Edward Phillips Oppenheim
Schatten der Vergangenheit
Edward Phillips Oppenheim

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Kapitel 8.
Mr. Berdenstein.

Der Sonntag nach der Rückkehr meines Vaters aus London gehört zu den dunkelsten Tagen meines Daseins. Er ist mit einem großen, schwarzen Kreuz in dem Kalender meines Lebens bezeichnet, und es ist mein sehnlichster Wunsch, nie wieder solche Qual durchkosten zu müssen.

Der Morgen verging wie gewöhnlich. Mein Vater hatte am vergangenen Abend kaum zu uns gesprochen. Auf unsere halb furchtsamen, halb begierigen Fragen gab er zu, daß er krank gewesen sei, aber er wollte nichts von einem Arzt hören. Er sagte, daß er seine Krankheit selbst am besten kenne, und daß es ihm in wenigen Tagen wieder besser gehen würde. Er aß und trank nur wenig und zog sich bald auf sein Zimmer zurück. Wir hörten, wie er sich mühsam die Treppe hinaufschleppte. Alice brach in Tränen aus, und ich fühlte mich unglücklich. Aber was konnten wir tun? Er wollte uns nicht um sich haben. Als er nach Hause gekommen war, hatte er nur den Wunsch geäußert, Feuer in seinem Zimmer machen zu lassen, obwohl die Nacht schwül und drückend war, und Schweißtropfen auf seiner Stirne standen.

Am nächsten Morgen wiederholte er eine alte Predigt. Er sprach müde und abgespannt; sein bleiches Aussehen und seine matten Augen fielen allen auf. Die Leute flüsterten sich darüber Bemerkungen zu, als sie nach dem Gottesdienst die Kirche verließen. Lady Naselton hielt mich an.

»Es tut mir leid, daß es Ihrem Vater so schlecht geht. Besonders heute bin ich sehr traurig darüber. Kommen Sie mit, ich werde Ihnen alles erzählen.«

Wir gingen zusammen hinaus. Die Luft war frisch und erquickend nach der düsteren Enge der Kirche mit den efeubewachsenen Fenstern.

Lady Naselton legte ihre Hand auf meinen Arm.

»Der Bischof speist heute bei uns und wird auch den Abend bei uns verbringen. Ich habe mit ihm über Ihren Vater gesprochen, und er will heute Abend seine Predigt hören.«

»Meinen Sie unseren Bischof? Den Bischof von Exchester?«

»Ja. Sein Besuch hat natürlich nicht den Charakter einer Visitation. Aber es würde mir sehr leid tun, wenn Ihr Vater keinen Eindruck auf ihn machte.« Sie sah sich um, ob niemand uns belauschte. »Ich weiß, daß zwei Predigerstellen am Dom frei sind, und der Bischof ist auf der Suche nach einem wirklich guten Prediger. Ich erzählte ihm neulich von Ihrem Vater, und deshalb kam er vor allem hierher. Hoffentlich ist Mr. Ffolliot heute abend wieder auf der Höhe.«

»Es ist wenig Aussicht vorhanden, daß es ihm besser geht«, antwortete ich bedrückt. »Er ist sehr krank. Er will es zwar nicht zugeben, aber Sie können es ja selbst sehen.«

»Er muß heute alle Kräfte zusammennehmen«, erklärte Lady Naselton bestimmt. »Bitte bestellen Sie ihm das von mir. Sagen Sie ihm, daß wir alle kommen werden. Wenn es ihm gelingt, Eindruck auf den Bischof zu machen – Sie verstehen schon, dies ist die Chance seines Lebens. Wir verlieren ihn natürlich sehr ungern, aber Exchester liegt nicht so weit von hier entfernt. Und wir konnten ja auch nicht erwarten, daß ein Mann mit der Begabung Ihres Vaters lange hier bleiben würde. Versuchen Sie Ihr Bestes. Auf Wiedersehen, liebes Kind.«

Sie fuhr in ihrem schönen Auto davon, und ich wartete vor der Tür auf meinen Vater. Er trat mit halbgeschlossenen Augen heraus und schien mich kaum zu bemerken. Ich ging neben ihm her und wiederholte ihm alles, was Lady Naselton mir gesagt hatte. Ganz gegen mein Erwarten zeigte er großes Interesse. Meine Mitteilung riß ihn aus seiner Apathie.

Seine Augen leuchteten einen Augenblick auf, aber dann wurden sie wieder trüb.

»Wenn er nur eine Woche früher gekommen wäre. Jetzt habe ich an andere Dinge zu denken, und ich bin auch nicht in der Stimmung, eine gute Predigt vorzubereiten.«

»Lieber Vater«, sagte ich leise, »willst du uns nichts von deinen Sorgen sagen? Wir wollen deinen Kummer mit dir tragen.«

Er schüttelte den Kopf, und ein schwaches Lächeln spielte um seinen Mund, als er mich liebevoll ansah.

»Vielleicht kommt die Zeit noch, Kate. Bis dahin mußt du geduldig sein und keine Fragen an mich stellen.«

Wir hatten das Haus erreicht, und ich schwieg. Während des Mittagessens nahm er kaum etwas zu sich und ging dann wieder in sein Studierzimmer. Alice und ich hofften, daß er sich für die Abendpredigt vorbereiten würde. Aber nach einer halben Stunde kam er wieder heraus, und ich traf ihn in der Diele.

»Gib mir meinen Hut und meinen Stock, Kate. Ich möchte einen Spaziergang machen.«

Sein abweisendes Wesen ließ es nicht ratsam erscheinen, Fragen an ihn zu richten, aber als er auf die Haustür zuging, kam mir plötzlich ein Gedanke.

»Darf ich dich begleiten, Vater? Ich wollte auch ein wenig ins Freie gehen.«

Einen Augenblick zögerte er und schien meine Bitte ablehnen zu wollen, aber dann änderte er seinen Entschluß.

»Du kannst mitkommen«, sagte er kurz. »Aber mache schnell. Ich möchte nicht warten.«

»Ich bin fertig«, erwiderte ich, setzte rasch meinen Hut auf und griff zu den Handschuhen.

An dem Gartentor blieb er einen Augenblick stehen, und ich dachte, er würde die Straße nach dem Gelben Hause und Deville Court einschlagen, aber er entschied sich anders.

»Wir wollen den Weg nach Bromilow Downs gehen«, schlug er vor. »Ich bin noch nicht dort gewesen.«

Langsam gingen wir nebeneinander und schwiegen eine Weile. Ein- oder zweimal betrachtete ich ihn verstohlen von der Seite. Sein Gang war unsicher, und ab und zu preßte er die Hand auf die Seite. Körperlich war er den Anstrengungen dieser Wanderung kaum gewachsen. Es war die innere Unruhe, die ihn hinausgetrieben hatte. Seine Augen glänzten fieberhaft, und auf seinen Wangen lag eine hektische Röte. Als wir auf die offene Heide kamen, atmete er tief auf und nahm seinen Hut ab. Der frische Herbstwind fuhr durch seine Haare und wehte seinen Rock hoch auf.

»Oh, das tut gut«, sagte er leise. »Hier wollen wir etwas ausruhen.«

Er setzte sich auf den Stamm einer vom Winde umgestürzten Tanne an der Grenze der Gemeindeweide. In weiter Ferne erhoben sich auf dem Hügel die roten Mauern von Naselton Hall. Ich sah hinüber, und plötzlich überkam mich das Verlangen, meinem Vater zu erzählen, was ich von Mr. Berdenstein wußte. Er hatte doch ein Recht, es zu erfahren. Sicher war es das Beste, ihm alles mitzuteilen.

»Vater, ich muß dir etwas sagen, was du unbedingt wissen mußt.«

Er hatte ins Leere gesehen und wandte jetzt den Blick zu mir. Irgendwie schien ihn meine Haltung zu fesseln. Er runzelte die Stirne.

»Was ist es denn? Hoffentlich willst du mich nichts fragen.«

»Nein. Ich möchte dir etwas erzählen. Vielleicht hätte ich es dir schon lange sagen sollen. Vorige Woche war ich zum Tee bei Lady Naselton und traf einen Herrn dort, der wie ein Ausländer aussah. Er hieß Berdenstein und ist kürzlich aus Südamerika zurückgekommen.«

Er hörte mich schweigend an. Sein Kopf sank tiefer, und eine eisige Starre lag plötzlich auf seinen Zügen. Sein Atem kam schnell und stoßweise und klang fast wie das Keuchen eines verwundeten Tieres.

»Du mußt nicht glauben, daß ich dir nachspioniert habe, Vater. Es kam alles ganz von selbst. Ich gab dir an dem Morgen deiner Abreise die Briefe und sah zufällig, daß der eine aus Südamerika kam. Auf dem Umschlag stand: ›London ungefähr am fünfzehnten.‹ Du bist sofort abgefahren, und ich dachte, du wolltest den Schreiber des Briefes dort treffen.

Dann lernte ich bei Lady Naselton diesen Mr. Berdenstein kennen, der mich dauernd anstarrte und mir mitteilte, daß er aus Südamerika gekommen sei. Mein Gefühl sagte mir, daß er den Brief an dich geschrieben hatte. Als ich eine Weile mit ihm gesprochen hatte, wurde mir das zur Gewißheit.«

Diese Mitteilung mußte ihn schwer getroffen haben. Er schaute unverwandt nach Naselton Hall hinüber, und seine Stimme klang heiser und schien aus weiter Ferne zu kommen, als er mir antwortete.

»So nahe«, sagte er leise, »so nahe! Wie kam er hierher? War es ein Zufall?«

»Er hat Fred Naselton im Ausland kennengelernt. Man sagt, daß er sehr reich sein soll.«

»Ja, ja!« Mein Vater nickte langsam mit dem Kopf. Allmählich kam er wieder zu sich, aber es lag ein tödlicher Ernst auf seinen Zügen. Ich schauderte, als ich ihn ansah. Es war mir, als ob ich in seinem Gesicht die Vorahnung des hereinbrechenden Unglücks lesen sollte.

»Wir werden uns also bald begegnen«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht morgen – vielleicht schon heute. Kate, du hast bessere Augen als ich – kommt dort nicht ein Mann die Straße entlang? Dort unten im Hohlweg, auf der anderen Seite des Tals. Siehst du ihn?«

Ich erhob mich. Auch ich erkannte in weiter Ferne eine Gestalt.

»Es ist ein Mann«, erwiderte ich nach einer Pause. »Er kommt auf uns zu.«

Einige Minuten standen wir nebeneinander; mein Vater lehnte sich auf meine Schulter. Seine Hand brannte wie Feuer. Er rührte sich nicht, und er sprach auch nicht. Unentwegt sah er auf die Straßenbiegung. Plötzlich leuchteten seine Augen auf, er neigte sich vor und beschattete die Augen mit der Hand. Ich folgte dem Blick seiner Augen und konnte den Fremden jetzt mitten auf der hellen, staubigen Straße sehen. Er kam näher und näher und schien in guter Stimmung zu sein, denn er wirbelte seinen Spazierstock in der Luft und schlug damit nach den Disteln am Wege. Er pfiff vor sich hin, lächelte manchmal und zeigte dabei seine weißen Zähne, die sich scharf von seiner gelblichen Gesichtsfarbe abhoben. Vom ersten Augenblick an zweifelte ich nicht daran, daß es der Mann war, von dem wir eben gesprochen hatten. Es erschien mir nicht sonderbar, daß er gerade jetzt des Weges kam, im Gegenteil, ich hielt es damals für vollständig natürlich.

Er kam bis auf wenige Schritte an uns heran, bevor er mich erkannte. Dann nahm er den Hut ab und verneigte sich leicht. Aber als er dem harten Blick meines Vaters begegnete, entglitt der Hut seiner Hand, und er blieb plötzlich wie versteinert stehen. In seinen schwarzen Augen lag Entsetzen, und er sah meinen Vater an, als ob dieser von den Toten auferstanden wäre. Ein schwaches, sonderbares Lächeln spielte um den schmalen Mund meines Vaters.

»Noch einmal willkommen in England, Stephen«, sagte er grimmig. »Du wolltest eben meine Tochter ansprechen. Hast du den Weg verloren?«

Berdenstein öffnete mehrere Male die Lippen, bis er ein Wort hervorbrachte.

»Ich wollte nach dem Weg zum Gelben Haus fragen«, erwiderte er heiser und wandte den Blick nicht von dem Gesicht meines Vaters, dessen Gegenwart ihn offenbar sehr erschreckte.

»Den Weg nach dem Gelben Hause?« fragte mein Vater. »Ich gehe in derselben Richtung, und ich werde dir den Weg zeigen. Man kommt erst nach verschiedenen Biegungen auf die gerade Straße.«

Mein Vater stieg den sanften Abhang hinab. Mr. Berdenstein sagte einige unverständliche Worte, die nicht weiter beachtet wurden.

»Wir wollen gleich gehen. Es ist ein ziemlich langer Weg.«

»Die junge Dame begleitet uns doch?« fragte Berdenstein zögernd.

»Nein, meine Tochter geht einen anderen Weg. Kate, richte bitte Mr. Charlsworth aus, daß er heute abend bestimmt zur Kirche kommen möchte. Du kannst ihm sagen, warum es wichtig ist.«

Seine Stimme hatte einen harten, metallischen Klang, und seine Augen blickten so befehlend, daß Widerspruch unmöglich war. Aber ein kaltes Entsetzen packte mich bei dem Gedanken, diese beiden Männer allein gehen zu lassen. Dies war keine gewöhnliche Begegnung. Allzu deutlich hatte ich Berdensteins Schrecken gesehen, als er meinen Vater erkannte. Aber ich war machtlos, ich mußte gehorchen. Die beiden gingen nebeneinander den Weg entlang, und ich blieb zurück. Das Haus, zu dem mich mein Vater schickte, lag in entgegengesetzter Richtung. Ich beobachtete sie noch einige Zeit, dann ging ich weiter, um meinen Auftrag auszuführen.

*

Etwa nach einer Stunde kam ich zu Hause an und traf Alice am Eingang.

»Ist der Vater schon zurückgekommen?« fragte ich schnell.

Sie nickte.

»Ungefähr vor fünf Minuten. Der Spaziergang scheint ihn sehr erfrischt zu haben. Er war sehr freundlich und hatte wieder etwas Farbe. Aber was ist denn mit dir los? Du siehst ja totenbleich aus!«

»Kam er allein?« fragte ich hastig, ohne auf ihre Frage zu antworten.

»Allein! Natürlich war er allein. Komm herein und trinke schnell eine Tasse Tee. Du siehst entsetzlich müde aus.«

 


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