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410.

Züge und Gegenzüge

Der Kampf um Loucheurs Mission

Es war zu erwarten, daß Loucheurs Londoner Reise in Frankreich lebhafte Sensation hervorrufen und Anlaß zu einem Ausbruch widerstreitender Gefühle werden würde. Das war zu erwarten. Aber es ist weit heftiger gekommen. Ja, man übertreibt kaum, wenn man sagt, daß die jäh explodierte Nervosität die Dämme einer mit künstlichen Mitteln aufrechterhaltenen Disziplin gesprengt und das Kartenhaus der Siegeszuversicht vom Erdboden gefegt hat.

Darunter darf natürlich nicht verstanden werden, daß der Wille zu Gewaltmaßnahmen irgendwie erschüttert worden ist. Aber was bisher noch immer mit einigem Geschick verborgen gehalten wurde, die Uneinigkeit hinter den Kulissen, die Gegensätze im Regierungslager selbst, alles das ist nun rücksichtslos offenbar geworden, weit ärger als vor einiger Zeit, da Tardieu im Kammerausschuß, sekundiert von dem plötzlich der Versenkung entstiegenen Briand, den Ministerpräsidenten mit einer Reihe peinlicher Fragen in die Enge trieb. Es stellt sich nun heraus, daß die politischen Manager der Ruhraktion nicht weniger ratlos sind als die Herren Generäle, die mit Willkür und Brutalität cachieren möchten, wie gründlich sie mit ihrem Latein zu Ende sind. Möge es aber um Himmelswillen niemand bei uns einfallen, deswegen Viktoria zu blasen. Denn nichts ist gefährlicher als der an seinen Wirkungsmöglichkeiten irregewordene Imperialismus. Dann wird der Militarismus Selbstzweck. Und gerade die blutigen Vorgänge im okkupierten Gebiet und der neuerlich einsetzende Terror sprechen dafür, daß die Pariser Drahtzieher ihre Puppen nicht mehr in der Hand haben. Es klappt nichts mehr recht. Aber die Meister des politischen Schnürbodens selber strapazieren dafür nur desto ärger die Donnermaschine und sparen nicht mit grellen Beleuchtungseffekten.

Es fällt etwas schwer, ein Bild zu geben von dem Pariser Wirrwarr dieser letzten Tage. Als Herr Loucheur zurückkam, wurde er zunächst mit jenem Respekt begrüßt, den die politische Welt einer so wichtigen halbamtlichen Persönlichkeit schuldet. Er konferierte mit Poincaré und es schien, nach dürftigen durchgesickerten Informationen zu schließen, zwischen den beiden in den Hauptzügen Übereinstimmung zu herrschen. Das erregte den Zorn der Pertinaxe. Alle Aufgeregten mobilisierten. Und in der Poincaré nahestehenden Presse wurde, etwas zu eilig, um glaubhaft zu wirken, über Nacht entdeckt, daß Herr Loucheur ein völlig gleichgültiger Privatmann sei, ein subalterner Monsieur X., dessen Londoner Reise sein höchst privates Vergnügen sei, das die breite Öffentlichkeit kaum etwas angehe. Zugleich aber brachen die Herren Minister Maginot und de Lasteyrie eine Lanze für den Kampf bis zum Ende. Man erinnert sich, daß Herr Poincaré diese beiden Herren aus ihrem idyllischen Mauerblümchendasein in der Kammer mit feurigen Armen auf den Wolkenthron der Regierungsestrade gehoben hat. Einerseits, weil sie sich stets als gute, jasagende Patrioten bewährt hatten, andererseits, weil er für die Homogenität seines Kabinetts Nullitäten solchen Genres brauchte. Nun ist es eine alte Erfahrung: es kann ein Politiker noch so sehr sich durch harmlose Unzulänglichkeit empfehlen, wenn er nur die nationale Plempe mit einiger Verve zu führen weiß, kann er gefährlich werden. Und Herr Kriegsminister Maginot, die wenig begehrte parlamentarische Ballschönheit von einst, ist heute dank seiner undifferenzierten Gesinnungstüchtigkeit für Poincaré zu einem nicht unbedenklichen Wettbewerber geworden, nachdem dieser durch die lange Zickzackpolitik vor der Besetzung nicht wenig von seiner alten Autorität eingebüßt hat.

Es ergibt sich also für den Kabinettschef die folgende unbehagliche Konstellation: er ist nicht mehr Herr im eigenen Hause; die Kreaturen, die bisher papageienhaft das nachgeschnattert haben, was der Gestrenge ihnen eingepaukt, zeigen sich plötzlich ungelehrig und außerstande, den neuen Text zu kapieren. Poincaré möchte gern da beginnen, wo Loucheur aufgehört hat, aber nur ein Mann von überragendem Ansehen kann an ein so kompliziertes diplomatisches Stück Arbeit sich wagen, ohne Furcht, das Werk und sich selber dabei zu zerstören. Zwar wird behauptet, der Präsident der Republik teile sehr weitgehend Loucheurs Anschauungen und sei von dem Londoner Ergebnis durchaus befriedigt, aber Herr Millerand ist kein ehrwürdiges altes Dekorationsrequisit wie mancher seiner Vorgänger, sondern eine aktive Persönlichkeit, die sich nicht mit dem Schein der Macht zufrieden gibt, sondern nach dem völligen Auskosten des süßen, aber gefährlichen Trankes trachtet. Da Poincaré, was Ehrgeiz und Machtwillen anbetrifft, durchaus nicht anders organisiert ist als der Staatschef, so mag er in dessen Wohlwollen für die Intentionen Loucheurs alles andere sehen als Sukkurs für seinen eigenen Standpunkt, im Gegenteil, er fürchtet, das Steuerruder zu verlieren, fürchtet Verurteilung zur zweiten Geige, und wechselt automatisch nach der andern Seite hinüber. Die Geschicke der Völker hängen oft an sehr seltsamen Fäden, und persönliche Ambitionen und Rankünen spielen im klassischen Lande der Kabinettspolitik kaum eine geringere Rolle als in den vergessenen Tagen der Bourbonen.

So geht der Kampf um Loucheurs Sendung weiter. Aber der Schlüssel zur Situation liegt letzten Endes nicht in Paris, sondern in London. Seitdem zum ersten Male seit Monaten in Frankreich der Gedanke, wieder mit England gemeinsam zu operieren, von neuem zur Debatte gestellt ist, macht sich die Empfindung geltend, daß aus eigener Kraft das leichtsinnig begonnene Abenteuer der Okkupation nicht liquidiert werden kann. Wir haben es immer betont, welch ein großer Vorzug es wäre, wenn die französische Öffentlichkeit sich endlich mit den Elementen der englischen Kritik vertraut machen wollte, aber wir verhehlen nicht die große Gefahr, die darin zu suchen ist, wenn sich die nationalistische französische und die konservative englische Regierung schließlich einmal auf der berüchtigten »mittleren Linie« finden sollten. Die Opposition der Liberalen und Arbeiterparteiler zeigt gewiß alle Merkmale von Klugheit, Weitsicht und Mut. Aber die Opposition ist nicht England. Stehen am Taufbecken des neuen Friedens Bonar Law und Poincaré als Paten, so wird Deutschland die ganze Zeremonie bezahlen müssen. Und den Schmaus nachher obendrein.

Berliner Volks-Zeitung, 11. April 1923

411.

Bonar Laws Fiasko

England vor der Regierungskrise

England befindet sich, mindestens seit Beginn der Ruhrbesetzung, in einer innerpolitischen Krisis, die aller Wahrscheinlichkeit nach in kurzer Zeit zu einer Lösung führen muß, die allerdings kein Kurswechsel, sondern nur eine teilweise Personalerneuerung innerhalb des unionistischen Kabinetts zu sein braucht. Jedenfalls erheischt die gegenwärtige Situation baldige Wandlung, und niemand scheint das besser zu begreifen als der teils amtlich erkrankte, teils wirklich körperlich leidende Premier selbst.

Selten hat sich eine mit so viel Jubel und Zuversicht eröffnete Ära wie die Bonar Laws so schnell überlebt. Als die Unterhauswahlen die durch den rechten Flügel der Unionisten verursachte Sprengung der Koalition bestätigten, und Bonar Law über eine sichere parlamentarische Grundlage verfügte, scheinbar stark genug, um die drei Oppositionsparteien in Schach zu halten, hätte niemand erwartet, daß so schnell an diesem Kabinett der Totenwurm nagen würde. Bonar Law erlebt hier jedoch nur das gleiche Schicksal aller Regierungen, die ihren Sieg weniger einer tiefen Notwendigkeit als vielmehr einer geschickt durchgeführten Überrumpelung verdanken. Bonar Law war sicherlich ein zu kluger Taktiker, um unerfüllbare Versprechungen zu machen, aber die breite Öffentlichkeit, der Impulsivität und Unberechenbarkeit des großen Demagogen Lloyd George müde, sah in dem wortkargen, nüchternen Schotten den Wundermann, den Wünschelrutenträger, den Zauberer, der das Arkanum bei sich trägt. Nach Jahren der Unruhe verlangte der englische Geschäftsmann endlich wieder nach Ruhe und Stetigkeit. Bonar Law ist persönlich gewiß nicht der Mann der Experimente mit tumultuarischen Folgen, aber er ist auch nicht der Mann, um andere zur Ruhe zu bringen. Lloyd George zieh man einer willkürlichen Zickzackpolitik, die England und Europa aus einer Sensation in die andere jage. Sein Nachfolger hat weder in der Reparationsfrage noch in der orientalischen Angelegenheit dessen Fehler wiederholt. Aber er hat auch nichts Positives getan. Er hat den kläglichen Zerfall der Lausanner Konferenz ebenso wenig verhindern können wie Poincarés gemeingefährliche Extratouren; er findet weder die Formel zur Liquidation des Ruhrabenteuers, noch weiß er ein Rezept gegen die zunehmende wirtschaftliche Depression in England selbst.

Die Herrschaft der konservativen Partei erscheint heute unterhöhlt. Der linke Flügel, der Chamberlain-Flügel, die Gruppe der Koalitionsfreunde, ist der Bevormundung durch die reaktionären Elemente der Partei, die die Regierung fest in der Hand haben, müde und möchte vermutlich nicht ungern die alte Allianz mit Lloyd George erneuern. Dazu kommt die gar nicht zu überschätzende Mißstimmung über die mangelhafte und hilflose Sozialpolitik der Regierung. Dieses Moment gerade hat der Opposition bei den Nachwahlen ihre überraschenden Erfolge gesichert und das Kabinett in eine Isolierung getrieben, die vor wenigen Tagen ihren schärfsten Ausdruck in einer Abstimmungsschlappe fand, die, wenn auch rein technischer Natur, dennoch beweist, daß die Mehrheit Bonar Laws wahrscheinlich auch bei ernsteren Fragen von nun ab von Zufällen abhängt. Ramsay Macdonald, als Sprecher der Opposition, hat sofort den Ruf nach Demission erhoben. Und wenn auch diese nicht eintritt, so scheint doch der Kapitän des Regierungsschiffes bald endgültig die Kommandobrücke verlassen zu wollen.

Wer wird an seine Stelle treten resp. wird die konservative Partei überhaupt ungespalten aus der Krise herauskommen? Bekannt ist, daß Lloyd George, nachdem der Versuch einer Wiedervereinigung mit den Asquith-Liberalen als fehlgeschlagen betrachtet werden darf, den Gedanken einer » Zentralpartei«, bestehend aus seinen Nationalliberalen und den Koalitionsfreunden in der konservativen Partei, ventiliert hat. Wenngleich kaum zu bezweifeln ist, daß Chamberlain, Birkenhead und ihre Anhänger an einer solchen Kombination Gefallen finden würden, so kann andererseits kaum übersehen werden, daß Lloyd George einstweilen noch als geschlagener Feldherr gilt, dessen Attraktion auf die Wählermassen sich erst von neuem bewähren muß. So bleibt die Zentralpartei eigentlich mehr eine Drohung als ein Projekt, das bald Wirklichkeit werden kann.

Vielleicht wird die konservative Partei dieser Gefahr auszubiegen versuchen, indem sie einen ihrer früheren Minister im Kabinett Lloyd George als Nachfolger Bonar Laws präsentiert. In diesem Zusammenhange sind bereits die Namen Sir Robert Horne, Worthington Evans und selbst der Chamberlains genannt worden. Der rechte Flügel dagegen scheint Neigung zu einer Kandidatur des Außenministers Lord Curzon oder des Schatzkanzlers Sir Stanley Baldwin zu haben. Beide dürften allerdings nur eine Fortsetzung des Kurses Bonar Law verbürgen und damit vor den gleichen Schwierigkeiten stehen, wenngleich Baldwin, dem Ehrgeiz und Elastizität nachgesagt werden, vielleicht dennoch geeignet sein dürfte, durch eine Politik der Aktivität nach außen und innen zur Entspannung der Gegensätze beizutragen.

Man darf sich nicht der Hoffnung hingeben, daß der Terror der französischen Okkupanten in Deutschland das englische Nationalgewissen aufgepeitscht habe. Die Angora-Frage, angebliche Christenverfolgungen in Thrazien, das ägyptische Königsgrab, das alles beeindruckt die Öffentlichkeit drüben weit mehr. Aber was den Engländer nervös macht, das ist die Tatenlosigkeit der Regierung, die kunktatorische Methode. Er sieht darin eine Schädigung des englischen Ansehens, eine nicht aus Berechnung, sondern aus Schwächegefühl entstandene Selbstausschaltung. Und auf »John Bulls anderer Insel«, in Irland, tobt ein zur Selbstzerfleischung führender Bürgerkrieg, dem auch das Königreich nicht dauernd Gewehr bei Fuß zusehen kann.

Unter der Fahne der alten Tory-Partei wollte England zur Ruhe kommen. Diese Hoffnung hat sich als Illusion erwiesen. Der Engländer, stets einem maßvollen Fortschritt hold, ohne darüber die konservative Grundanlage zu vergessen, wird sich, wenn auch mit Bedauern, daran gewöhnen müssen, daß die Unrast der Zeit auch vor Britanniens Küsten nicht halt macht. Wenn in der geheiligten Halle des Unterhauses, wie es jetzt geschehen ist, das Lied von der roten Fahne gesungen und im Handgemenge ein Regierungszylinder eingedrückt wird, so mögen Angstbürger in der City darin den beginnenden Weltuntergang erblicken. Aber eine Warnung ist es immerhin auch für die andern.

Berliner Volks-Zeitung, 13. April 1923

412.

Naht die Entscheidung?

Am gleichen Tage, da in Paris die Konferenz zwischen den belgischen und französischen Ministern begann, brachte der »Matin« eine ziemlich umfangreiche und einigermaßen konfuse Darstellung des angeblichen Standpunktes Frankreichs in diesem Augenblick. Interessant an der Veröffentlichung war lediglich die vermutlich etwas voreilig ausgedrückte Hoffnung, daß der französische Plan wohl die Billigung der belgischen Minister finden und selbst bei Großbritannien keinen Anstoß erregen werde. Bis jetzt liegt keinerlei Information vor, aus der sich die französische Stellungnahme erraten ließe. Das amtliche Communiqué entbehrt der scharfen Formulierung und bleibt fast hinter der Brüsseler Schlußerklärung vom 13. März zurück. Damals wurde immerhin gesagt, daß die Räumung des Ruhrgebietes und der neubesetzten rechtsrheinischen Gebiete nicht von einfachen Versprechungen Deutschlands abhängig gemacht werden könnte, vielmehr in dem Maße zu vollziehen sei, in dem Deutschland seine Verpflichtungen erfülle. Darin lag wenigstens etwas Konkretes und hätten die beiden Alliierten den weiteren Schritt gewagt, endlich offen zu sagen, was sie sich unter dem vieldeutigen Begriff »Erfüllung«, ein Begriff, der bei den ungeheuren weltwirtschaftlichen Schwankungen fortwährend wechselt, eigentlich zurzeit vorstellen, so wäre damals vielleicht die Möglichkeit zu einer vorerst noch unverbindlichen Aussprache gewesen.

Diese Gelegenheit ist versäumt worden. Der Pariser Prestigetic schiebt die Pflicht, Angebote zu machen, beharrlich der anderen Partei zu. Auch die Pariser Konferenz kommt darüber nicht hinweg. Im Gegenteil, sie stipuliert ausdrücklich, daß sie die gemeinsame Aktion fortsetzen werde, bis Deutschland sich entschließe, direkte Vorschläge für die Zahlung von Reparationen zu machen. Zu diesem Zwecke soll zunächst der gemeinschaftliche Druck »schärfer gestaltet« werden. Das heißt: in der einen Hand der Totschläger, in der anderen ein Strunk von einem Ölzweig. Der Rest der amtlichen Verlautbarung besteht aus einer nunmehr völlig wertlos gewordenen Wiederholung des Brüsseler Communiqués.

So dürr und wenig zukunftsvoll auch dieses Ergebnis ist, so hat sich doch in den vier Wochen, die seit den Brüsseler Beratungen verflossen sind, mancherlei ereignet, was dem neuesten Pariser Text nicht gerade kanonische Geltung verschafft. Er ist eine Larve, die das Antlitz der weltpolitischen Situation nicht mehr deckt. Auch in Frankreich ist man der starren Geste müde. Man sieht keinen Augenblickserfolg und erst recht kein Ende. Das System Poincarés wirtschaftet selbst in den Kreisen des bloc national ab. Die neue Stimmung, die die Oberhand gewinnt, ist durchaus nicht mit Nachgiebigkeit zu identifizieren, man hofft nur von neuem, mit den Mitteln der Diplomatie weiter zu kommen, als mit der dummen Brutalität der militaristischen Vergewaltigung. Dieser Einsicht soll, wie von Pariser Blättern versichert wird, auch Präsident Millerand zuneigen, der vor einem Vierteljahr noch der Meinung war, mit einem kräftigen Schwertstreiche den Knoten der Reparationen zu durchschlagen.

Am heutigen Tage wird Poincaré in Dünkirchen seine mit etlicher Reklame angekündigte Rede endlich halten. Sie wird, wir glauben uns nicht zu täuschen, eine Enttäuschung bringen. Poincaré ist längst nicht mehr der »Eiserne«, sondern der Mann einer etwas wackeligen Schaukelpolitik, ein kleiner Rechner, der nicht mehr fragt: wie setze ich mich durch?, sondern: wie verhindere ich, daß Herr Millerand oder Herr Loucheur oder Herr Tardieu oder sonstwer Oberwasser gewinnen? Der Mann will nicht mehr eine politische Idee halten, sondern sich selbst. Und deshalb wechselt seine Politik von Tag zu Tag. Und das macht die Lage der deutschen Regierung so schwierig.

Von verschiedenen Seiten, und namentlich die Engländer haben sich daran beteiligt, ist den Leitern der deutschen Außenpolitik zum Vorwurf gemacht worden, daß sie von sich aus keine diskutablen Vorschläge machten. Zugegeben, daß während gewisser Phasen der politischen Wandlungen in den letzten Monaten die Wilhelmstraße allzu ängstlich Schweigen bewahrte und allzu sichtbar auf ein Stichwort von außen wartete, auf ein Stichwort, das nicht kam und nicht kommen konnte, so muß Deutschland doch zugute gehalten werden, daß es vor einem großen Vielleicht stand, vor einem Vorhang, der ein häßliches Szenenbild verhüllte: den Weg nach Compiegne! Und trotz alledem ist von deutscher Seite noch immer das Positivste geschehen: die Erklärungen des Außenministers im Auswärtigen Ausschuß und deren feierliche Unterstreichung durch den Reichskanzler in seiner Gedenkrede für die Essener Opfer. In den nächsten Tagen wird Herr Dr. v. Rosenberg von neuem das Wort ergreifen, und wir hoffen, daß er jene Transparenz der Ausdrucksweise finden wird, die über die Intentionen der Reichsregierung keine gewollten oder irrtümlichen Mißdeutungen mehr zuläßt.

Natürlich wird im Lager der Rechten schon längst gemurrt und der Regierung unterstellt, daß sie den Abwehrkampf abzubauen beginnt. Vielleicht wird sich nach Rosenbergs neuen Darlegungen dieser Unmut noch ungehemmter Luft machen. Reden wir doch möglichst klar und ungetrübt durch Ressentiments: glaubt denn wirklich ein Mensch, daß die Räumung ohne Verhandlungen vor sich gehen könnte? Nicht einmal der Unversöhnlichste der Unversöhnlichen kann doch auch nur im Traume annehmen, daß plötzlich in Paris auf den Knopf gedrückt wird und die Franzosen abmarschieren. Die Bereitwilligkeit, über den Räumungsmodus zu verhandeln, ist doch nicht Kapitulation. Gefährlich kann es nur werden, wenn die deutschen Unterhändler ihren französischen Partnern nicht gewachsen sein sollten. Und Vorbedingung ist natürlich, daß die französische Regierung die Chamäleontaktik verläßt und Farbe bekennt über ihre Absichten. Denn kein Deutscher von gesundem Menschenverstand wird an den Verhandlungstisch gehen, wenn er nicht die Gewißheit hat, daß sich dieser wirklich auf gesichertem neutralen Grunde befindet und der Weg dahin nicht mit Wolfsgruben versehen ist. Deutschland ist vom Mißtrauen der Welt umgeben und Deutschland betrachtet alle Welt mit Mißtrauen. Das sind die denkbar schlechtesten Voraussetzungen. Und dennoch regt sich neben diesem Mißtrauen allerorten der brennende Wunsch, einem Zustand ein Ende zu machen, der zu einem europäischen Pestherd geworden ist. Es ist ein kolossales Risiko. Wird der Friedensbote den Weg ins feindliche Lager finden oder von den Marodeuren des politischen Kampfes auf der Strecke erschlagen werden?

Die Wirklichkeit von heute trägt einen Januskopf. Das eine Antlitz ist das des Zweifels, der bangen Ungewißheit. Das andere aber zeigt jene ungeheure Spannung, jene Konzentration, die einer Entscheidung vorangeht.

Wieder wandert die Sache der Menschheit auf schmalem Grat zwischen zwei Abgründen.

Berliner Volks-Zeitung, 15. April 1923

413.

Der Keuschheitskommissar

Ein Bild aus Chemnitz

Ein Bewohner der Stadt Chemnitz in Sachsen hat das folgende Schreiben erhalten:

An Herrn ..., hier.

Sie unterhalten mit Fräulein ... ein unsittliches, ärgerniserregendes Verhältnis.

Auf Grund der Bestimmung in § 2 unter Nr. 1 des Gesetzes vom 28. Januar 1835, verbunden mit § 8 des Gesetzes vom 8. März 1879, wird Ihnen aufgegeben, sich dieses unsittlichen, ärgerniserregenden Verkehrs zu enthalten. Insbesondere wird Ihnen untersagt das gegenseitige Besuchen, Besuchsannehmen, das Wohnen und Nächtigen in einem und demselben Hause sowie jedes Betreten der gegenseitigen Wohnungen, auch wenn diese mit dritten Personen geteilt werden.

Für jeden Zuwiderhandlungsfall wird Ihnen eine Geldstrafe von 400 Mark Geld, hilfsweise vier Tage Haft angedroht.

Zur Vermeidung gleicher Strafen haben Sie ferner den gegenwärtigen unstatthaften Zustand des Wohnens in einem und demselben Hause binnen 14 Tagen, vom Empfang dieser Verfügung an gerechnet, durch Trennung zu beseitigen.

Polizeipräsidium. gez. Dr. Schulze, Oberregierungsrat.

Man sollte diesem kundigen Thebaner von einem Oberregierungsrat, der mit solcher Ausführlichkeit sein Riechorgan zwischen die Bettlaken anderer Leute schiebt und der weder die geschriebenen noch die ungeschriebenen Gesetze beherrscht, zur Belohnung für seinen Eifer recht gründlich die Hosen stramm ziehen. Bis er »zur Vermeidung gleicher Strafen« sich die Grundelemente der allgemein gültigen Zivilisationsbegriffe angeeignet hat.

Berliner Volks-Zeitung, 17. April 1923

414.

Tairow im Deutschen Theater

»Moritz von Sachsen«

Was die Russen heute aus Moskau bringen, ist längst kein »Proletkult« mehr. Wie Tschitscherin und sein Stab in Genua allgemeines Erstaunen erregten, als sie in musterhaft sitzenden Cuts den Saal betraten, so verblüfft die Kunst des Regisseurs Tairow durch die virtuose Beherrschung aller Farbennuancen bourgeoiser Dekadenz. Tairow, ein radikaler Neuerer? Ein bunter und hüpfender Protest vielleicht gegen den monotonen Lyrismus der Stanislawski-Periode. Aber, alles in allem, der leuchtende Abschluß, die letzte Zusammenfassung einer Zeit, die aus Mangel an Schöpferkraft einen Stil nach dem anderen auf den Markt warf. Tairows Kunst ist kein Beginn, sondern ein Ausverkauf.

Keinen Vorwurf deswegen, daß diese Truppe keinen wirklichen Dichter bringt, sondern sich an aufgebügelte alte Schmöker hängt wie diesen » Moritz von Sachsen« (die »Adrienne Lecouvreur« des seligen Scribe). Gerade solche Stücke, dem Hirn eines absoluten Routiniers entsprungen, geben dem Schauspieler Ellbogenfreiheit zur Entfaltung aller komödiantischen Instinkte. Und diese großen Komödianten hat Tairow eben nicht. Alice Koonen und Nicolai Zeretelli entzückten durch schöne tänzerische Bewegungen und graziöse Verbeugungen, aber nicht einen Augenblick ließen sie die Dressur durch einen eminent geschmackvollen und stilsicheren Regisseur vergessen. Wenn es Tairow verstünde, die Drähte, an denen seine Puppen zappeln, luftfarben anzustreichen, er wäre vollkommen.

Berliner Volks-Zeitung, 18. April 1923

415.

Bismarck auf der Bühne

Zur Aufführung von Emil Ludwigs »Entlassung«

Residenztheater

Wir haben über Emil Ludwigs Drama, das der Verfasser in deutlicher Erkenntnis der Grenzen dieses für Deutschland von ihm entdeckten Genres ein »Stück Geschichte« nennt, seinerzeit, als der bekannte Prozeß darum geführt wurde, ausführlich berichtet. Wir haben damals das Für und Wider sorgfältig abgewogen. Es scheint deshalb ein neuerliches Eingehen auf Stoff und Gestaltung überflüssig.

Interessant war jedoch der Eindruck auf das Publikum. Die Wirkung war eine durchaus unmittelbare. Der Konflikt zwischen Kaiser und Kanzler wurde wie etwas durchaus Gegenwärtiges empfunden, eine Bestätigung für den geschickten Griff des Autors, der einen der schicksalsschwersten Momente der modernen Geschichte dem Versuch dramatischer Gestaltung unterzogen hat.

Herr Robert Pirk, der am Kleinen Theater in Leipzig vor einigen Monaten das Stück zur Uraufführung gebracht hat, versucht nun als Sommerdirektor damit in Berlin sein Glück. Der Erfolg entschied gestern für ihn, obgleich der Aufführung das wesentlichste fehlte, nämlich: der Bismarck. Herr Robert Müller aus Dresden spielte nicht den Bismarck von Emil Ludwig, sondern den »Erbförster« von Otto Ludwig. Und auch den nicht überwältigend. Der Wilhelm des Herrn Dietrich v. Oppen war dagegen eine keck erfaßte und sicher durchgeführte Charakterskizze. Neben ihm errang in der kurzen, aber entscheidenden Windthorst-Episode Manfred Fürst am meisten Beachtung. Über manches, was sonst noch zu sehen war, sei der Mantel der Liebe ausgebreitet. Es spricht für den guten, geschliffenen Stil des Dramas, daß es nicht einmal durch diese Darstellung umzubringen war.

Berliner Volks-Zeitung, 23. April 1923

416.

Stinnes und der Staat

Das Verbrechen der Dollarhausse

Abermals ist die Mark durch eine neue Offensive rabiater Devisenathleten gründlich gedrückt worden, nachdem ein Ansturm zu Ende voriger Woche mit genauer Not noch abgeschlagen werden konnte. Die Gegenmaßnahmen der Reichsregierung scheinen leider eher stimulierend als abschreckend zu wirken; rücksichtslos fegt die Spekulation über die papierenen Barrieren hinweg.

Vor mehreren Tagen bereits hatte die »Frankfurter Zeitung« darauf verwiesen, es werde behauptet, daß eine » besonders bedeutende Industrieverwaltungszentrale« außerhalb der Börsenstunden, also außerhalb der Kontrolle der Reichsbank, in Berlin nach beträchtlichen Sterlingbeträgen Umfrage hielt und dadurch die ganze Markstimmung künstlich aufputschte. Die »Frankfurter Zeitung« hat nicht den Namen dieser Industrieverwaltungszentrale preisgegeben, der » Vorwärts« aber füllte diese Lücke aus, indem er offen aussprach, daß die in Frage kommende Stelle dem Stinnes-Konzern angehöre.

Wie war die Wirkung der Aktion des Konzerns? Die gestrige »B.Z. am Mittag« entwirft davon ein interessantes Bild:

»Der angebetete Name Stinnes ließ natürlich die ganz skrupellose, auch vor dem Landesverrat des Eigennutzes nicht zurückschreckende reine Devisenspekulation sogleich Morgenluft wittern. Von ihr hörte man gestern ganz unverhohlen Äußerungen wie: ›Ach, was kann schon die Reichsbank!‹ – und ›Stinnes wird es schon schaffen‹, und sie gab auch gleich die neue Parole aus: ›40 000. Stinnes und die Industrie wünschen einen Dollarkurs von 40 000, und sie werden ihn durchsetzen.‹«

Wenn noch irgendwelche Zweifel bestehen an der Richtigkeit dieser Darstellungen, so wurden diese gründlich behoben durch die Ausführungen Havensteins vor dem Zentralausschuß der Reichsbank. Der Reichsbankdirektor hob mit Nachdruck hervor, daß nicht nur Tagesspekulanten, sondern auch » ernste Kreise unserer Wirtschaft« der gemeinsamen Kampffront in den Rücken fallen.

Der Stinnes-Konzern hat diese Anschuldigungen bisher mit Schweigen beantwortet. Vermutlich lächelt man dort über die Ohnmacht des Staates und steuert munter weiter, das ragende Ziel 40 000 im Auge. Wir wissen nicht, wie Reichsregierung und Reichsbank dem zu begegnen denken, aber sie werden hoffentlich alle erforderlichen Maßnahmen treffen, auf die Gefahr hin, daß die Entscheidungsschlacht zwischen Staat und Stinnes, die doch einmal kommen muß, um ein wesentliches eher beginnt als man bisher annehmen konnte. In jedem Eisenbahnwagen kleben Plakate, auf denen vor französischen Agenten gewarnt wird. Es ist eine besondere Spionageverordnung herausgebracht worden, und zur wirtschaftlichen Unterstreichung des Ruhrkampfes wird die Waffe des Boykotts rücksichtslos eingesetzt. Aber hier wird ein Dolchstoß geführt, der im Gegensatz zu dem andern vielberufenen leider nicht rein legendärer Art ist.

Über die furchtbaren Folgen einer weiteren Dollarhausse in diesem Augenblick, wo nach Curzons Rede gerade eine gewisse Entspannung eingetreten ist, und trotz aller Ungewißheit die Möglichkeit zu Verhandlungen fern am Horizont erscheint, braucht nichts weiter gesagt zu werden. Oktroyiert das Privatkontor Stinnes dem Staat seinen Willen, so bedeutet das nicht mehr und nicht weniger, als daß ein zusammengeklapptes Deutschland der französischen Regierung auf dem Präsentierteller dargereicht wird. Die letzte Phase des Abwehrkampfes geht nicht mehr zwischen Rhein und Ruhr vor sich, sondern an der Berliner Börse.

Berliner Volks-Zeitung, 25. April 1923

417.

Zwischen Tür und Angel

Helfferich geht um

Was wird das deutsche Angebot bringen? Das ist die Frage, die augenblicklich in der Weltpresse mit großer Leidenschaftlichkeit erörtert wird. Auch in denjenigen Organen von internationaler Bedeutung, die die französische Gewaltpolitik scharf bekämpfen, betont man, daß im Augenblick die Entscheidung bei Deutschland läge, und ein Angebot der deutschen Regierung, das eine passable Diskussionsgrundlage bilde, geeignet sei, den Pariser Desperados das Blechschwert aus der Hand zu schlagen. Vor einer Woche hat der Abg. Stresemann in einer Rede erklärt, und wir haben das damals unterstrichen, daß es bei einer so folgenschweren Entscheidung nicht mehr darauf ankommen könne, um ein paar Milliarden zu feilschen. Wenn es gelingt, die okkupierten Gebiete zu befreien und Deutschland vor der Zerstückelung zu retten, dann darf das nicht an der Höhe des Preises scheitern.

Die deutsche Regierung arbeitet seit Tagen an der Fertigstellung des Angebotes. Arbeitet etwas zu lange, wie es heute selbst wohlwollende Beurteiler im Auslande aussprechen. Gewiß, es sind viele Schwierigkeiten zu überwinden, es ist jedes Wort des endgültigen Textes zu erwägen, jede einzelne Ziffer wird Gegenstand aufreibender Auseinandersetzungen mit Vertretern von Politik und Wirtschaft. Das alles ist natürlich in Rechnung zu stellen. Dennoch sollte die Regierung mehr Schwungkraft, mehr Entschlußfähigkeit zeigen. Schnelles Handeln ist not. Kunktatorische Taktik läßt Mißtrauen aufkommen, und die böse Skepsis, mit der Deutschland immer dann beobachtet wird, wenn zum Gelingen Vertrauen notwendig wäre, wird von neuem sich regen.

Inzwischen wollen die Gerüchte nicht verstummen, daß gewisse Elemente, denen es am liebsten wäre, den gegenwärtigen Konflikt ins Ungewisse zu verlängern, unermüdlich tätig sind, den Reichskanzler zu beeinflussen. Ganz besonders wird in diesem Zusammenhange der Name des Herrn Helfferich genannt, der, was Sabotage anbelangt, allerdings schon längst sein Gesellenstück geliefert hat, und um den Befähigungsnachweis deshalb eigentlich nicht verlegen sein braucht.

Die Situation ist die folgende: die ganze Welt erwartet von Deutschland ein Angebot, das dessen Willen zeigt, dem furchtbaren Streitfall ein Ende zu bereiten. Ob Deutschland das letzte Wort zu sprechen haben wird, mag dahingestellt bleiben. Aber in dieser Stunde hat es allein das Wort, und alles schweigt. Deshalb darf das deutsche Angebot nicht häßlichen Einwänden Raum geben; es muß durch völlige Durchsichtigkeit vor dem Odium der Zweideutigkeit bewahrt sein; es muß die ehrliche Absicht durchblicken lassen, diesmal ganze Arbeit zu leisten. Und in seinen Garantien müssen Angaben und keine Redensarten stehen.

Es gibt auch in Frankreich genügend prominente Politiker, die eine vernünftige Übereinkunft einer verrückten Gewaltpolitik vorziehen. Knüpft sich an die deutsche Note der Ruf des Ungenügenden, erscheint sie in einem trügerischen Lichte, so sind sie isoliert und Poincarés Kalkül triumphiert. Und was England anbetrifft, so hat Lord Curzons Rede keinen Zweifel darüber gelassen, daß England in diesem Falle aufhört, ehrlicher Makler zu sein und Partei wird.

Wir stehen zwischen Tür und Angel. Die Verantwortung für die Regierung, für uns alle, ist ungeheuerlich. Sollte Herr Helfferich, der Katastrophenpolitiker par excellence, mit gewohnter Behendigkeit die Tür ins Schloß schnellen lassen, – wer weiß, wann sie sich wieder öffnen wird.

Berliner Volks-Zeitung, 30. April 1923

418.

Volksbühne Bülowplatz

»Die lustigen Weiber von Windsor«

Dieses Lustspiel gehört zu denjenigen Komödien Shakespeares, die auf der Schaubühne selten gesehen werden. Es entbehrt jener innern Musikalität, die alle heitern Schöpfungen des großen Briten auszeichnet, und an der alten Anekdote, er habe das Stück auf besonderen Wunsch seiner königlichen Gönnerin Elisabeth geschrieben, die den dicken Ritter Falstaff gern einmal in einer Liebhaberrolle sehen wollte, mag insoweit ein wahrer Kern sein, als man dem Werk ohne besondere Mühe die bestellte Arbeit anmerkt. Das Spiel geht ausschließlich in bürgerlicher Sphäre vor sich, es fehlt der Ausflug ins Phantastische; der Dichter rührt nicht ans Elementare, und der Elfenspuk am Ausgang bleibt eben nur Maskerade, ein Schabernack, von braven Philistern ausgesonnen, – ein Sommernachtstraum ins Kleinstädtische projiziert.

Herr Heinz Hilpert, der in der Volksbühne interimistisch Fehlings Erbe verwaltet, bewies mit dieser Inszenierung unbestreitbares Regietalent. Alles Bildhafte war auf eine einfache, aber erschöpfende Formel gebracht, das Tempo bunt und wirblig, wie sich's für eine Clownerie gebührt. Die Begleitmusik von Wolfgang Zeller unterstrich in sehr glücklicher Weise. Aber ... befriedigte Herr Hilpert die Augen, so kam das Ohr dabei zu kurz. Riß das schmissige Tempo widerstandslos die Gliedmaßen der Schauspieler mit sich, so unterjochte es leider auch ihre Stimmbänder; unter der allgemeinen Geschwindigkeit litt die Deutlichkeit der Aussprache. Hier wird der Regisseur bei den Reprisen einzusetzen haben.

Der Falstaff des Herrn Georg August Koch war keine überwältigende Leistung, aber gut angelegt. Herr Koch gab die Possenfigur, nicht den zynischen Philosophen Falstaff. Hertha Wolff und Johanna Koch-Bauer dagegen führten einen wohlgelungenen Hexentanz lustiger Weiblichkeit auf, während Maria Weißleder als kupplerische alte Jungfer starkes karikaturistisches Temperament bewies. Von den Herren seien noch besonders erwähnt Guido Herzfeld, Hans Halden, Fritz Möller und Richard Leopold. Vergessen sei auch nicht ein neues anmutiges Gesicht, Dora Gerson.

Berliner Volks-Zeitung. 30. April 1923

419.

Die Modedame auf dem Wedding

Sie ging über den Weddingplatz, dem Untergrundbahnhof Reinickendorfer Straße zu. Ihre Kleidung war ein Gedicht. Ihre wohlproportionierte Gestalt ließ das Verlangen aufkommen, das Versmaß dieses Körpers zu ergründen.

Sie trug sich perlgrau. Das Hütchen, ein kleines, tropisches Vogelnest, sagte Frühling an, während wir anderen noch im Winterpaletot fürbaß wanderten. Sie aber schwebte, die Füßchen in einem weitmaschigen Netz von schwarzem Lackleder, leicht dahin wie eine Versinnbildlichung des Begriffes: Oberlicht. So ging sie über den Weddingplatz.

Und die Leute auf dem Wedding standen staunend, raunend. Sie sind ja manches verwegene Kostüm gewöhnt, aber daß plötzlich eine Figurine aus dem Modeblatt, ganz als müßte es so sein, am hellen Tage über den Wedding daherkam, das brachte doch ihr Fassungsvermögen ins Wanken. Mit deutlich wahrnehmbarer innerer Erschütterung wandten sie den Kopf, traten sie beiseite. So schritt die Modedame wie durch eine Triumphgasse. Und ganz so, wie es sich für solche Dame gebührt, nahm sie die Huldigung als etwas Selbstverständliches hin.

Dann hatte sie in der Untergrundbahn Platz genommen. Schwartzkopff-Straße stiegen ein paar Patentjünglinge ein, die augenblicklich ihre Munterkeit verloren und die Dame anstierten, als wäre sie das siebenköpfige Kalb. Station Stettiner Bahnhof gerieten ein paar halbseidene Herren unbestimmten Alters in ähnliche Verwirrung. Aber schon Oranienburger Tor war die Sensation wesentlich geringer, und am Bahnhof Friedrichstraße zwinkerte ihr ein bekofferter Gentleman unternehmungslustig zu. Kurzum, sie verlor sukzessive an Attraktion, und als sie Leipziger Straße ausstieg, da war sie vollends Masse geworden. Ohne Aufsehen zu erregen, verschwand sie in einem Strome ähnlicher Gestalten.

Und die Moral dieser Begebenheit? Was am Wedding wie ein Bote aus einer anderen Welt wirkt, das erscheint schon in der Leipziger Straße wie ein prosaisches Stück Alltäglichkeit.

Denn die Entfernung zwischen dem Wedding und der Leipziger Straße ist größer als die zwischen Berlin und Alaska. Es gibt gutgekleidete und armselig gekleidete Menschen. Aber es gibt keine Völker.

Berliner Volks-Zeitung, 6. Mai 1923


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