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Kapitel 27.
Eine Erscheinung in Whitechapel.

Trotzdem ich mich unendlich erleichtert fühlte, aus jener entsetzlichen Umgebung fortzukommen, die so schreckliche Erinnerungen für mich barg, fiel es mir doch schwer, mich in meine neue Stellung in London einzuleben. Mein Posten war keineswegs leicht und einfach. Jeden Morgen hatte ich dreißig bis vierzig Briefe zu beantworten, und außerdem waren viele Schriftstücke abzuschreiben. Meine Arbeit war weder fesselnd noch interessant, obgleich ich mich dazu zwang, sie mit äußerlich froher Stimmung zu erledigen. Ich fand es unerträglich hart, meine Gedanken auf diese monotone Tätigkeit zu konzentrieren. Wenn ich auf die engbeschriebenen Seiten schaute, die ich abschreiben mußte, schienen die Zeilen und Buchstaben zu verschwinden, und ich sah plötzlich das Herrenhaus von Deville Court vor mir. An Bruce Devilles Seite schritt Olive Berdenstein, wie ich sie am letzten Tage gesehen hatte. Sie besaß nun den Mann allein für sich, den sie mit einer so wilden, grenzenlosen Leidenschaft liebte. Er konnte sich ihr nun vollständig widmen, wenn er wollte. Nichts hinderte ihn daran, niemand lenkte seine Gedanken von ihr ab. Ich war neugierig, ob sie jemals Erfolg haben würde. Wir erhielten nur wenig Nachrichten über sie. Alice erwähnte die beiden nicht in ihren an und für sich nur kurzen Briefen. Sie war im Begriff, nach Exchester umzuziehen. Tatsächlich verbrachte sie den größten Teil ihrer Zeit schon dort. Von Bruce Deville selbst hörten wir nichts, obgleich meine Mutter ihm am Tage unserer Ankunft in London geschrieben hatte. Ein- oder zweimal machte sie eine Bemerkung über sein Schweigen, aber ich ging nicht darauf ein.

Ich fürchte, daß meine Tätigkeit als Sekretärin in jenen ersten unglücklichen Wochen nicht sehr erfolgreich war; aber meine Mutter beklagte sich nicht. Es machte sie glücklich, mich jetzt um sich zu haben. Mein schweigsames Verhalten deutete sie zweifellos als Sorge um meinen Vater, und ich tat auch alles, um meinen Kummer vor ihr zu verbergen.

Schließlich erhielten wir doch eine entscheidende Neuigkeit von Alice. Sie schrieb aus Exchester, daß sie mit dem Umzug fast fertig sei und mit der baldigen Heimkehr unseres Vaters rechne. Er hatte ihr aus Ventnor geschrieben, daß sich seine Gesundheit wieder gefestigt hatte. In spätestens einer Woche wollte er nach Exchester kommen.

Aber am Nachmittag hatte ich ein sonderbares Erlebnis. Meine Mutter hatte im Osten Londons zu tun und bestand im letzten Augenblick darauf, daß ich sie begleiten sollte. Sie gehörte einem Komitee für Errichtung gesunder Arbeiterwohnhäuser in Whitechapel an. Die Sitzung fand in einem Schulhaus in der Commercial Road statt. Sie sagte, ich sähe blaß aus, und die Fahrt in der frischen Luft würde mir gut tun. Ich begleitete sie, da ich nicht die Energie besaß, ihre Bitte abzuschlagen. Ich wartete im Auto, während sie in die Versammlung ging. Aber diesen Entschluß sollte ich bald bereuen.

Die Gegend, in der ich mich befand, machte in jeder Weise einen niederdrückenden Eindruck. Der Wagen hielt an einer Straßenkreuzung, wo lebhafter Verkehr herrschte. Aber die Leute, die vorübergingen, erschienen mir als die unglücklichsten, häßlichsten und ärmsten Menschen Londons. Eine Weile beobachtete ich sie interessiert, obwohl es ein schrecklicher Anblick war. Aber dann wandte ich mich traurig ab; ich konnte diese brutalen, ausdruckslosen Gesichter nicht länger betrachten. Aber während ich krampfhaft auf den kleinen Teppich im Wagen niederschaute, überkam mich plötzlich ein eigenartiges Gefühl, und ich wurde gegen meinen Willen gezwungen, den Blick zu erheben. Ein Mann, der an dem Wagen vorbeieilte, zögerte, als ob er anhalten wollte. Ich sah auf, und unsere Blicke trafen sich. Er trug einen schäbigen, schwarzen Anzug und ein Flanellhemd ohne Krawatte. Statt eines Kragens hatte er ein Taschentuch um den Hals gebunden. Seine Kleidung sah ebenso armselig und dürftig aus wie die ganze Umgebung hier. Aber unter dem Rand des alten, zerbeulten Hutes leuchteten mir ein Paar lebhafte, kluge Augen entgegen. Die schmalen Lippen zitterten einen Augenblick in merkwürdiger Erregung. Er kam mir bekannt vor. In fieberhafter Eile sprang ich auf und versuchte, den Wagenschlag zu öffnen. Alle Verkleidungskünste waren vergeblich – mich konnte er nicht täuschen. Es war mein Vater! Endlich hatte ich die Tür geöffnet und trat auf den Gehsteig. Aber es war eine Minute zu spät. An der Ecke eines kleinen, engen Hofes wandte er sich um und hob abwehrend die Hand. Unwillkürlich blieb ich stehen. Und während ich noch eine Sekunde zögerte, verschwand er. Ich eilte einige Schritte vorwärts, aber ich konnte ihn nicht mehr sehen. Er war eine Treppe hinuntergegangen und in einem Wirrwarr von Höfen untergetaucht. Es war hoffnungslos, ihm dorthin zu folgen. Schon hatte sich eine kleine Schar von Leuten angesammelt, die mich neugierig und aufdringlich betrachteten. Ich wandte mich um und ging zu dem Auto zurück.

Verzweifelt wartete ich, bis meine Mutter zurückkam; dann erzählte ich ihr mit zitternder Stimme, was sich zugetragen hatte.

Ihr Gesicht wurde blasser, als sie mir zuhörte, aber sie schien meine Geschichte nicht recht glauben zu wollen.

»Es war sicher nicht dein Vater«, sagte sie erregt. »Du mußt dich getäuscht haben.«

Ich schüttelte traurig den Kopf.

»Es war mein Vater. Olive Berdenstein hat ihr Wort gebrochen«, rief ich. »Sie hat ihn gesehen – und sie weiß alles! Er verbirgt sich vor ihr!«

Wir fuhren sofort zu dem nächsten Postamt. Meine Mutter telegraphierte an Mr. Deville, und ich schickte eine Depesche an Olive. Dann kehrten wir nach Hause zurück.

Um sechs Uhr kam das erste Antworttelegramm von Bruce Deville. Ich riß es auf und las.

»Muß Irrtum vorliegen. Hat bisher nichts unternommen. Ist noch hier. Mr. Ffolliot nicht zurückgekehrt. Begegnung zwischen beiden unmöglich.«

Kurze Zeit später kam Nachricht von Olive Berdenstein.

»Verstehe Sie nicht. Beabsichtige nicht, Vertrag zu brechen.«

»Er muß sich umsonst gefürchtet haben«, sagte ich leise.

»Du glaubst immer noch, daß er es war?« fragte meine Mutter.

»Ich weiß es ganz gewiß. Wenn ich ihn doch nur finden könnte! In einer Woche wird es zu spät sein.«

»Wie meinst du das?«

»Seine Einführung in Exchester soll Sonntag in acht Tagen stattfinden. Er muß mindestens eine Woche vorher dort sein. Aber ich fürchte, er wird überhaupt nicht dorthin gehen.«

»Dann müssen wir handeln«, erklärte meine Mutter bestimmt. »Ich weiß genau, wo du ihn gesehen hast. Ich werde in der dortigen Gegend Nachforschungen anstellen.«

»Wir wollen zusammen gehen«, rief ich. »In einer Minute bin ich fertig.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich muß allein gehen. Du würdest mir dabei nur im Wege sein. Ich kenne die Gegend und die Leute dort gut. Sie erzählen mir mehr, wenn ich allein komme.«

Sie blieb bis Mitternacht aus. Aber als sie zurückkam, sah ich sofort an ihren Zügen, daß sie keinen Erfolg gehabt hatte.

»Du hast keinen Anhaltspunkt finden können?«

»Nein – nicht den geringsten. Morgen will ich es wieder versuchen.«

Aber der nächste Tag verging ebenso hoffnungslos. Als wir am Morgen des dritten Tages verzweifelt und in trüber Stimmung beim Frühstück saßen, erhielt ich einen Brief von Alice, in dem ein Schreiben meines Vaters eingeschlossen lag.

»Du scheinst dich in letzter Zeit sehr um Vater gesorgt zu haben«, schrieb meine Schwester. »Deshalb wird es dir sicher Freude machen, seinen letzten Brief zu lesen. Es ist jetzt hier alles in Ordnung, aber es hat viel Mühe gekostet, und ich habe dich sehr vermißt ...«

Sie schrieb noch von ihren Eindrücken in Exchester, aber ich las es nicht. Ich reichte meiner Mutter ihr Schreiben und griff begierig nach dem Brief meines Vaters. Er war vor drei Tagen geschrieben – also an dem Tage, an dem die Komiteesitzung in der Commercial Road stattgefunden hatte. Er trug den Poststempel von Ventnor.

»Mein liebes Kind«, begann der Brief, »ich fühle mich besser und werde bestimmt am nächsten Montag zurückkehren. Die Luft hier ist so wunderbar erfrischend, und ich bin von Tag zu Tag kräftiger geworden. Solltest du den Bischof sehen, so bestelle ihm bitte, was ich dir mitgeteilt habe. Herzliche Grüße an Kate, wenn du ihr schreibst. Hoffentlich kommt sie nächste Woche auch. Ich habe ihr viel zu sagen.

In aller Liebe
Dein Vater
Horace Ffolliot.«

Meine Mutter las beide Briefe durch und sah mich dann erleichtert an.

»Hieraus siehst du doch deutlich, daß du dich getäuscht hast. Es kann keinen Zweifel mehr darüber geben.«

Ich erwiderte nichts darauf. Aber ich wußte, daß jener Mann, der mich durch eine befehlende Geste zurückgehalten hatte, ihm zu folgen, mein Vater gewesen war.


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