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Kapitel 20.
Das Opfer.

Im ersten Augenblick schien es mir, als ob alles zu Ende wäre. Ich zitterte an allen Gliedern und rang nach Atem. Als ich sprach, schien meine Stimme nicht mehr mir zu gehören, und ich kannte mich selbst nicht mehr.

»Ich bin also das Opfer – das unglückliche Opfer deiner elenden Theorien über freie Liebe!«

»Du warst es, die mich an meiner Überzeugung, an der ich damals so felsenfest hing, irre machte«, erwiderte sie ruhig. »Als du kamst, wußte ich plötzlich, daß ich nicht richtig gehandelt hatte. Alle früheren Argumente erschienen mir nichtig und bedeutungslos.«

»Du hättest ihn sofort heiraten sollen!« rief ich.

»Es war zu spät. Er hatte sich für immer von mir getrennt, als er sich einem Berufe widmete, den ich verachtete.«

Plötzlich kam mir ein schrecklicher Gedanke.

»Dieser andere Mann?« flüsterte ich mit glühenden Wangen, denn ich empfand Scham für meine Mutter.

Sie deutete auf den schmalen Pfad, der durch die Schonung führte.

»Er ist tot«, sagte sie stockend.

Ich fühlte keinen Schrecken mehr, als ich das hörte; ich war vollständig abgestumpft und konnte beinahe ruhig sprechen. Plötzlich stand ich außerhalb all dieser Geschehnisse – alles war belanglos geworden – alles war zu Ende.

»Mein Vater tötete ihn«, sagte ich mit eisiger Ruhe.

Sie wandte das Gesicht von mir und sah auf den Teppich nieder.

»Frage mich nichts, Kind«, sagte sie traurig. »Du weißt jetzt genug. Es gibt noch viele Dinge, die du besser niemals erfährst.«

»Das ist wahr!« rief ich bitter. »Ich habe für einen Nachmittag genug gehört – genug, um mich für mein ganzes Leben unglücklich zu machen.«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Sie litt furchtbar, aber damals dachte ich nicht an Mitleid. Ich war hart und grausam.

»Was du gehört hast, hat dich mit tiefem Schmerz erfüllt, aber noch qualvoller war es für mich, es dir zu gestehen«, sagte sie langsam. »Gestehen ist ein häßliches Wort, und ich hätte niemals geglaubt, daß ich es einst brauchen würde – meiner eigenen Tochter gegenüber! Wenn man jung ist, ist man stolz und selbstbewußt.«

»Du hast kurzsichtig gehandelt«, sagte ich brutal.

Sie senkte den Kopf tiefer. Aber was lag mir daran? Ich war keine Märtyrerin, ich hatte niemals bestritten, daß ich egoistisch war. Ich war nur ein gewöhnlicher Mensch, der der tiefsten Demütigung seines Lebens gegenüberstand. Ich verschloß mein Herz vor ihr, weil ich glaubte, daß mir bitteres Unrecht geschehen sei. Es war gut, daß wir unterbrochen wurden; ich hätte vielleicht noch Dinge gesagt, die ich später bitter bereut hätte. Wir hörten Stimmen in der Diele, und gleich darauf traten Bruce Deville und Miß Berdenstein ein.

Wir erhoben uns beide etwas überrascht. Mr. Deville versuchte, die Anwesenheit seiner Begleiterin zu erklären.

»Ich traf Miß Berdenstein und überredete sie, hereinzukommen«, sagte er in schroffem Ton. »Ich sagte ihr, daß Sie sich freuen würden, sie zu sehen.«

»Sie haben recht getan«, entgegnete Adelaide Fortreß äußerlich ruhig.

Sie begrüßte das Mädchen freundlich, aber ihre Stimme klang matt. Auch ich gab Miß Berdenstein kühl und widerstrebend die Hand. Ich war wirklich sehr überrascht, daß sie es wagte, hierherzukommen.

Es wurde Tee gebracht, und es entwickelte sich eine allgemeine Unterhaltung, an der ich mich jedoch nicht beteiligte. Plötzlich stand Mr. Deville auf und setzte sich neben mich. Miß Berdenstein erzählte von einem Erlebnis in Südamerika. Adelaide Fortreß hatte sich in ihren Stuhl zurückgelehnt, so daß ihr Gesicht beschattet wurde.

»Warum haben Sie sie hergebracht?« fragte ich leise.

Er zuckte die Schultern.

»Es ist besser, auf freundschaftlichem Fuße mit ihr zu stehen. Wir wissen dann wenigstens, was sie unternehmen will.«

»So denken Sie. Sie scheinen ja wundervolle Fortschritte zu machen. Ich gratuliere Ihnen.«

Er lachte.

»Oh, sie ist durchaus nicht uninteressant«, erklärte er. »Wenn Sie soviel mit ihr zusammen gewesen wären wie ich, würden Sie sie bezaubernd finden.«

Ich sah sie nachdenklich an. Sie trug einen kostbaren Pelz, und an ihren Fingern glänzten Diamantringe. Als sie sprach, blitzten ihre schönen, weißen Zähne, und ihre dunklen Augen leuchteten. Sie war eine seltsame Erscheinung. Ab und zu warf sie uns einen ängstlichen Blick zu und versuchte zu verstehen, was wir sprachen. Sie hätte sich keine Mühe zu geben brauchen, denn ich hörte kaum, was Bruce Deville zu mir sagte, und antwortete rein mechanisch. Ich wußte kaum, ob ich es selbst war, die hier saß, nur einige Schritte von dieser bleichen Frau entfernt, die mir erst vor wenigen Minuten die Geschichte erzählt hatte, die wie ein Alpdruck auf mir lastete. Der Widerhall ihrer leidenschaftlichen Worte schien noch im Raum zu klingen, der jetzt von dem gedämpften Licht der Lampen schwach erhellt war. Ich fuhr ein paarmal mit der Hand über meine Schläfen. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Schließlich konnte ich es nicht mehr ertragen, mich hier über gleichgültige Dinge zu unterhalten. Ich hatte ein Gefühl, als ob ich ersticken müßte. Mit einer Entschuldigung erhob ich mich.

Ich wechselte kaum noch ein Wort mit Adelaide Fortreß. Ich reichte ihr die Hand zum Abschied – ihre Finger waren eisig kalt. Noch einmal sah ich in ihre dunklen Augen, dann verließ ich das Zimmer.

Bruce Deville folgte mir. Auch Miß Berdenstein war aufgesprungen und verabschiedete sich hastig. Bevor sie jedoch die Tür erreichen konnte, war Bruce Deville an meiner Seite.

»Ich werde Sie nach Hause begleiten, Miß Ffolliot«, flüsterte er mir zu.

Ich antwortete ihm nicht. Wir standen schon vor dem Gartentor, als Miß Berdensteins schrille Stimme hinter uns erklang.

»Mr. Deville!«

Er blieb stehen, und ich hielt unwillkürlich auch an.

»Wollen Sie mich nicht nach Hause bringen, Mr. Deville? Ich kann den Weg nicht allein finden. Und es ist schon so dunkel – ich würde mich zu Tode fürchten. Wenn ich allein gewesen wäre, würde ich nicht so lange geblieben sein.«

Er stieß einen leisen Fluch aus, und ich wandte mich zum Gehen.

»Können Sie nicht hier warten?« fragte er schroff. »Ich möchte Miß Ffolliot einige Schritte begleiten.«

»Ich habe mich doch schon von Mrs. Fortreß verabschiedet und möchte gern jetzt gehen. Ich kann doch nicht vor der Türe stehenbleiben, und allein kann ich auch nicht gehen. Es ist stockdunkel. Aber ich kann ja Miß Ffolliot und Sie begleiten.«

Ich war schon fast außer Hörweite, als sie endete. Als ich die Anhöhe hinaufgestiegen war und den Fußpfad erreicht hatte, sah ich mich um. Sie gingen zusammen die Straße entlang – ein merkwürdiges Paar. Er hatte die Schultern hochgezogen, was ein böses Zeichen war, und nahm lange Schritte. Sie mußte buchstäblich auf der schmutzigen Straße neben ihm herlaufen. In der offenen Tür des Gelben Hauses stand Adelaide Fortreß, starr und bewegungslos. Sie sah mir traurig nach. Aber ich wandte mich ab und eilte davon.


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