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Kapitel 16.
Erkenntnis.

Die beiden Frauen standen sich gegenüber, Bruce Deville und ich waren etwas zurückgetreten. Einen Augenblick herrschte tödliches Schweigen. Dann ging Adelaide Fortreß gefaßt auf das Mädchen zu und schaute über ihre Schulter.

»Das ist das Bild eines Mannes, der schon seit zwanzig Jahren tot ist«, sagte sie ruhig. »Sein Name war nicht Maltabar.«

»Dies ist eine Photographie von Philip Maltabar«, behauptete Olive Berdenstein unerschütterlich.

Ich trat auch näher, um es selbst zu sehen, aber Adelaide Fortreß, die meine Absicht erriet, berührte die verborgene Feder wieder, und die Öffnung schloß sich.

»Es ist das Bild eines lieben Freundes, der schon lange tot ist«, wiederholte sie kühl. »Ich fühle mich nicht verpflichtet, Ihnen seinen Namen zu nennen, aber er hieß nicht Maltabar.«

»Ich glaube Ihnen nicht. Sie haben sich alle verschworen, mich zu täuschen. Es tut mir leid, daß ich Ihnen jemals etwas von meiner Geschichte erzählte, und es tut mir leid, daß ich Ihr Haus betrat. Ich bin fest davon überzeugt, daß Philip Maltabar lebt, und zwar hier in der Nähe. Wir werden es ja bald sehen!«

Sie ging zur Tür. Mr. Deville war bereit, sie für sie zu öffnen. Sie sah ihn mit einem vielsagenden Blick an.

»Aber Sie sind doch nicht gegen mich«, sagte sie leise. »Sagen Sie mir, daß Sie nichts gegen mich haben, und daß Sie mein Freund sein wollen!«

Er neigte sich ein wenig zu ihr herunter und sprach gedämpft mit ihr. Wir konnten nicht hören, was er sagte. Als sie das Zimmer verließ, folgte er ihr. Durchs Fenster sahen wir, daß sie nebeneinander den kiesbestreuten Weg hinuntergingen. Sie sprach eifrig auf ihn ein und wandte den Blick nicht von ihm. Sie hatte die Hand auf seinen Arm gelegt, und er hörte ihr ernst zu.

Adelaide Fortreß sah mich mit einem eigentümlichen Lächeln an.

»Sie wird ihn entsetzlich langweilen!«

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete ich mit einer Gereiztheit, über die ich selbst erstaunte. »Die Männer lieben das zuweilen.«

»Aber nicht Mr. Deville. Er verabscheut ein solches Wesen.«

Ich war meiner Sache nicht sicher. Ich beobachtete, wie die beiden hinter den Bäumen verschwanden. Er neigte sich zu ihr, als ob er jedes Wort erhaschen wollte, das sie zu ihm sagte. Scheinbar tat er alles, um sich ihr anzupassen und ihr sein Mitgefühl zu zeigen. Ich war ärgerlich über mich selbst und kannte doch die Ursache meiner schlechten Stimmung nicht.

»Nun, es ist ja ganz gleich, was die beiden machen«, sagte ich plötzlich. »Es gibt noch etwas Wichtigeres, Mrs. Fortreß. Ich möchte das Bild des Mannes sehen, den sie Philip Maltabar nannte.«

Sie schüttelte den Kopf. War es Einbildung, oder war sie wirklich blasser geworden?

»Fragen Sie nicht danach«, entgegnete sie langsam. »Ich möchte es niemand zeigen.«

»Aber ich bitte Sie darum! Schon allzu viele Dinge um mich her kann ich nicht verstehen. Ich bin kein Kind mehr, und diese Geheimnistuerei ist mir zuwider. Ich bestehe darauf, das Bild zu sehen.«

Sie legte ihre Hände auf meine Schultern und sah mir offen ins Gesicht.

»Mein Kind, es wäre besser für Sie, wenn Sie es nicht sähen. Wollen Sie mir nicht glauben, wenn ich es Ihnen sage? Es wird besser für Sie und für uns alle sein. Wiederholen Sie Ihre Bitte nicht.«

»Ich würde mich mit Ihren Worten zufrieden geben, aber ich habe einen Verdacht. Bevor Sie die Feder berührten, habe ich das Bild flüchtig gesehen. Und es ist besser, das Schlimmste zu erfahren, als in beständiger Furcht davor leben zu müssen.«

Schweigend ging sie durch den Raum und berührte die Springfeder. Das Bild eines jungen Mannes, der heiter, vergnügt und etwas stolz in die Welt schaute, lag vor mir. Aber ich erkannte die Stirne, den Mund, die Haltung des Kopfes sofort wieder – es war mein Vater.

»So nannte er sich also früher Philip Maltabar?« fragte ich heiser«

Sie nickte.

»Es war vor langer Zeit.«

»Miß Berdenstein sucht also nach ihm. Er war der Feind ihres Bruders, und er –«

Sie faßte meine Hand und sah sich ängstlich um.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte sie leise. »Es wäre möglich, daß sie zurückgekommen ist. Man darf über solche Dinge nicht einmal leise sprechen. Schweigen Sie darüber.«

Ich bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte wild auf. Was ich immer gefürchtet hatte, war also wahr. Die schreckliche Szene in der Kirche stand wieder vor mir. Ich sah das schmerzverzerrte Gesicht des Sterbenden und den blutigen Schaum auf seinen Lippen, als er mit letzter Kraft die Anklage zur Kanzel hinaufschreien wollte. Ich erkannte schaudernd, wie knapp mein Vater dem Geschick entgangen war. Ich konnte nun nicht mehr länger zweifeln – es war mein Vater, der Stephen Berdenstein getötet hatte.


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