachte an unsere arme Jugend mit ihren ewig imaginären Reiseplänen. Sie werden alt und grau werden, die jungen Leute, bis sie einmal aus Deutschland herauskommen. Und trösten sich mit Renommistereien.

Und doch, wie viele Städte habe ich nicht schon ersehnt in meinem Leben und wie schmal war schließlich die Erfüllung. Hoffnung auf die Fahrt in blaue Ungewißheit ist herrlich, aber die Verwirklichung bleibt gewöhnlich um etliches hinter der Erwartung zurück. Wir sind nicht mehr vom Stamme von Eichendorffs Taugenichts, und er selbst ist längst gestorben und verdorben; Zahlkellner und Hotelportiers haben ihm das Herz gebrochen.

Ich hatte in jungen Jahren eine Sehnsucht, und die hieß: Brügge. Zwischen 1914 und 1918 verschaffte mir die Liberalität der Obersten Heeresleitung wiederholt Freifahrscheine nach dem Westen. Und so bin ich dahin gekommen.

Der alte Haeseler ist bekanntlich trübsinnig geworden, weil der Wunsch seiner alten Tage, in Paris noch einmal Tee zu trinken, an der Hartnäckigkeit der Herren Joffre und Gallieni scheiterte. Ich habe wiederholt in Brügge Kaffee getrunken und doch hätte mich trotz dieser offenbaren Gunst Fortunas fast das gleiche Geschick wie den alten Feldmarschall ereilt.

Brügge, Bruges-la-Morte, tote Stadt, mit deinem trotzig gereckten Belfried, deinen verwitterten Domen und deinen von gotischen Giebeln überragten winkeligen Gassen, in denen noch immer das Jahr 1500 zu träumen scheint, du Stadt, vergessen von einer Zeit, die besseres zu tun hat, als sich um groß gewordene Steine zu kümmern. So lebtest du in meiner Vorstellung, und die Phantasie tat zur Ausschmückung das ihrige.

... ich kam also nach Brügge. Zu beiden Seiten der Einfahrt bewiesen großzügige Abortanlagen, augenfällig militärischer Herkunft, daß auch hier ein straffer organisatorischer Geist mit Pauken und Trompeten seinen Einzug gehalten hatte. Und dessen Walten spürte man überall, vom Bahnhof angefangen bis hinaus zum stillen Minnewater mit den düstern Beghinenhäusern. An jeder Straßenecke Wegweiser mit Aufschriften wie »Koflak« oder »Stopi« oder ähnlichen erlesenen Vokabeln aus dem militärischen Desperanto. Und irgendwo an einer romantischen Ecke, wo vielleicht einmal Hans Memling in stiller Abendstunde einem hübschen Urbild seiner Ursula nachgestiegen ist, da war auf weithin sichtbarem Schild zu lesen: »Zur Entlausungsanstalt!« Wie um zu beweisen, daß es in der von den Dichtern zu Unrecht tot genannten Stadt doch noch recht lebendig zuging.

Es ist eine herbe Erkenntnis: keine Stadt gibt uns mehr als wir an Stimmung oder Einbildungskraft mitbringen. Hapert es damit aus irgendwelchem Grunde, so wirkt alle Schönheit von Kunst und Natur nicht besser als eine verdrießlich hingepatzte Kulisse. So erging es mir in Brügge, und so ist es andern am Zürichsee und an der Adria ergangen.

Doch, um gerecht zu sein, es darf nicht verschwiegen werden, daß Menschen, die aus Berlin kamen, über den Breiten Weg in Magdeburg so selig, so zukunftsfroh und unternehmungslustig wandelten, als wäre das nicht der Breite Weg zu Magdeburg, sondern ein palmenumsäumter Boulevard von Rio.

Aber das mag wohl an der (weiblichen) Begleitung gelegen haben.

Berliner Volks-Zeitung, 28. Februar 1922

322.

»Des alten Löwen letzter Sprung«

Es wäre verfehlt, in diesem Augenblick von einem Ende der englischen Regierungskrise zu reden. Eine bestimmte Phase nur hat ihr Ende erreicht. Die Krise selbst bleibt latent und kann bei jedem geringfügigen Anlaß wieder akut werden. In England selbst wird die Situation durchaus zwiespältig beurteilt. Während ein Teil der Presse demonstrativ hervorhebt, daß Lloyd George, den Anhängern Youngers zum Trotz, beschlossen habe, im Amte zu bleiben, schreibt die liberale »Westminster Gazette«, in wenigen Tagen schon werde man hören, daß er seine Demission gegeben habe. So erwartet man also Überraschungen.

Was will Lloyd George?

Denn er selbst ist es gewesen, der durch seine Forderung, Sir George Younger von Partei wegen kaltzustellen, die Zuspitzung herbeigeführt hat. Und heute entscheidet er sich zum Bleiben, um die Younger-Gruppe zu »ärgern«, wie man sagt, nachdem sie sich geweigert hat, ihren Sprecher fallen zu lassen. Das wäre eine offenbare Niederlage. Oder ist dem Taktiker Lloyd George jener Younger, der ihm vor drei Tagen noch ein Stein des Anstoßes war, über Nacht so unwichtig geworden, daß es ihm wertlos erscheint, ob der Mann bleibt oder nicht?

Diese Frage ist kaum zu beantworten. Halbwegs erklären läßt sich die äußerst komplizierte Taktik des englischen Premierministers vielleicht nur durch den Hinweis darauf, daß er versuchen möchte, mit einem neuen, seinem Wollen adäquaten Parteigebilde in die für die regierende Koalition sehr zweifelhaften Wahlen zu gehen.

Jede Koalition ist ein Sorgenkind. Auch die englische Koalition, die nach Dauer und Leistung immerhin an der Spitze marschieren darf. Zuerst sprang Herr Asquith mit einer Gruppe Altliberaler ab. Die Arbeiterpartei zeigte bedrohliches Wachstum und heute laufen die Fäden von Asquith zu Henderson und Clynes herüber und hinüber. Vielleicht werden diese beiden Parteien bei den Wahlen geschlossen auftreten. Lloyd George selbst erkannte diese Gefahr und seine auswärtige Politik glich sich in den letzten beiden Jahren immer mehr den Wünschen der Asquith-Gruppe und der Arbeiterparteiler an. Man kann nicht eigentlich sagen, daß ihm die Unionisten, die rechte Flanke der Koalition, seine Außenpolitik erschwert haben. Die englischen Konservativen, auch die Franzosenfreunde unter ihnen, wie etwa Balfour oder Lord Derby, sahen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, erkannten die gefährlichen Konsequenzen des Versailler Friedens, und erhoben deshalb aus Klugheit keine prinzipiellen Einwände, auch wo ihr Gefühl nur mühsam mitgehen wollte. Aber durch die gemeinsame Politik mit den Liberalen, durch die Fesselung der Führer an die willensstarke und überragende Person des Premierministers verlor die Partei immer mehr an Selbständigkeit, und mißtrauische Gemüter fürchteten den Augenblick, wo die radikalisierten Wählermassen einfach die Existenzberechtigung der alten Tory-Partei anzweifeln würden. So griff eine tiefe Verstimmung um sich, jene langsam fortschreitende Verstimmung, die schließlich alles durchdringt, so mürrisch und unlustig macht und in der Folge deshalb oft verhängnisvoller werden kann als der offene Konflikt. Als ein Symptom der inneren Gärung mußte bereits im vergangenen Jahre der Rücktritt des Parteiführers Bonar Law angesehen werden, der die sicherste Stütze der Koalition war und dessen Ausscheiden Lloyd George, nicht mit Unrecht, mit mühsam verhaltenem Schluchzen dem Parlament ankündigte. Dann kam jene, durch ihre Popularität ungemein gefährliche Bewegung, die sich gegen die Verschwendung im Staatshaushalt richtete und alle Parteien gleichmäßig ergriff. Man sieht: das letzte Wort wurde niemals ausgesprochen, aber in einem halb unterbewußten Mißbehagen, das letzten Endes nicht mehr war als der psychologische Niederschlag der großen ökonomischen Depression, wurde alles getan, um die Unzufriedenheit zu nähren und die Position der Regierung zu unterhöhlen.

Und als es endlich so weit gediehen war, daß Sir George Younger, ein nicht gerade berühmter Politiker, aber doch offizielle Person der Unionistischen Partei, seine Vertrauensstellung zu einer offenen Agitation gegen die Koalitionsregierung mißbrauchte, da war für Lloyd George der Augenblick gekommen, dem Kampf im Dunkeln ein Ende zu bereiten und auf öffentliche Austragung zu dringen.

Lloyd George weiß, daß die öffentliche Auseinandersetzung, mag sie auch seinen zeitweiligen Rücktritt herbeiführen, seine Sache nur stärken kann. Die Unionistenführer haben keinen Hehl daraus gemacht, daß sie ohne ihn, den einst bis aufs Blut bekämpften Sozialradikalen, nicht imstande seien, eine Regierung zu bilden. Die Koalitionsliberalen haben Asquith im Nacken sitzen und sind auf Gedeih und Verderb an ihn, Lloyd George, den alten Führer, gefesselt, der die Einheit der Partei sprengte und seine Anhänger in eine Front mit den früheren Gegnern stellte. Das englische Parteischema, Whig-Tory, durch eine zweihundertjährige Tradition geheiligt, ist hoffnungslos erledigt. Lloyd George, der Feuerkopf und große Unfraktionelle, wird die koalitionsfreundlichen Flügel der beiden Parteien, die ihm durch den Lauf der Dinge verfallen sind wie Antonios Pfund dem Shylock, zu einer neuen Einheit zusammenschweißen und mit einer neuen Partei in den Wahlkampf treten. Großes steht für ihn auf dem Spiele. Wenn ein Mensch in diesen Jahren für Europa schicksalsvoll war, so war er es. Wenn einer sein Wort tausendfach verpfändet hat, so er. Er will nicht auf halbem Wege liegen bleiben.

Bernard Shaw hat einmal geschrieben, der Weltkrieg sei des alten (englischen) Löwen letzter Sprung gewesen, die letzte gewaltige Anstrengung zur Rettung des großen Werkes, des Imperiums. Auch Lloyd George, der wie kein zweiter Albions Klugheit und Lebenskraft repräsentiert, rüstet zu einem letzten Sprunge. Wie er stets, um den Inhalt zu retten, Form und Überlieferung rücksichtslos über den Haufen warf, so ist auch diese neue Aktion ein heroischer Versuch, durch Preisgabe jedes politischen Brauches, noch einmal die energischsten Elemente des englischen Bürgertums zum Siege zu führen ... sowohl gegen die konservative Reaktion als auch gegen die täglich drohender werdenden Aspirationen der Sozialisten. Die kommenden Monate schon werden erweisen, ob das englische Bürgertum sich noch seinen stolzen Unabhängigkeitssinn und seine große politische Zucht bewahrt hat, jene Eigenschaften, die ihm die Herrschaft über eine servile und am Kleinlichen haftende Welt errungen haben. Niemals war Lloyd George mehr der Führer seiner Nation, als in diesem Augenblick, da seine Macht wankt. Denn er kämpft um den Geist Altenglands, den ein längst senil gewordenes Parlament zu verpfuschen droht.

Berliner Volks-Zeitung, 7. März 1922

323.

Politik und Milieu

Eine italienische Revue brachte neulich Bilder von jenem Gebäude, das dazu ausersehen ist, dem in Genua versammelten Weltparlament als Verhandlungsstätte zu dienen. Es sind große, üppige Prunkräume im ausladendsten italienischen Barock ... mit Ausblick auf das blaue ligurische Meer. Denn die Schönheit der Gemächer und der Blick auf die Herrlichkeiten der Natur erhebt den Geist über die Niedrigkeiten des Lebens.

Man kann den gegenwärtigen Lenkern Europas vielleicht manches absprechen, was man ihnen im Interesse der Regierten aufrichtig wünschen möchte. Über eines jedoch verfügen sie in reichstem Maße: – sie haben Geschmack.

In der Tat, sie haben Geschmack. Und Weltkenntnis. Sie wissen, wo es sich gut leben läßt. Die Wahl der Konferenzorte spricht dafür: Spaa, San Remo, Rapallo, Cannes, Genua! Sie wissen klimatische Vorzüge zu schätzen und suchen sich stets zur Abwickelung ihrer Geschäfte Plätze aus, die andere Sterbliche, soweit es ihre Mittel erlauben, ausschließlich für Erholungszwecke frequentieren. Leider läßt sich nicht mit Fug behaupten, daß die Aussicht, die z.B. die Konferenz von Cannes für die Objekte der hohen Politik, die Völker nämlich eröffnete, ebenso bezaubernd wäre, wie diejenige, die ein Blick von der Terrasse des Hotels gewährt, in dem Herr Briand wohnte. Es ist leider wahr, die Ergebnisse decken sich nicht mit dem Aufwand und erst recht nicht mit dem Milieu.

Ein Vorschlag zur Abhilfe! Man meide doch endlich die weißen Paläste an blauen Buchten, die eleganten Hotelfoyers, die Säle mit den üppigen Malereien und der goldüberzogenen Stukkatur. Im Osten der großen Städte, da wo über endlosen grauen Straßenzügen eine Sonne aufgeht, von der die Bewohner im allgemeinen herzlich wenig zu sehen bekommen, da Staub und Dunst ein dichtes Zeltdach über ihre Häupter gespannt haben, dort pflegen durchweg die Gewerkschaftshäuser zu liegen. Das sind, meine Herren, schlicht ausgestattete, aber massive Gebäude, immerhin groß genug und mit dem nötigen Apparat versehen, um einen Kongreß mit zahlreicher Teilnehmerschaft zu beherbergen. (Daß im Hause auch Logier- und Verpflegungsmöglichkeiten sind, muß doppelt angenehm empfunden werden.) Die Portale sind gewöhnlich von einem dichten Kordon von Stellenlosen umgeben; ein Anblick, der stärker an den Ernst des Lebens gemahnt als etwa ein Blick auf die Hauptpromenade von San Remo.

Der Zweck dieses Vorschlages ist offenbar. Seit den nächtlichen Spaziergängen des großen Kalifen haben die Mächtigen dieser Erde immer mehr den Sinn verloren für die Wirklichkeiten, in denen Millionen leben und sterben müssen. Dem Staatsmann, der nie etwas davon gesehen hat, mag eine Offenbarung werden vor dieser Erscheinung unbekannter Welten. Und der andere, der einmal in seiner Jugend ein großer Sozialreformer vor dem Herrn war und in gepolsterten Amtssesseln seine Jugend vergaß, mag an jene Abende im Osten der Stadt zurückdenken, da er in verräucherten Klubzimmern ein Evangelium predigte, über dessen Konsequenzen er im eleganten Tanzschritt hinwegsetzte.

Berliner Volks-Zeitung, 14. März 1922

324.

Die gewissenhafte Revolution

Verfassung und Hochverrat

Herr v. Jagow hat neulich in einer Zuschrift an die Presse bestritten, sich am 13. März 1920 bei seinem Eindringen in die Reichskanzlei auf das »Recht des 9. November« berufen zu haben. Man findet über diese Episode sowie über die ganze Tragikomödie des Kapp-Putsches vollen Aufschluß in der von uns bereits gewürdigten vorzüglichen Publikation Karl Brammers » Verfassungsgrundlagen und Hochverrat«, in der aus stenographischen Verhandlungsberichten und amtlichen Urkunden des Jagow-Prozesses ein Bild zusammengestellt ist, das durch seine Eindeutigkeit frappiert und für die politische Erziehung des deutschen Staatsbürgers Wertvolles leisten kann.

Das Recht des 9. November! Auch wenn Herr v. Jagow das Wort nicht oder nur ironisch gebraucht hat, es bleibt in seiner Gefährlichkeit bestehen. Es liegt ja doch ganz unverhohlen die Ansicht darin, daß seit dem Zusammenbruch jeder Regierungsakt der Gesetzmäßigkeit entbehrt, daß also, um den Jargon der Deutschnationalen zu gebrauchen, Deutschland seitdem von einer Bande von Hochverrätern und Gesetzesbrechern regiert werde, die zu beseitigen, oder denen die Ausübung ihres Amtes mit allen Mitteln zu erschweren, höchste vaterländische Pflicht sei. Hier liegt also die Keimzelle aller großen und kleinen reaktionären Verfassungssabotage; mit solcher Argumentation mögen Erzbergers Mörder vor dem eigenen Gewissen ihre abscheuliche Untat gerechtfertigt haben. Denn Eidbrechern braucht keine Treue gehalten zu werden. Indem aber die große reaktionäre Partei mit ihren zahllosen Verästelungen und Anhängseln eine an sich windige Phrase zum Dogma erhebt, läßt sie bereits durchblicken, welche moralische und rechtliche Grundlage sie sich für den Fall einer kommenden Generaloffensive zu schaffen gedenkt.

Das Reichsgericht hat durch diese Rechnung einen Strich gemacht. Das Reichsgericht sieht in der Weimarer Verfassung weder ein Interimistikum, das heißt einen Notbehelf, bis wieder eine »richtige« Verfassung gemacht wird, noch einen Geßlerhut, von übermütigen Fronvögten als Sinnbild ihrer rechtswidrigen Gewalt auf offenem Markte aufgepflanzt. Nach der Entscheidung des Reichsgerichts ist die Weimarer Verfassung die Verfassung des Deutschen Reiches und als solche durch die Gesetze geschützt. In der Begründung des reichsgerichtlichen Urteiles heißt es: »Mit Unrecht wendet die Verteidigung ein, durch den Umsturz vom 9. November 1918 sei die Strafvorschrift des Paragraphen 81, 1 Nr. 2 des Strafgesetzbuches gegenstandslos geworden, sofern in ihr nur die Reichsverfassung vom 16. April 1871 gemeint sei, denn das Strafgesetzbuch schützt Einrichtungen und Rechtsgüter nicht in ihrem damaligen, sondern in ihrem jeweiligen Bestande, und da die Vorschriften in Paragraph 81 durch kein Gesetz aufgehoben oder abgeändert worden sind, gilt Absatz 1 Nr. 2, soweit die Verfassung des Deutschen Reiches genannt ist, nach wie vor mit der Maßgabe weiter, daß jetzt die Verfassung vom 11. August 1919 den strafrechtlichen Schutz genießt.« Das ist durchaus unmißverständlich.

Beachtenswert ist auch die folgende Stelle, auf die Brammer in der Einleitung besonders verweist: » Fremd ist dem Gesetz der Satz, daß der Zweck die Mittel heilige.« Die Revolution allein hätte einen neuen Zustand nicht legalisieren können. Revolutionen werden immer von Minderheiten gemacht. Erst durch die Befragung des ganzen Volkes durch die Ausschreibung von Wahlen zur Nationalversammlung mit unbedingt freiem Wahlrecht für beide Geschlechter wurden die sittlichen und rechtlichen Fundamente des neuen Regimes geschaffen, wurde dieses überhaupt erst geschaffen. Weiter kann eine Revolution nicht gehen, als daß sie die von ihr eroberte Gewalt der Nation zurückgibt und damit nicht nur über das Geschick des alten Systems entscheiden läßt, sondern auch über ihr eigenes. Niemals im Laufe der Geschichte ist eine Revolution gewissenhafter, man möchte sich fast verleitet fühlen, zu sagen: pedantischer vorgegangen. Daß Macht allein nicht Recht bedeutet, wenn jemals, so wurde es hier von einem ganzen Volke zum Ausdruck gebracht. Man verschmähte mit revolutionären Romantizismen verbrämte Willkür, verlangte nach der festen gesetzlichen Form.

Es berührt demgegenüber fast komisch, wenn in der Darstellung der Reaktionäre jeder Observanz die deutsche Revolution zu einem roten drachenköpfigen Ungetüm wird, in dessen unergründlichem Schlund die deutsche Kaiserherrlichkeit verschwunden. Man mag die Revolutionen feiern oder verfluchen, unbestreitbar bleibt jedenfalls, daß sie Marksteine der Geschichte bilden, sichtbare Symbole des Zeitablaufes, Tatsachen, die man hassen mag, die man aber nicht überspringen kann. Nicht die Schönheit oder Widerwärtigkeit des Phänomens Revolution ist das Ausschlaggebende, sondern was auf diesem Untergrund gebaut wird. Die Revolution als Augenblickserscheinung ist immer amoralisch, erst indem ihre Ideen in die Praxis umgesetzt werden, wird durch die Art, wie das geschieht, ein Ethos hineingetragen.

Damals aber, in den Novembertagen, war eine Zeitwende. Eine Periode deutscher Geschichte war für immer beendet. Wenn auch niemand über Kommendes aussagen konnte, dieses eine wußten wir alle. Und deshalb, nicht allein, weil Soldatenräte regierten und Gewalttätigkeiten zu befürchten waren, änderten uralte konservative Zeitungen ihren Titelkopf, erhitzten sich Vertreter eines Stockpreußentums für Schwarzrotgold, dachte kein noch so königstreuer Junker im Ernst daran, sich für die landflüchtige Majestät die Knochen zerschlagen zu lassen.

Berliner Volks-Zeitung. 26. März 1922

325.

Spucke

Oder: Die Macht der Erinnerung

Ein völkisches Szenarium

I.

Märzwind. Regen. Graue fremdstämmige Wolken verdecken die deutsche Sonne. Lehrer Th. Knobel führt den »Jungsturm« von Guhrau (i. Schles.) an die Luft. Der Weg führt an einem alten Friedhof vorbei, dessen verwitterte Steine seltsame Zeichen bedecken. Lehrer Knobel, blond, Parzival mit leichtem Fettansatz, erwacht aus tiefer Träumerei beim Anblick dieses Gemäuers. Seine Augen gewinnen zusehends an Bläue. – »Ha-alt!« – »Was ist das, Jungens?« – »Das ist der Judenfriedhof!« – »Spuckt drrreimal aus!« – Klitsch, klatsch. Marsch geht weiter. »Deutschland, Deuentschland ... übärrr a-alles, übärrr a-alles ...«

II.

Parzival ist aus seiner Tumbheit erwacht. Doch auch seine Gegner sind nicht untätig. Nächtlich huschen maskierte Gestalten düster raunend durch die Straßen. Beratung in der Synagoge. Widderhörner dröhnen dumpf. Trübe schweben rote Kerzen im siebenarmigen Leuchter. Der Sendbote der Alliance israélite. Flatternde Rokelore. Die Peies wackeln. Der Gemeindeälteste zerreißt sein Gewand.

Rache!!

Der Staatsanwalt, undeutschen Einflüssen zugänglich, erhebt Anklage wider Knobeln.

Es wird schon nicht so schlimm werden.

III.

Landgericht Glogau. Knobel noch blauer. Leuchtet wie ein Erzengel. »Na, wenn man nicht mal mehr ausspucken darf ... wir sind doch schließlich in Deutschland!!« – Staatsanwalt stürzt vernichtet in die Versenkung.

IV.

Urteilsverkündung: Knobel, beim Anblick des Friedhofs, konnte sich der Erinnerung an frühere Beleidigungen, von Juden ihm zugeführt, nicht erwehren; habe ausspucken lassen, ohne an die Beschaffenheit des Ortes zu denken; Demonstration galt nicht jüdischer Religion, sondern jüdischer Rasse; jüdische Religion tipp topp, jüdische Rasse oberfaul.

Freispruch.

Knobel entschreitet erhobenen Hauptes.

Die Peies sinken.

V.

Apotheose. Knobels deutsche Sendung. Über den Leib der gebrochenen Judenheit zieht der Guhrauer Jungsturm singend und spuckend in die lichte deutsche Frühlingslandschaft. Die Sonne strahlt hell. Hinter blauen Wolken spielt der deutsche Gott lächelnd Ziehharmonika.

Lüri, lüri, jubiliert die Lerche. Heil und Sieg. Spucke ist dicker als Wasser.

Tandaradei.

Berliner Volks-Zeitung, 29. März 1922

326.

Staatstheater »Armand Carrel«

Moritz Heimanns Drama aus den Jugendtagen des modernen Pressewesens erlebte unter Ernst Legals Regie seine Berliner Erstaufführung. Der stürmische und ehrliche Beifall dürfte mehr verbürgen als flüchtigen Premierenerfolg. Erwin Kalser und Rudolf Forster standen im Vordergrund. Über das Werk und die Darstellung soll heute abend ausführlicher berichtet werden.

Berliner Volks-Zeitung, 30. März 1922

327.

Moritz Heimann »Armand Carrel«

Staatstheater

Ein Journalistenstück von 1836. Die Männer tragen ernsthafte Bratenröcke, Halsbinden und Vatermörder, die Frauen weite bauschige, bis über die Knöchel fallende Kleider. So etwa das Kostüm von Gustav Freytags »Journalisten«. Und dennoch kein Biedermeieridyll. Kein Conrad Bolz geistreichelt, der sanfte Dichter Bellman fehlt und Schmock ... Ja, Schmock ist da. Aber nicht Schmock der arme Zeilenschinder, der literarische Galeerensklave, sondern Schmock, der Macher und Beherrscher der öffentlichen Meinung, mit dem Kapital verbündet, ein furchtbarer Gegner. Emile de Girardin, der skrupellose Geschäftspolitiker, der publizistische Pirat mit dem Profil Bonapartes, hat es erkannt, daß in der Ära des von einem »Bürgerkönig« repräsentierten Geldsacks die Zeitung, bis dahin ein armer unbehilflicher Erdenwurm, ein gewaltiges Machtinstrument werden kann, wenn man ihr Flügel verleiht, d.h. wenn man sie richtig »aufmacht«, jenseits von Gut und Böse stellt. Ihm gegenüber steht Armand Carrel vom »National«, der ritterliche Republikaner hamletschen Geblütes, der Politiker des Herzens. Carrel haßt Girardin; er sieht in ihm ein »Stück Zukunft, das man ausrotten muß.« Girardin erwidert den Haß nicht in gleichem Maße, er weiß, daß seinem Kalkül die sittliche Idee nicht standhalten kann. Er könnte über den Romantiker, den Don Quichotte der Feder, mit überlegenem Lächeln zur Tagesordnung übergehen. Aber sein Interesse verbietet, den anderen in den Sielen sterben zu lassen. Seine Zeitung, die »Presse« braucht eine Riesenreklame. Er zwingt den Gegner zum Duell und trifft ihn tödlich. Das geschah zu Paris im Juli 1836, und es ist gut, daß ein Dichter darin einen weltgeschichtlichen Augenblick sah. Carrel fällt als letzter einer verehrungswürdigen Tradition. Seine Todesstunde ist die Geburtsstunde einer neuen Großmacht.

Der feine und kluge Dichter Moritz Heimann ist sicherlich nicht der Mann der großen tragischen Explosionen. Aber er hat einen Dialog von unerhörter Intensität geschaffen. Die Diktion ist kristallklar, die dramatische Technik sauber und der Gang der Handlung in jeder Phase solide und überzeugend. Das Ethos tritt nicht aufdringlich hervor, aber durchpulst jede Zeile. Was hätte ein tobender »Ekstatiker« aus diesem Stoff gemacht? Ein gräßlicher Gedanke.

Die deutsche Bühne braucht solche Stücke, deren Stärke nicht in einer – gewöhnlich doch nur vorgetäuschten – Vitalität liegt, sondern in der Besinnung, im Wissen von den Dingen. Der dramatische Dialog, in den letzten Jahren so ziemlich vor die Hunde geraten, erlebt eine glorreiche Auferstehung. Und nach gequälter Problematik endlich wieder der älteste und tiefste aller Kämpfe: – der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis. Es ist viel, aber nicht zuviel gesagt, mit diesem Armand Carrel hat die deutsche Bühne eine Heldengestalt mehr. (Die letzte war der Florian Geyer.)

Dafür war der Schauspieler Erwin Kaiser aus München ein idealer Repräsentant. Er spielte nicht papiernen Edelmut, sondern gab Rechtschaffenheit des Herzens, selbstverständliche Anständigkeit: keine posierte Genialität. Man wird dieses blasse, von Innen erleuchtete Antlitz nicht so bald vergessen. Der Girardin des Herrn Rudolf Forster war abermals eine frappante Talentprobe. Ein Virtuose des Lebens und der Geschäfte, Seiltänzer, Spiegelfechter und doch im entscheidenden Augenblick mehr. Leider war der sprachliche Ausdruck nicht so durchgebildet wie Geste und Mimik. Dasselbe trifft auch auf die Lossen zu, die, wie immer, ein herrlich beseeltes Bild bot, aber häufig so leise sprach, daß sie schon in den mittleren Parkettreihen nicht zu verstehen war. Herr Ernst Legal, dessen Regie sonst eine durchaus tüchtige Arbeit war, wird bei den Wiederholungen auf lauteres Sprechen halten müssen.

Der Beifall war stark und ehrlich. Dieser Theaterabend bedeutet mehr als einen Erfolg. Er war ein Sieg.

Berliner Volks-Zeitung, 30. März 1922

328.

Kammerspiele »Der Meister«

Als diese Komödie vor fast zwei Jahrzehnten herauskam, war noch Ibsen-Stimmung in der Welt, und man sah darin nicht nur ein ungemein diffiziles Problemdrama, sondern auch einen Fehdehandschuh an eine überalterte, feistgewordene Sexualmoral. Dann kamen Wedekind und Strindberg, und die Revoluzzerglorie des vielbeweglichen Hermann Bahr verblaßte zusehends. Heute sehen wir darin in der Tat nur ein geistreich schillerndes Dialogstück Pariser Zuschnitts; gut gemacht, knapp; es geht schnell vorüber und wenn wir nachher die Drähte entdecken, an denen die Puppen zappeln, sind wir durchaus nicht böse, sondern verbeugen uns achtungsvoll vor der geschickten Hand, die diese Marionetten lenkt.

In den Kammerspielen nahm man die Sache etwas schwer und holte sich die Darsteller für das kämpfende Ehepaar aus den Bezirken der Tragödie. Herr Eugen Klöpfer als Kraftmensch Cajus Duhr kam deshalb über eine gewisse Diskrepanz zwischen der äußeren Erscheinung und den Worten, die er zu sprechen hatte, nicht hinaus. Das ist ja alles gar nicht so schlimm, dachte man dabei, das ist nicht Strindberg, das ist auch nicht Shaw, das ist nur Hermann Bahr aus Wien; und anstatt Herrn Klöpfer und die herrliche Agnes Straub einzuspannen, hätten auch der liebenswürdige »Anatol«, Herr Edthofer, genügt, und die schelmisch lächelnde Mady Christians. Sonst sah man viel Gutes: Paul Graetz, Gerhard Ritter, Erich Pabst und vor allem die Denera. Herrn Brausewetter hätte der Regisseur Klöpfer die Clownsspäße untersagen sollen.

Berliner Volks-Zeitung, 8. April 1922

329.

Das Hannele im Film

Die Premiere in der Staatsoper

Man könnte prinzipiell Einwand erheben, ob es richtig sei, dies spinnwebzarte Traumspiel der Bearbeitung für die Lichtbildbühne zu unterwerfen. Willy Rath, der das Manuskript hergestellt hat, ist ohne Zweifel nicht aller Schwierigkeiten Herr geworden, die diese Umbildung mit sich bringt. Was in Hauptmanns Drama leicht angedeutet bleibt, wird im Film breit und gegenständlich. So scheint also das Schattentheater weniger noch zur Lockerung zu führen und von Erdenschwere zu befreien als die Sprechbühne? Ich empfand es gestern so. Ich fühlte trotz der Emanzipation der Traumhandlung vom Wort, gegenüber dem Original, mehr als einmal Verdickung.

Das muß gesagt werden und kann gesagt werden: um so mehr, da dieser neue Terrafilm eine menschlich so unendlich saubere und, innerhalb der natürlichen Grenzen des Films, auch wirklich künstlerische Angelegenheit bedeutet. Der Regisseur Urban Gad hatte verzichtet, einem Sensationserfolg zuliebe Bluffkanonen mit velinglatten Ansichtskartengesichtern aufzufahren. Er hat sich ein Ensemble von guten Schauspielern zusammengestellt, die eine ernsthafte Sache ernsthaft anfassen. So ward mehr daraus als eine Folge wirkungsvoller Bilder und spannender Situationen. Aus dem Martyrium eines armen mißhandelten Kindes wuchs ein höchst eindringliches Stück Welt, dem Zuschauer ein ethisches Privatissimum von schlichter Beredtheit, tausendfach notwendiger in dieser Zeit als die Vorführung friderizianischer Parademärsche.

Die Premiere in der Staatsoper – die Leitung des musikalischen Teils hatte Herr v. Schillings übernommen – bedeutete einen warmen und ehrlichen Erfolg. Ein rührendes, kindliches Hannele, ohne Pose und mit echter Inbrunst, gab die kleine, zierliche Margarethe Schlegel. Man wird dieses blasse, leidvolle Gesichtchen nicht so bald vergessen. Der Maurer Mattern Hermann Vallentins war von dampfender Animalität, wuchs nichtsdestoweniger gegen Schluß meisterhaft in die Traum- und Zaubersphäre hinein, wurde zur Spukfigur, zum Alpdruck. Theodor Loos schien mir am stärksten in den Szenen zu sein, wo er sich menschlich natürlich geben konnte, in der Verklärung wirkte er zu frisiert. Dann noch Margarethe Schön, Hermine Steuer, Esther Hagan und der glänzende Charakteristiker Hugo Döblin. Nicht zu vergessen Walter Rilla als Todesengel, der eines der schönsten Bilder stellte, die der Film seit langem geboten hat. Diese Szene und die Episode des Schneiders mit dem Brautkleid können wohl als die Höhepunkte der Regie Urban Gads angesehen werden. Das war echte Balladenstimmung.

Berliner Volks-Zeitung. 10. April 1922


 << zurück weiter >>