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360.

Der englische Wahlkampf

Die Orientkrise – Erfolg der konservativen Regierung – Politikmüdigkeit – Der Aufmarsch – Die Chancen – Die Arbeiterpartei

Die Reise des französischen Botschafters in London, St. Aulaire, nach Paris wird allgemein gedeutet als Auftakt einer neuen englisch–französischen Verständigungsmöglichkeit über die Orientfrage. Es war bekannt, daß in bezug auf den ganzen Komplex der vorderasiatischen Probleme weitgehende Differenzen zwischen Lloyd George und Lord Curzon bestanden, daß der Außenminister die Türkenpolitik seines Chefs abwegig und in der Linienführung inkonsequent fand. Das neue Kabinett hatte also, trotz aller Versicherungen, daß die Außenpolitik unverändert bleibe, die Aufgabe, unmerklich einzulenken. Die englische Position ist nun in den letzten Tagen nicht unwesentlich verbessert worden durch die Unklugheit der Angoratürken, die sich im großen wie im kleinen über den Mudania-Vertrag hinwegsetzen und damit die Begeisterung der Franzosen für ihre Sache wesentlich beeinträchtigt haben. Mag es auch verfrüht sein, schon jetzt von einer Neuorientierung am Quai d'Orsay zu sprechen, die französische Politik wird in Zukunft kaum mehr mit gleicher Entschiedenheit den Türken Sukkurs zukommen lassen, namentlich wenn England den bisherigen intransigenten Standpunkt ein wenig moderiert.

Gelingt es der englischen Regierung schon jetzt, ein Arrangement in die Wege zu leiten, das die Orientkonferenz in zweckentsprechender Weise vorbereitet und den Gegensatz zu Frankreich in diesen Fragen abbaut, ohne daß von einem englischen Prestige verlust gesprochen werden kann, so hätte das Vierwochenkabinett Bonar Law jetzt, mitten im Wahlkampf, einen ansehnlichen Erfolg erzielt, der auf den Ausgang der Kampagne nicht ohne Einfluß sein dürfte. Das Bosporus-Abenteuer der vergangenen Regierung wurde von der City mit einer Mischung von Spannung und Entsetzen verfolgt. Man fand Lloyd Georges Strategie, die sich in tausend Fällen bewährt hatte, ohnmächtig und aufgeregt zugleich, man sah einen Zickzackkurs ohne Wegrichtung und Ziel, fürchtete abwechselnd entweder völligen Verlust des ohnehin etwas ramponierten britischen Nimbus oder unübersehbare kriegerische Verwicklungen. Deshalb wurde der Rücktritt Lloyd Georges mit solcher Genugtuung und das neue Kabinett mit soviel Sympathie begrüßt. Man sehnt sich in England, müde der flackernden Genieblitze des dämonischen Walisers, nach Stetigkeit. Bonar Law wurde mit jenem Seufzer der Erleichterung empfangen, der charakteristisch ist für ein marode gewordenes Geschlecht, das in dem tüchtigen, zähen Durchschnittsmenschen die Garantie für Ruhe und Ordnung erblickt.

Auch das am meisten politisch durchgebildete Volk des Erdballs ist ein wenig politikmüde. Das Schicksal will es, daß den Engländern zurzeit das Ausruhen ebenso wenig gegönnt ist wie andern Völkern. Niemals waren die innen- und außenpolitischen Probleme drohender und tatheischender als jetzt. Zu der reichlich verfahrenen Außenpolitik kommt der gordische Knoten der Reparationsfrage, und im Lande selbst lastet wirtschaftliche Depression schwer auf den Gemütern, und auch Irland harrt noch der Pazifizierung. John Bull, der sich gern auf dem Kanapee ausstrecken möchte, wird von allen diesen Fragen wie von Taranteln gepeinigt und kann keinen Schlummer finden.

Ein englischer Wahlkampf war früher eine in der Form etwas exaltierte, in der Sache aber höchst einfache Angelegenheit. Nur zwei große Parteien standen sich gegenüber; die Labour Party kam für den Wettbewerb mit den beiden üppigen Schwestern nicht in Betracht. Diesmal jedoch erlebt England seinen kompliziertesten Wahlkampf. Die Arbeiterpartei tritt nicht als Schwanzstück der Liberalen auf, sondern mit einem weitgehenden sozialistischen Programm. Die Liberalen wieder sind gespalten in die Independenten um Asquith und Grey und die Koalitionsfreunde um Lloyd George und Churchill. Die Konservativen treten zwar äußerlich geschlossen auf, zerfallen aber tatsächlich in mindestens vier Gruppen: in die äußerste Rechte, jene verbissenen Landjunker um Carson und Younger, und die von Bonar Law geführte schwerindustrielle Mitte, die eine versöhnliche Tonart pflegt, in den linken Flügel um Chamberlain, der noch immer wegen der Koalitionssprengung grollt, und schließlich in eine betont sozial eingestellte Gruppe, die eine so bedeutende Persönlichkeit wie Lord Robert Cecil zum Sprecher hat, ein Mann, der höhere Ambitionen hat als die, zeitlebens als Vertreter beim Völkerbund zu fungieren. Der englische Wähler findet also diesmal einen reich besetzten Tisch vor. Und während die Sehnsucht nach dem beschaulichen Zweiparteiensystem dominiert, hat die zwangsläufige Tendenz zur Differenzierung, die für das moderne politische Leben so symptomatisch ist, den alten Parteifundus rücksichtslos durcheinandergewürfelt.

Welches sind nun die Chancen der einzelnen Gruppen? Erschwert wird dem Engländer die Wahl durch den Umstand, daß alle so ziemlich mit den gleichen Schlagworten operieren. Der Erfahrene weiß natürlich, daß es nicht gleichgültig ist, wer das Schlagwort gebraucht und sucht das eigentliche Programm zwischen den Zeilen. Maßgebend für den Ausgang wird schließlich sein, welche von den hervorragenden Persönlichkeiten es verstanden hat, am meisten öffentlichen Kredit zu gewinnen.

Als Bonar Law ans Ruder kam, trug sich die konservative Partei ohne Zweifel mit der Hoffnung, die absolute Majorität zu erringen. Diese Hoffnung besteht heute nicht mehr. Einzelne Schritte der neuen Regierung haben wenig Beifall gefunden, man täuscht sich auch nicht mehr über das reichlich geringe Format einiger ihrer Mitglieder hinweg. Als die rührigste Persönlichkeit wird der ehrgeizige Schatzkanzler Baldwin betrachtet. Es ist also begreiflich, daß das konservative Kabinett sehr gern noch unmittelbar vor Toresschluß einen aufsehenerregenden Schritt zur Liquidierung der bisherigen anatolischen Politik unternehmen möchte, um etwas Positives aufweisen zu können. Als Lloyd George Downingstreet verließ, herrschte allgemeine Koalitionsverdrossenheit. Heute ist man sich längst im klaren darüber, daß auch die kommende Regierung nur auf der Basis der Koalition möglich ist. Bei der starken Zersplitterung dürfte keine der Parteien eine solide Mehrheit erringen.

Dem eigenen Wunsch Lloyd Georges entspricht ohne Zweifel am meisten eine Allianz zwischen den beiden liberalen Parteien, mit der Arbeiterpartei und den Chamberlain-Konservativen als Flügelgruppen. Aber Asquith verhält sich ablehnend und tendiert eher zu Bonar Law. So muß Lloyd George sich bescheiden und seine ganze Taktik läuft im wesentlichen auf eine Rekonstruktion der alten Koalition hinaus. Auch Bonar Law, der vor kaum mehr als zwei Wochen erst diese Koalition demolierte, scheint heute der gleichen Idee zuzuneigen. Übersehen werden darf natürlich keinesfalls, daß man jenseits des Kanals solche Fragen nicht wie bei uns doktrinär, sondern nüchtern und geschäftlich behandelt. Aus diesem Grunde sind auch neue und überraschende Konstellationen nicht ausgeschlossen.

Etwas in den Hintergrund getreten ist neuerdings die Labour Party, der vor wenigen Monaten noch ein bedeutsamer Erfolg, gelegentlich sogar ein überwältigender Sieg vorausgesagt wurde. Selbst Konservative hatten sich zu Zeiten schon mit dem Gedanken einer Arbeiterregierung vertraut gemacht. Die Gemeindewahlen in London haben der Partei nunmehr eine sehr empfindliche Niederlage gebracht. Erklärt wird dieser erstaunliche Rückschlag wohl in erster Linie dadurch, daß die Arbeiterpartei, früher eine nicht immer sehr radikale, soziale Reformpartei, zum erstenmal mit einem weitgehenden und etwas theoretisch anmutenden sozialistischen Programm auf den Plan tritt. Der Engländer, im allgemeinen ziemlich frei von der kontinentalen Sozialistenfurcht, bleibt als politischer Mensch stets unbedingt aktuell. Der Verfasser der klassischen »Utopia« war zwar ein Brite, aber im Hauptberuf doch nicht Träumer, sondern Lordkanzler eines Tyrannen. Die Arbeiterpartei bringt sich mit ihrem Ausflug ins Zukunftsland aller Wahrscheinlichkeit nach um die Früchte der Gegenwart.

Berliner Volks-Zeitung, 5. November 1922

361.

Komödienhaus »Die Erwachsenen«

Herr Sling ist ein graziöser Plauderer. Kein professioneller Humorist, aber ein Mensch, der das Herz auf dem rechten Fleck hat und die Wahrheiten, die er zu sagen hat, weder verwässert noch vergiftet. Dieses Lustspielchen hier mag in technischer Beziehung nicht ganz hieb- und stichfest sein, ein dritter Akt humpelt bedenklich nach, aber es schmeichelt sich ein durch eine saubere Sprache und anständige Gesinnung. Der Kampf der zwei Generationen, ein Lieblingsthema unserer Jungen, wird in einer sehr ergötzlichen Weise variiert. Es geht nicht so grausam her wie bei Hasenclever oder Bronnen, aber die alte Generation wird dennoch nicht schlecht gerupft von den »Kindern«. Der Familienareopag, der die Ehe zweier sehr junger Menschen verhindern will, löst sich in sanfte Blamiertheit auf. Das wickelt sich ab in dem reinsten Komödiendialog, den wir seit langem auf einer Berliner Bühne erlebt haben.

Die Darstellung wurde dem entzückenden Werkchen gerecht. Die schöne blonde Charlotte Schultz verkörperte die Rebellion mit viel Temperament, ihr Partner Heinz Fischer mit dem Phlegma, das seine Rolle erfordert. Stahl-Nachbaurwar der Vertreter der »Alten«; selbstherrlich, egoistisch, charakterschwach. Ein karikaturistisches Gegenstück war dazu bei Ernst Behmer in besten Händen. Besonders hervorzuheben sind noch Hans Herrmann, Maly Delschaft und Manfred Fürst.

Berliner Volks-Zeitung, 5. November 1922

362.

Der Imperator

Manch braver Bürgersmann, der einst Wilhelm II. in dessen Glanztagen aus vollem Herzen und voller Kehle ein »Hurra« zugerufen hat, mag sich in den letzten Jahren die Frage vorgelegt haben, wie diesem Manne wohl zumute sein möge, nachdem ihn das Schaufelrad des Glückes in Holland abgesetzt. Ein Buch von 300 Seiten, von dem Objekt der Neugierde selbst abgefaßt, gibt darauf deprimierende Antwort.

Deprimierend? Ja und nein. Erfreulich insofern, als man erfährt, daß der Schicksalswechsel den ehemaligen Kaiser in keinem Stück irgendwie verändert hat. Bedenklich insofern, als man entdeckt, wie grenzenlos klein der Mann sich ohne Ross' und Reisige ausnimmt, wenn man ihn aus der steilen Höhe holt, wo Fürsten stehn.

Es gibt kaum ein Buch, das menschlich leerer wäre als die Erinnerungen Wilhelms II. Selbst das des Kronprinzen, mit seinen faden Lyrismen und dilettantischen politischen Reflexionen strotzt daneben von einer Fülle der Gesichte. Wilhelm II. war eitel, von absolutistischen Neigungen, bald der stolze Cäsar, der dennoch aufs Kapitol will, bald der Caligula, der sich beim Gewitter unterm Tisch verkriecht, alles dies aber hätte ihn schließlich nicht gehindert, ein interessantes Buch zu schreiben. Gerade bei der Vielseitigkeit seiner Interessen, bei seinem starken komödialen Einschlag hätten sich immerhin ein paar leidlich amüsante Memoirenkapitel erwarten lassen.

Voltaire hat bekanntlich behauptet, daß es nur ein wirklich verwerfliches Genre von Büchern gebe: das langweilige. Wilhelms Buch aber provoziert Gähnkrämpfe. Der Leser fragt sich immer wieder: was hat er eigentlich gesehen, was erlebt? Und die Antwort muß lauten: nichts!

Wie haben auf den Mann die unendlich vielen außergewöhnlichen Erscheinungen gewirkt, mit denen er im Laufe von mehr als dreißig Jahren zusammengekommen? Auch hier muß die Antwort lauten: überhaupt nicht. Sie sind spurlos an ihm vorübergegangen. Bethmann wird in dieser Darstellung ein langweiliger Pedant, Bülow ein amüsanter Plauderer, Caprivi ein etwas eitler General und Bismarck ein verdientes altes Faktotum des Hauses Hohenzollern, das an die Luft gesetzt werden mußte, weil es sich zu mucksen unterfing. Nirgends ist Wilhelm bis zum Kerne des Wesens eines der Menschen gedrungen. Er kennt ihre Achselstücke, ihre Orden, ihre Reitstiefel, aber von ihnen selbst hat er keinen Schimmer.

Man hat nicht einmal das Gefühl, daß ihn das gewaltige Schicksal, das ihn von der Höhe hinuntergefegt, tragisch berührt hat. Er verweilt nicht bei den entscheidenden Stunden seines Lebens am längsten, sondern bei allerhand Kleinkram. Paraden, Hoffestlichkeiten und dergleichen. Er wird als Mensch weder vereinfacht, noch kompliziert. Er bleibt immer gleich selbstbewußt, verliert keinen Augenblick die Contenance, und beachtenswert bleibt nur die Leichtigkeit der Geste, mit der er für alle Fehlschläge seine Ratgeber verantwortlich macht. Niemals auch nur die Spur eines Gedankens, er selbst könnte an manchem wenigstens mitschuldig sein. Seine Gottähnlichkeit, die dem deutschen Volke so gefährlich wurde, hat sich bei ihm als seelisches Hausmittel vorzüglich bewährt. So toll es klingen mag, er ist keinen Augenblick aus dem Gleichgewicht geraten. Was nur großer Seelenstärke sonst gelingt, ist hier mühelos der Mittelmäßigkeit gelungen.

Eine Anklage, ein Schrei der Wut, ein Heulen der Verzweiflung, ein Schwelgen in vergangener Größe, alles das wäre begreiflich gewesen. Aber diese gleichgültige Glätte, dieses Plätschern in Seichtheit stellt immerhin einen Fall von nicht alltäglicher Oberflächlichkeit dar. Die Republik sollte in Gottes Namen diesem Buch zur weitesten Verbreitung verhelfen. Es kann außerordentlich belehrend wirken, denn es zeigt dem monarchistischen Spießer, wie sein Abgott ohne Hermelin und Purpur aussieht.

Wilhelm II. hat sich in diesem Buch bei Lebzeiten ein Monument errichten wollen. Es ist ein Grabstein für die Ambitionen der Hohenzollern geworden.

Berliner Volks-Zeitung, 9. November 1922

363.

Armee ohne Tambour!

Die Revolution ist zu Ende. Sie ist nicht zugrunde gegangen an inneren Widerständen, nicht dem Kugelregen der Noske-Truppen erlegen. Der konterrevolutionäre Akt der modernen Geschichte, der Versailler Friede, hat sie zerschlagen. Indem er Deutschland aus der Reihe der großen Wirtschaftsstaaten stieß, es territorial zerstückelte und der Suprematie des westeuropäischen Kapitalismus unterstellte, traf er auch den Lebensnerv der hochentwickelten deutschen Arbeiterbewegung, zerstörte er den Körper gleichsam der deutschen Revolution, zurück blieb die Idee, ein flatterndes Seelchen, ohne Gehäus von Fleisch und Blut. An dem Dokument von Versailles hat die deutsche Revolution sich zerrieben, sich aufgelöst in eine Kette von kleinen Hungerrevolten. Und damit mußte auch das, was man einmal ihre »Errungenschaften« nannte, sich in ein Nichts auflösen. Geblieben ist nur die Republik.

Darin liegt ein sehr wertvolles Kriterium. Denn schließlich verschwindet nur das mangelhaft Fundierte, das der natürlichen Entwicklung Vorweggenommene. Die Rätediktatur, wo sie sich über Nacht einnistete, verschwand schnell, wenn es Tag wurde. Die demokratische Republik, obgleich oft genug vom Kampfgeschrei umtost, hat sich behauptet. Das sollte denen ernsthaft zu denken geben, die in dem Siege der deutschen Demokratie so etwas sehen wie eine schnell vergehende Improvisation, einen Irrtum der Weltgeschichte. Die Republik ist nicht gekommen, weil in Kiel Matrosen meuterten, oder Herr Emil Barth mit Joffes Rubelnoten einen Möbelwagen voll Pistolen kaufte, oder Wilhelm II. zu zaghaft war, um die Krone mit der Waffe zu verteidigen. Sie ist gekommen, weil das alte System reif zum Schnitt war. Weil der Dreiviertelabsolutismus aus Bismarcks Tagen, von den dilettantischen Händen des letzten Kaisers weitergeführt, längst zum komischen Anachronismus geworden war. Vielleicht hätte die Einführung des parlamentarischen Systems vor mehr als zwanzig Jahren die Katastrophe abwenden können. Im Oktober 1918 war es zu spät. Blicken wir heute zurück, so müssen wir leider konstatieren, daß das Kaisertum uns nichts zurückgelassen hat als einen Trümmerhaufen und ein politisch schlecht erzogenes Volk. Ein Volk, das gewohnt war, am Gängelband geführt zu werden. Ein Volk, das in seiner großen Mehrheit mit der ihm plötzlich zugefallenen Freiheit nichts Rechtes anzufangen versteht und die Rechte, die es sich nicht erkämpft hat, teils argwöhnisch, teils offen feindselig, teils gleichgültig betrachtet.

Vier Jahre Republik! Wer es unternimmt kritisch zu werten, darf nicht zuerst die Frage stellen: was hat sie geleistet? sondern: womit ist sie belastet? Außenpolitisch ist sie gezwungen, die ungeheuerliche Schuldenlast abzutragen, die der Krieg hinterlassen hat, innenpolitisch findet sie ein durch den Kaiserismus verdorbenes Volk vor. Sie hat also die Doppelaufgabe, zu handeln und zu erziehen. Es soll und darf uns am republikanischen Ideal nicht irre machen, daß sie bisher weder dem einen noch dem anderen gerecht geworden ist. Aber ausgesprochen muß es werden. Keine Vogelstraußpolitik! Indem wir die der Republik durch die Zeitverhältnisse mit unbestechlicher Folgerichtigkeit gezogenen Grenzlinien feststellen, können wir sie erst wirklich beurteilen.

Unabhängig von dem jedoch, was ihr aufgezwungen und folglich ihr Wesen beeinträchtigt, muß der Vorwurf gegen sie erhoben werden, daß sie es nicht verstanden hat, genügende Werbekraft zu entfalten. Man werfe doch nicht ein, daß aus Angst vor dem Chaos, in das uns schlechte monarchische Abenteurer hineinhetzen könnten, immer mehr rechtsbürgerlich gerichtete Kreise ihre Opposition gegen die Republik zeitweilig einstellen. Es kann einer neuen Staatsform doch nicht darauf ankommen, vorübergehende Anerkennung vom grundsätzlich Widerstrebenden zu gewinnen; eine Anerkennung, die durch bestimmte Umstände bestimmt und schleunigst zurückgenommen wird, wenn diese nicht mehr vorliegen. Wenn Herr Oberst a.D. X. sich nicht mehr freut, wenn er von der Ermordung eines republikanischen Ministers hört, wenn der Großindustrielle Y. einsieht, daß die Republik notwendig ist für die Verhandlungen mit den Westmächten, so ist das sicherlich ganz erfreulich. Aber was ist bisher geschehen zur Heranbildung eines Stammes von Republikanern, die bereit sind, mit Kopf und Herz für ihre Idee einzustehen, ihr, wenn nötig, die Treue mit dem Blute zu besiegeln?!

In Verwaltung, in Armee, in Schule und Kirche, überall bleibt der Republikaner eine isolierte Erscheinung. Er ist jeder Schikane, jeder Benachteiligung, jeder Verfolgung ausgesetzt. Er weiß keine Staatsgewalt hinter sich. Er empfindet nur, daß das Wirken für die Republik ein Arbeiten pour le roi de Prusse ist. Es fehlt dieser Republik in hohem Maße der Sinn für Kameradschaftlichkeit, das Gefühl für das Grundgesetz aller Demokratie: Alle für Einen und Einer für Alle! Es fehlt an innerem Zusammenhang, fehlt an geistiger Haltung und vor allen Dingen an begeisternden Parolen. Die Republik ist unsichtbar. Sichtbar wird nur die Wilhelmstraße, dieses absurde Gemengsel von Alt und Neu, in dem aber schließlich immer die neunmalgeheiligte Tradition den Ausschlag gibt. Und Tradition in unser geliebtes Deutsch übertragen, bedeutet dort: es hat niemals einen 9. November gegeben.

Man hört oft den Vorwurf, es werde zu wenig für Propaganda getan. Das ist unbestreitbar richtig, aber bedrucktes Papier kann auch nicht die lebendige Triebkraft ersetzen. Was fehlt, das ist das Selbstvertrauen, das aus allen großen und kleinen Handlungen strahlen muß. Aber gerade das wird unterdrückt, als fürchte man, die Monarchisten zu provozieren. Natürlich soll der Stil nicht ein prahlerischer und scharfmacherischer sein, aber in allen amtlichen Manifestationen und namentlich in den präsidialen Kundgebungen macht sich in peinlicher Weise der Mangel jener Selbstverständlichkeit bemerkbar, die nach innen und außen dokumentiert: dieses Staatswesen ruht sicher in sich selbst. Überall, wo die Republik sich offiziell verlautbart, schwingt ein wenig der Unterton mit: »Ich habe es nicht gewollt!« Auf ihrer Visitenkarte steht: »Entschuldigen Sie, daß ich geboren bin.«

Lloyd George hat kürzlich in einer Wahlrede gesagt: Deutschland habe seit 1918 viele tapfere Kämpfer gehabt, aber keinen Tambour. Mit der historischen Bildung des früheren englischen Ministerpräsidenten ist es, das weiß jeder Tertianer, nicht weit her, aber sein Blick für die Gegenwart besitzt untrügliche Schärfe. Kürzer und treffender hätte nicht ausgesprochen werden können, wo Deutschland der Schuh drückt. Das Land ist verarmt und ein Opfer aller Krankheiten dieser Nachkriegszeit geworden. Dennoch ist das Volk im Kern gesund und lebenskräftig und aus Instinkt und guter Überlieferung arbeitsam und arbeitstüchtig. Seine Politiker sind zwar keine von allen guten Geistern beleuchteten, aber was man auch gegen sie sagen mag, nicht klüger oder dümmer als anderswo auch. Aber es fehlt der Trommelwirbel, das Anfeuernde, das Beflügelnde. Es fehlt das Signal, das die Herzen schneller schlagen läßt, das den in Müdigkeit erschlafften Gliedern den jähen Ruck gibt und jene zurückführt, die im Begriff sind, sich beiseite zu drücken.

Die deutsche Republik hat viele Feinde, wird gehemmt von offenen und geheimen Widerständen. Sie hat bei alledem bewiesen, daß sie sich zu wehren versteht, aber wenn der tragische Augenblick vorüber war, ging es im Trott und Parteihader des Alltags weiter. Man hat niemals verstanden, ein wenig von der Stimmung besonderer Momente in die Zukunft hinüberzuretten. Und wenn schon einer Reveille trommelte, so wurde der Ehrgeiz sämtlicher Nachtwächter aufgestachelt, ihn zu übertönen.

Berliner Volks-Zeitung, 9. November 1922

364.

Das Kabinett der Schwarzhemden Italien unter Mussolini

Als vor wenigen Wochen das Fascistenheer unbehindert durch die Staatsautorität in Rom einrückte und das kraftlose Ministerium Facta ad acta legte, war sich die öffentliche Meinung klar darüber, daß hier ein revolutionärer Akt vollzogen worden war. Betrachtet man heute das Ergebnis der mit vielem Tamtam vor sich gegangenen Umwälzung, so kann man ein wenig an dieser Auffassung irre werden. Die Fascisten wollten doch mit einem kühnen Schlage die ganze etwas verrostete Maschinerie des alten Parlamentsstaates beiseite fegen und eine »Regierung« dort aufrichten, wo ein »Kabinett« bislang mehr vegetiert als geherrscht hatte. Aber schließlich ist auch nicht mehr daraus geworden als eben ein Kabinett, und zwar ein sehr mittelmäßiges. Denn der kluge und sehr maßvolle Giolitti zum Beispiel trat ohne Zweifel stärker auf als die wandelnde Maultrommel Mussolini. So wäre denn alles nur geschehen, um ein paar Politikern nach den auch in Italien herrschenden ehernen Gesetzen der Ochsentour zu Ministersesseln zu verhelfen, ehe die Fraktionsbullen dazu ihr Plazet gegeben.

Als Mussolini in Neapel großspurig sein Programm verkündete, wußte man es schon: auch dieser wird, einmal zu Amt und Würden gekommen, mit Wasser kochen müssen. Daß er sich aber mit der von allen Ministerien von Orlando bis Facta reichlich ausgeschöpften Zisterne begnügen würde, das hätte man damals doch nicht ohne weiteres geglaubt. Möglich, daß er, einer sozusagen staatsmännischen Regung folgend, zunächst durch die Weisheit der Mäßigung zu imponieren gedenkt. Dennoch haben seine Anhänger ohne Zweifel mehr erwartet.

Die Fascisten gliedern sich in zwei deutlich unterscheidbare Gruppen. Die eine kommt von rechts; sie rekrutiert sich aus den Bürgersöhnen, der seidenen und halbseidenen Jugend, die nun einmal dabei sein muß, wenn's nationalistischen Rummel gibt und stets royalistischer sich gebärden möchte als selbst der König. Die andere aber kommt von links; das sind die Kleinbürger, die sich über das Schiebertum giften und, wie überall, auch in Italien die eigentlichen Leidtragenden der Kriegszeit sind; weiter Sozialisten und Syndikalisten, die, durch die Tatenlosigkeit und Parteistänkereien des offiziellen Sozialismus enttäuscht, sich dem entgegengesetzten Prinzip in die Arme geworfen haben und zunächst zufrieden sind, daß jemand drauf und dran ist, der dreimal vermaledeiten Demokratie die Gurgel umzudrehen. Ein bourgeoiser und ein proletarischer Flügel also, von durchaus divergierenden Interessen, beide nur geeint durch den Haß gegen die demokratischen Institutionen und einen Parlamentarismus, der, ratlos vor den großen wirtschaftlichen und politischen Problemen, Aktivität durch Roßtäuscherkniffe zu ersetzen trachtet.

Mussolini, um diesen etwas sehr bunt gemischten Heerbund zusammenzuhalten, beginnt mit einer großen Pause. Er hat die Kammer nicht, wie vielfach angenommen wurde, in die Wüste geschickt, und hält auch zurück mit Maßnahmen, die einschneidend ins wirtschaftliche Leben greifen. Durch bestimmte Gesten nur will er durchblicken lassen, daß in die Außenpolitik ein frischer Zug gekommen ist. Er hetzt seine Emissäre zwischen den europäischen Hauptstädten hin und her und läßt seine Presse melden, daß er nicht nur Jugoslawien mit harter Faust anpacken werde, sondern auch nicht gesonnen sei, in der Reparationsfrage und der Orientaffäre auf die entschiedenste Geltendmachung von Italiens Großmachtstellung zu verzichten. Allerdings steht die versöhnliche Sprache, die der Ministerpräsident führt, wieder in einem strikten Gegensatz zu den nervösen Exklamationen der von ihm inspirierten Blätter. Deshalb dürfte der Eindruck in Paris und London, und selbst in Belgrad, wohl ein zwiespältiger sein, jedenfalls nicht ganz so wuchtig, wie man es sich in Rom vorstellt. Ein »starker Mann« dürfte mit so abgestandenen Tricks kaum den Glauben erwecken, es wirklich zu sein, und der als europäischer Ruhestörer Gefürchtete entpuppt sich mehr und mehr als ein Mächler kleinen Zuschnitts. Die erste diplomatische Niederlage schon kann das seinen Landsleuten offenbaren.

In dem Augenblick aber, da der Fascismus den Glauben an seinen Führer verliert, wird er erst für Italien wirklich gefährlich werden. Dann werden die bisher durch den Offensivelan verdrängten inneren Gegensätze akut werden. Dann mag der Fascismus alsdann auch seine Ideenlosigkeit erweisen, – er hat die Waffen. Und wie das durch keinen Verstand mehr kontrollierte irrlichternde Gefühl sie gebrauchen wird, das wissen wir aus analogen Vorgängen in Vergangenheit und Gegenwart nur zu gut. Einstweilen jagt Mussolini Herrn della Torrette im Flugzeug nach London, und seine Gazetten schwelgen in energischen Worten gegen England und munkeln, daß ihr Herr und Meister in Lausanne wie ein Diktator aufzutreten beabsichtige. Eine dunkle Wolke hängt über dem sonst so heitern Lande. Darüber kann auch das Feuerwerk eines Tribunen nicht hinwegtäuschen.

Berliner Volks-Zeitung, 16. November 1922

365.

Der Weltkapitalismus als »Retter«? Die Schwerindustrie und die Erfüllungspolitik

Es gehörte in diesen Tagen einige Courage dazu, ein gutes Wort für den Reichskanzler Dr. Wirth zu finden. Er war zerniert von Mißtrauen und Feindseligkeit, und auch die ihm früher wohlgesonnen waren, werfen ihm zum mindesten eine den gebieterischen Forderungen der Zeit gegenüber unerlaubte Passivität vor. Wir geben ohne Umschweife zu, daß Aktivität niemals zu den starken Seiten der demissionierten Reichsregierung gehörte, die namentlich seit Rathenaus gewaltsamem Ende allzu oft fühlen ließ, daß die Mordbuben tatsächlich die bewegende Kraft der Regierungsmaschinerie getroffen hatten. Trotz alledem wäre es gründlich verfehlt, Herrn Dr. Wirth persönlich für die zahlreichen innen- und außenpolitischen Fehlschläge haftbar machen zu wollen. Der Politik der Regierung waren durch die hinter ihr stehenden Parteien die Grenzen gezogen; ihre Niederlage ist die der Koalition. Der deutsche Parlamentarismus ist wohl etwas grün, noch fehlt die Tradition und damit die sichere Beherrschung der vielstimmigen Klaviatur. Aber Fehler hin, Fehler her, der tiefere Grund, daß die Fregatte Wirth, die vor anderthalb Jahren stolz bewimpelt den Hafen verließ, unter dem Beifall fast der ganzen Welt, heute mit gebrochenem Steuer zurückkehrt, ein Gegenstand überlegenen Spottes für das dümmste Käseblatt, ist und bleibt die Feindschaft der deutschen Schwerindustrie. Das Fahrzeug Wirth ist in dem stinnesschen Strudel zum Wrack geworden. Und wenn der Kapitän sich auch an dem Felsen, an dem er schließlich scheitern sollte, festklammerte, – es nützte nichts mehr.

Es ist deshalb einigermaßen erstaunlich, daß Herr Stresemann in seiner Elberfelder Rede die Behauptung aufstellte, Deutschland und Europa könne nur durch den internationalen Kapitalismus geholfen werden. Der internationale Kapitalismus als Retter, – diese Lesart ist zum mindesten originell! Da hat man sich acht Jahre lang vor der »goldenen Internationale« bekreuzigt, hat immer wieder mit dem Brustton der Überzeugung versichert, daß Deutschland nicht zum Auspowerungsobjekt für den westlichen Kommerzialismus werden dürfte, und nun soll von da ausgerechnet ein Retter kommen diesem Lande.

Wenn Herr Stresemann meint, daß aus dem derzeitigen verzweifelt traurigen Zustande nur ein internationaler Weg führen könne, so freuen wir uns außerordentlich, daß der Führer der deutschen kapitalistischen Partei par excellence hier einen Gedanken ausspricht, der von den Links- und Mittelparteien stets mit Nachdruck vertreten wurde, ohne indessen den Beifall der extremen und gemäßigten Rechten finden zu können. Wie wurde Rathenau empfangen, als er aus Wiesbaden zurückkehrte! Als habe er dem welschen Drachen den deutschen Nibelungenhort in den Schlund geworfen.

Es geschehen seltsame Dinge zurzeit zwischen Paris und Berlin. In Deutschland bekennen sich verbissene Chauvins zu den bisher so arg verpönten Methoden des Internationalismus, kokettieren die Deutschnationalen mit Erfüllungspolitik. In Paris dagegen schwärmt dieselbe Boulevardpresse, die an keiner deutschen Regierungsperson ein gutes Haar läßt, für Herrn Hermes, der stets das seinige getan hat, um innerhalb des Kabinetts der Erfüllungspolitik Schwierigkeiten zu bereiten, während Herr Barthou vor seiner Abreise von Berlin in Interviews auf dem Bahnsteig dem deutschen Volke den guten Rat erteilte, sich eine andere Regierung zuzulegen. Vor kurzer Zeit noch wäre die gesamte Rechtspresse ob solcher Bevormunderei in ein wüstes Indianergeheul ausgebrochen und hätte die Skalplocke des Herrn Vorsitzenden der Reparationskommission gefordert und die Regierung verflucht, die sie ihnen nicht beschaffte. Diesmal jedoch bleiben die streitbaren Männer friedlich im Wigwam hocken, grinsen gutgelaunt und machen keinen Hehl daraus, daß Herr Barthou ihnen aus der Seele gesprochen habe. Die nationale Würde, die sonst zu brodeln beginnt, wenn ein französischer Reisender mit einem Berliner Droschkenkutscher Unfreundlichkeiten austauscht, kommt allerdings zu kurz dabei.

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, daß Barthou während seines hiesigen Aufenthalts von den hochmögenden Herren der Schwerindustrie lebhaft bestürmt wurde, doch die gegenwärtige Regierung nicht allzu ernst zu nehmen. Die Ermahnungen dürften, wie der Ausgang der Unterhandlungen beweist, auf keinen unfruchtbaren Boden gefallen sein, und in Frankreich erwartet man jetzt sehnsüchtig die neuen Männer, die das »Kabinett des guten Willens« noch an gutem Willen überbieten.

An und für sich ist es natürlich als ein erfreulicher Fortschritt zu verbuchen, wenn die stärksten wirtschaftlichen Potenzen Deutschlands und Frankreichs endlich aufhören, die Verhandlungen mit dem Knüppel in der Faust zu führen. Dennoch darf darüber nicht vergessen werden, daß gerade von dieser Seite das nationalistische Feuer hüben und drüben am heftigsten geschürt wurde. So bleibt der unerquickliche Gedanke zurück, daß die Herrschaften nicht anders als einst die absoluten Monarchen in den Völkern nur die große, stumme Masse erblicken, die man, ganz wie es die Interessen gebieten, bald in die Schützengräben jagte, bald beim Versöhnungsfest Komparserie bilden läßt. Die Erfüllungspolitik Wirth-Rathenau war vom gemeinwirtschaftlichen Gedanken durchtränkt, die Erfüllungspolitik Stinnes', deren Verständigung mit dem Weltkapitalismus zusehends fortschreitet, macht aus einer tiefen sittlichen Idee eine kalte Spekulation, deren Risiko von den wirtschaftlich Schwachen getragen wird. Sie merzt den gemeinwirtschaftlichen Einschlag aus und proklamiert das ausschließliche Recht der wenigen Starken. Die Bausteine der zerstörten französischen Provinzen sollten von einem neuerwachten schöpferischen Willen der Völker Europas zeugen. Es war ein Traum. An Stelle der neuen Gesellschaft der Nationen kommt schließlich ein Welttrust heraus, der die sozialen Gegensätze steigert und die Ära der Völkerschlachten ablöst durch eine Epoche erbitterter und zerstörender Klassenkämpfe.

Berliner Volks-Zeitung, 18. November 1922

366.

Hopwood »Der Mustergatte«

Lustspielhaus

Eine über drei Schwankakte gedehnte Sketchidee. Hintergrund: das vom Alkohol befreite Amerika. Infolgedessen rotiert die Handlung um einen massiven Cocktailrausch. Solange, bis alle, die in dieses Spiel hineinverwickelt werden, gleichfalls rotieren.

Mit amerikanischem Farbenstil ist nicht kritisch zu rechten. Die Yankees haben solidere Nervenstränge, und daß man sich gestern abend dennoch amüsierte, liegt es daran, daß uns allen in diesen letzten Theaterwintern der Sinn für die delikate Komödienlinie endgültig abhanden gekommen ist. oder war es Max Adalbert allein, der die mehr als reichlichen Bedenken kurzerhand abtat und anfänglich fast widerwillige Heiterkeit schließlich doch in helles Vergnügen ummodelte?!

Handlung? Also, Adalbert spielt den tugendhaften Ehemann, der seine Frau langweilt, den Mustergatten, der in schlimmen Verdacht gerät und durch eine Verstrickung widriger Umstände der Sünde fast in die Arme getrieben wird, dank seiner vollkommenen Ahnungslosigkeit, wie man sich bei dergleichen benimmt, aber immer als Parsifal aus seinen Nöten hervorgeht und gänzlich unverdient für die Gattin noch den Nimbus des interessanten Kerls gewinnt. Er macht seine Sache, wie immer, erschütternd. Er hat den hilflos schweifenden Blick der Unschuld, der Bestien zähmen könnte. Und man vergißt den grobdrähtigen Exzentrik-Schmarren und lacht immer wieder über diesen wunderlichen Kauz, dessen Komik so unaufdringlich aus intimster Menschlichkeit aufsteigt.

Um ihn der zappelige Georg Baselt und der scharmante Alfred Haase.

Und Dagny Servaes, die eigentlich zu schade dafür ist.

Berliner Volks-Zeitung, 19. November 1922

367.

Scandalosa

Aufklärung oder ...?

Herr Dr. Friedrich Trefz, einstmals Chefredakteur des liberalen »Hamburger Fremdenblattes«, nunmehr Mitglied der politischen Redaktion der »Münchener Neuesten Nachrichten«, versendet an die deutsche Presse einen Bericht über die Rede, die der sozialdemokratische Abgeordnete Blumtritt am vergangenen Donnerstag im bayerischen Landtag gehalten hat, mit den Entgegnungen des Ministerpräsidenten v. Knilling und des Landtagspräsidenten Königsbauer. Was ist nun Besonderes vorgefallen, um dieses außergewöhnliche Verfahren einer Zeitung zu rechtfertigen? Herr Blumtritt hat in der Debatte über die Fechenbach-Interpellation Ausführungen gemacht zur Kriegsschuldfrage, die nicht eben von übergroßer Sagazität zeugten, aber auch keine Unwahrheiten enthielten. Wenn Abgeordneter Blumtritt auf das hohe Schuldmaß der »alldeutschen Herren«, wie er sich ausdrückte, hinwies, so wird das niemand zu bestreiten wagen, der nicht selbst notgedrungen zu dieser angenehmen Kategorie gerechnet werden muß. Und wenn Blumtritt weiter behauptete, es hätte keiner, der den Gewaltfrieden von Brest-Litowsk mit Jubel begrüßte, das Recht, gegen den Gewaltfrieden zu Versailles zu wettern, so mag sich der kratzen, den es juckt, aber Veranlassung liegt nicht vor, die gesamte deutsche Presse dazu einzuladen. Beachtenswert sind indessen die Glossen des Münchener Blattes. Der Abgeordnete Auer, der während Blumtritts Rede die Sitzung leitete, wird gerüffelt, weil er sich zu dieser »schamlosen Verräterei am Vaterlande« nicht rührte, dagegen der Präsident Königsbauer gelobt, der seinem Bedauern Ausdruck gab, daß »solche schwere und gefahrdrohende Verdächtigungen den Schutz der parlamentarischen Immunität genießen«. Die »M.N.N.« nehmen natürlich diesen Wink mit Behagen auf und resümieren nach einem erneuten Seitenhieb gegen Auer folgendermaßen:

»Der Vorgang paßt ganz in die Art des Internationalismus der marxistischen Parteien, für die auch die Form der darauffolgenden Begründung der sozialdemokratischen Interpellation über den Fechenbach-Prozeß ein Beispiel war. Was würde in den Ländern, denen mit solchen Gesinnungen das Spiel gefördert wird, mit solchen Leuten geschehen?«

Was anderweitig mit »solchen Leuten« geschieht, entzieht sich, da wir nicht über die profunde Auslandserfahrung der Prokuratoren des bayerischen Heiligen Synods verfügen, unserer Kenntnis; wir wissen jedoch, Herr Dr. Trefz, was in München mit ihnen geschieht. Man schießt sie nächtlicherweise übern Haufen, und die Polizei hilft den Mördern über die Grenze. Ist das der Sinn des ganzen Entrüstungsfeldzuges, den Revolverhelden schon jetzt den Generalpardon zu sichern?!

Die »Schweren«

Im Verein Berliner Kaufleute und Industrieller sprach vor einigen Tagen ein prominenter Wirtschaftspolitiker, der Direktor Hans Craemer, über die gegenwärtige politische Situation. Einleitend bemerkte der Vorsitzende, daß für diesen Abend eigentlich der Reichspräsident und der Reichskanzler ihr Erscheinen zugesagt hätten. Durch diese Einladung sei der Versuch gemacht worden, »ein Forum zu schaffen für die Reichsregierung, vor dem sie, wenn der Reichstag nicht versammelt ist, jederzeit weithin vernehmbar sich zur Geltung bringen kann ...« Gut gemeint. Gerade in England, dem klassischen Boden des Parlamentarismus, gehören Ministerreden vor Handelskammern und dergleichen zu alltäglichen Erscheinungen. Ein Unterschied jedoch: drüben wählt sich ein Staatsmann sein Forum und würde seine Zusage augenblicklich zurückziehen, wenn eine bestimmte Korporation in so präponderanter Weise beanspruchen wollte, die Plattform zu sein. Was in der Einleitung nur angedeutet wurde, führte der Referent mit Konsequenz durch. Herr Direktor Craemer verwahrte sich dagegen, daß die ganze deutsche Wirtschaft unter das »kaudinische Joch einer Partei gebeugt« werde. Der Glaube an den Staat sei dahin und auch der Glaube an die deutsche Wirtschaft in Gefahr, verloren zu gehen. Deshalb sei für das Bürgertum die Stunde der Entscheidung gekommen. Das deutsche Unternehmertum habe der Arbeiterschaft vier Jahre lang gezeigt, daß es ihr vertraue; nun sei der Augenblick gekommen, die Erwiderung dieses Vertrauens zu fordern. – Das alles ist ziemlich unrichtig, ziemlich ahnungslos und ein wenig anmaßend. Wo in aller Welt ist denn dieses kaudinische Joch zu suchen? Gesetzt, es hätte wirklich bestanden, wäre dann die Überführung der deutschen Wirtschaft in Privatmonopole, der große Beutezug des Herrn Stinnes, überhaupt denkbar gewesen? Schließlich hat doch nicht die Arbeiterschaft regiert, sondern eine Koalition, deren linken Flügel die Arbeiterpartei bildete. Der Glaube an den Staat ist allerdings dahin, aber nicht, weil die Sozialdemokraten dessen Befugnisse überspannt haben, sondern weil die Schwerindustrie diesen so gründlich depossediert hat, daß ihm kaum noch subalterne Verwaltungsfunktionen übriggeblieben sind. Direktor Craemer genießt mit Recht einen vorzüglichen Ruf als Wirtschaftler, aber die Politik scheint nicht sein Genre zu sein. Sonst hätte er nicht mit so eklatantem Mangel an Fingerspitzengefühl dem politischen Machthunger der Schwerindustrie so unverhohlen Ausdruck verliehen. Die Sehnsucht der Herrschaften ist ja jetzt erfüllt. Sie mögen zeigen, was sie können. Sie haben die Szene, sie sind dran.

Wie wir es so herrlich weit gebracht ...

Eine Telegraphenagentur meldete unter dem 18. November aus Hamburg:

»Der englische Oberstleutnant von der internationalen Überwachungskommission in Berlin war mit einer 18 Jahre alten Thüringerin, die er in Berlin kennen gelernt hatte, nach Hamburg gekommen. In dem von ihnen benutzten D-Zug erregte das Mädchen im Speisewagen den Verdacht von Mitreisenden. In der Annahme, daß es sich um einen Mädchenhändler handelt, machten sie bei der Ankunft in Hamburg der Polizei Mitteilung und der Oberstleutnant wurde unter dem Verdacht des Mädchenhandels verhaftet. Nach Feststellung und Anfragen in Berlin wurde er sofort wieder entlassen, das Mädchen wurde der Sittenpolizei zugeführt

Also, weil ein Mädel mit einem zahlungsfähigen Kavalier im Speisewagen sitzt, deshalb hochnotpeinliche Durchwühlung des Falles und amtliche Beerdigung des armen Geschöpfes durch die Sittenpolizei. Welch eine perfide Schildbürgerei! Man kann an Hand der lakonischen Pressenotiz die ganze Affäre rekonstruieren. Irgend ein verbissener Hakenkreuzler, bei der Betrachtung des Pärchens vom Neid der Besitzlosen erfaßt, nimmt Anstoß an dem »würdelosen Frauenzimmer«, das die Gesellschaft eines Engländers nicht verschmäht. Dieser Umstand allein gibt noch keinen gesetzlichen Anlaß zu behördlichem Einschreiten. Endlich ist das erlösende Wort gefunden: Mädchenhändler! Das ist zwar völlig läppisch, da kein Normalklischee zur Agnoszierung eines solchen existiert. Genügt dennoch, um die Obrigkeit auf die Beine zu bringen. Um eine durch nichts als einen windigen »Verdacht« gerechtfertigte Verhaftung zu ermöglichen und ein junges Ding den Sbirren der Sittenpolizei in die Hände zu spielen und damit für immer zu zerstören. Kulturfortschritt? Was hat sich geändert seit den Tagen der Manon Lescaut und der Luise Millerin? Damals schor man den Mädchen die Haare und steckte sie ins Spinnhaus oder schickte sie nach Barbados, wenn die Eltern des Liebhabers die kleine Sirene zu kostspielig fanden. Ja, das war damals unter dem schwärzesten Absolutismus. Aber in der Republik mit der freiesten Verfassung und dem polizeifrommsten Volke der Welt genügt, daß Einer von jenem traurig bekannten scheeläugigen Typ der ewigen Anstoßnehmer einen »Verdacht« faßt, und der Büttel funktioniert nicht weniger barbarisch als in den Zeiten, da die Keuschheitskommissionen der auch nicht immer ganz keuschen Fürsten und Fürstinnen die Städte unsicher machten.

Berliner Volks-Zeitung, 21. November 1922

368.

Der Bankrott des Fraktionalismus

Der alte Spruch bewährt sich leider auch an mir,
Daß Draht und Kleister dauerhaft sich nie vereint.

F. Th. Vischer

Als Mussolini in Neapel seine große Rede hielt, welche die italienische Umsturzkampagne eröffnete, warf er sein zündendstes Schlagwort in die Massen: Wir haben ein Kabinett, – wir wollen aber eine Regierung haben!

Als der Reichskanzler Wirth vor zehn Tagen seine Demission einreichte, entrang sich vielen Deutschen ein ähnlicher Stoßseufzer. Was bisher nur von den Organen der beiden Rechtsparteien vertreten worden war, der Gedanke nämlich, daß die in den letzten anderthalb Jahren das Staatsruder führende Koalition ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden sei, wurde plötzlich zur allgemeinen Losung. Während die Mittelparteien seit Jahr und Tag, um einer geistigen und auch taktischen Verengung entgegenzuarbeiten, auf eine Verbreiterung der Regierungsbasis hinzielten und zu diesem Zwecke die » große Koalition« zur Debatte stellten, ging die letzte Entwicklung auch darüber glatt hinweg. Als Ergebnis der langen Auseinandersetzungen können wir nur eine Regierung begrüßen, deren parlamentarische Basis noch schmaler ist als die der vorhergehenden: eine Regierung, die das Mißtrauen der Linken hat, von einer kühlen Reserve der Mitte begleitet wird und auch auf der Rechten kein volles Behagen findet. Die »große Koalition« ist verschüttet, noch ehe sie wurde, die »kleine« aufgelöst. Das ist das Fazit der genialen Fraktionspolitik.

Noch wogt der Streit, wer diesen Zustand verschuldet. Die einen bezichtigen die Sozialdemokraten, diese wieder werfen dem früheren Kanzler vor, er habe sich dadurch selbst entthront, indem er sich um die Heranziehung der Deutschen Volkspartei bemühte. Damit habe er sich die Unterstützung der Sozialdemokratie verscherzt. Wenn auch die Sozialdemokratie ihre eigene Rolle reichlich überschätzt, sie hatte durchaus nicht in dem Maße die Initiative, wie sie es gern wahr hätte, der Kanzler Wirth ist in der Tat an der Deutschen Volkspartei zerbrochen.

Es ist Herrn Dr. Wirth oftmals vorgeworfen worden, er wäre ein Parteimann von reinstem Wasser. Kaum jemals ist ein Vorwurf schlechter begründet gewesen. Es war ja eben Wirths Unglück, daß er sich nicht zufrieden gab, mit drei Parteien zu regieren, er wollte eine vierte hinzugewinnen. Das Unglück wollte, daß diese die Partei des Herrn Stinnes war, die durchaus nichts ausschlaggebendes einzuwenden hatte gegen eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, die aber um alles in der Welt diesen Kanzler beseitigen wollte, der ein ehrlicher Demokrat und aufrechter Republikaner und überzeugter Pazifist war. Mit einem Amphibium wie Herrn Hermes als Kanzler hätten die Volksparteiler lieber heute als morgen die große Koalition gemacht, aber der süddeutsche Volksmann Wirth war ihnen vom ersten Tage ein Greuel und sie haben keine Gelegenheit unversucht gelassen, ihm eine Falle zu stellen. Wirths großer psychologischer Irrtum war es, daß er diese Bedenken gegen seine Person mit einem Höchstmaß von Liberalität und Entgegenkommen zu überwinden glaubte. Der große psychologische Irrtum der Befürworter der großen Koalition im Zentrum und bei den Demokraten aber war es, daß sie diese einfach als ein Rechenexempel auffaßten, als ein Kunststückchen, das mit ein wenig Überredung nach rechts und nach links zu lösen wäre, daß sie glaubten, die Deutsche Volkspartei würde der heiligen Einigkeit zu Liebe schließlich doch ihr Aktionsprogramm, wenn auch mit Schmerzen, opfern. Das hieß das Problem unterschätzen. Die Partei der Kettenbrecher hätte mehr als ihre Programmbuchstaben opfern müssen – ihren Charakter.

Die Deutsche Volkspartei ist nun einmal die Partei des Halbdunkels. Sie kann sich, wenn sie leben will, weder dem Demokratismus verschreiben, noch der Reaktion. Sie existiert von der Situation, und beherrscht die Situation dadurch, daß sie stets eine Atmosphäre von Ungewißheit um sich verbreitet. Wenn man sie z.B. fragt, ob sie republikanisch oder monarchistisch sei, so beteuert sie ihre Loyalität der Verfassung gegenüber, aber sie hütet sich wohl, in irgendeiner Form sich zu binden. Eine solche Bindung aber wäre das Bekenntnis zu Wirth gewesen, dem Mann des positiven Republikanismus. Eine Partei von solcher Beschaffenheit kann niemals mit den Gründen politischer Rhetorik in eine Koalition hineingenötigt werden. Sie kann nur durch die Logik der Ereignisse dazu gezwungen werden. Nur elementare Geschehnisse können sie zwingen, ihre bequeme Isolierung zu verlassen. Unsere parlamentarische Regel dafür sieht stets nur die Mandatszahl einer Partei, niemals ihr Wesen.

Wer aber die große Koalition machen wollte, hatte nicht nur mit der Volkspartei zu rechnen, sondern auch mit der Sozialdemokratie. Was tat man also, um dieser die Pille zu versüßen? Man gründete die » Arbeitsgemeinschaft«, die von den Sozialdemokraten wie eine Vorstudie zum Bürgerblock empfunden wurde. Anstatt den Sozialdemokraten den Weg leichter zu machen, stellte man eine neue Barriere auf. Es gab nur zwei Möglichkeiten: entweder große Koalition oder Arbeitsgemeinschaft! Indem man sich dem Wahne hingab, beide vereinigen zu können, stieß man die Sozialdemokratie ab und stärkte zugleich diejenigen bürgerlichen Elemente, die von einem vollkommenen Ausschluß der Sozialdemokratie aus der Regierung träumten. Daß diese jüngste Kabinettskrise so bösartig werden mußte, daß schließlich Ministerposten fast öffentlich ausgeboten werden mußten, daß jede Partei die Verantwortung ablehnte, muß als der letzte Effekt dieser traurigen Reihe von Irrtümern betrachtet werden. Anstelle der großen Koalition ist die große Konfusion gekommen.

Erst sollte es ein Ministerium der Köpfe werden. Es ist eine alte Geschichte, daß jedesmal, wenn der Parlamentarismus sich matt gelaufen hat, diese Formel hervorgekramt wird, und es bedeutet ein unfreiwilliges, aber wichtiges Zugeständnis, daß man diese Köpfe regelmäßig außerhalb des Parlaments sucht. So verpflichtete man eine der hervorragendsten Wirtschaftspersonen Deutschlands zur Kabinettsbildung. Herr Cuno hat mit anerkennenswertem Eifer auf dem neuen und unbequemen Terrain gearbeitet. Was herauskam, ist ein farbloses Übergangskabinett. Denn in diesen Tagen der Ministersuche ist noch eine andere Seifenblase geplatzt: nämlich die angebliche Bereitwilligkeit der Großindustrie, in der Zeit der Entscheidung über die Reparationsfrage mit ihren besten Kräften ein Ministerium auszustatten. Wie prasselten doch hageldicht die Vorwürfe auf Wirths Mitarbeiter nieder: sie klebten an ihren Sitzen und hielten die bewährten Fachmänner fern! Wo stecken sie nun, die Wirtschaftsführer, die das Erkennen in der Westentasche tragen? Sie bleiben hübsch im Privatkontor hocken und überlassen es andern, die Freuden eines schwierigen und verantwortungsvollen Amtes zu tragen.

Die Fraktionshäuptlinge haben ihren letzten Trumpf ausgespielt. Unfähig, selbst zu korrigieren, was sie verfehlt, haben sie freiwillig das Heft aus der Hand gegeben. Haben sie die politische Macht einer Regierung verliehen, die bis auf weiteres dieses Geschenk mit reichlich argwöhnischen Augen betrachtet und in ihrer Zusammensetzung die berühmte Ehe von Draht und Kleister darstellt. Kein besseres Propagandamittel für den werdenden deutschen Fascismus ist denkbar als der Verlauf dieser Krise und ihre »Lösung«.

Berliner Volks-Zeitung, 26. November 1922

369.

Die Drecklinie

Willst du nicht, daß dich die Dohlen umschrei'n,
mußt du nicht Knopf auf dem Kirchturm sein

Ein bekannter Abgeordneter hat vor ein paar Tagen im Reichstag zur Erklärung der Tatsache, daß die Herren der Schwerindustrie so wenig Neigung zeigten, ein Ministeramt zu übernehmen, die geflügelten Worte gesprochen, man könnte es heute niemandem zumuten, sich in die Drecklinie der Politik zu begeben.

Das ist hart, aber romantisch und deshalb irreführend. In welchem glücklichen Zeitalter wäre denn die Politik moralisch und physisch einwandfreier gewesen als heute? Klüger war man vermutlich, sauberer schwerlich.

Ohne viel Mühe kann man rein gedanklich Menschen toter Zeiten in unsere Gegenwart projizieren. Pontius Pilatus zum Beispiel hätte einen ausgezeichneten Premierminister für Bayern abgegeben. Und jener Bischof Hatto, der als Spezialität das Getreidemonopol ausübte und den schließlich in seinem Turm zu Bingen am Rhein die Mäuse bei lebendigem Leibe fraßen, bildet er nicht das Prototyp eines modernen Ernährungsministers?

Umgekehrt wieder kann man sich manches ragende Haupt unserer Tage in finsteren und barbarischen Zeiten walten denken, wo die Holzstöße für die Menschenopfer flammten und die Söhne der Besiegten in die Arena gestoßen wurden, während man die Mädchen ausloste. Das alles kann man sich sehr gut vorstellen. Nur unsere Hakenkreuzler sich als waschechte Germanen auszumalen, das übersteigt die verwegenste Phantasie.

Im allgemeinen wird es zu allen Zeiten gleich gewesen sein. Die Idealisten schlug man tot, und die relativ Anständigsten, die sich ums gemeine Wohl bekümmerten, bekamen Roßäpfel an den Kopf. Wer den Rubikon der Politik überschreitet, begibt sich in Sumpfgelände. Da braucht man solide Stiefel und eine schmerzgewohnte Nase.

Und dennoch, wer diesen Zustand beklagt, darf eins nicht vergessen: Politik ist der einzige Beruf, zu dem man nicht gezwungen werden kann. Zum Waffendienst wird man befohlen. Der bürgerliche Beruf wieder wird durchweg von den Eltern bestimmt, und noch niemals hat man von einem Vater gehört, der den Sohn enterbte, weil er nicht Politiker werden wollte. Der Künstler gehorcht seinem Dämon, aber ein dämonischer Politiker kommt niemals in die Zunft hinein, und wenn schon, bringt er es höchstens zu einer Zählkandidatur in einem vorwiegend agrarischen Wahlkreise.

Um die Politik zu ertragen, dazu gehört eine kräftige Dosis Eitelkeit, auch wenn deren glücklicher Inhaber sie gern »inneren Zwang« nennt oder sonst irgendein nettes ethisches Deckwort dafür findet. Aber am harmlosesten sind noch diejenigen, die sich mit sichtbarem Appetit ganz naiv herandrängeln, wenn sie eine Vakanz wittern. Aber die anderen, die so gleichgültig beiseite gehen und immer mit dem Hinweis auf das »kolossale Opfer« ablehnen, wenn man an sie herantritt, das sind die Happigsten. Die lassen sich hundertmal bitten und kommen schließlich ganz von selber, wenn man es aufgibt, vor ihnen auf den Knien zu rutschen.

Cincinnatus wurde vom Pfluge geholt und kehrte zum Pfluge zurück, nachdem er seine Arbeit getan. Das ist bei der notorischen Unzuverlässigkeit der römischen Geschichtsschreiber nicht mehr kontrollierbar und klingt auch nicht recht wahrscheinlich. Sollte es aber doch auf Wahrheit beruhen, so haben wir es hier mit einem einzig dastehenden Fall zu tun. Denn auch später noch hat man manche geholt. Aber man konnte sie dann nicht mehr loswerden.

Berliner Volks-Zeitung, 29. November 1922


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