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Kapitel 10.
Kanonikus von Exchester.

Nach diesen Worten des Bischofs drehte sich alles um mich, und ich sah die Gesichter der Menschen, den Himmel und die Spitzen der Bäume wie durch einen Nebelschleier. In meinen Ohren klang ein Rauschen, das alles andere übertönte. Ich kann mich kaum darauf besinnen, wie ich nach Hause und in mein Zimmer kam. Dann versank ich in tiefe Bewußtlosigkeit. Ich erinnere mich daran, daß ich eines Morgens wie nach einem schrecklichen Traum erwachte. Auf dem kleinen Tisch neben meinem Bett standen viele Medizinflaschen. Ich sah mich neugierig und bestürzt um und erkannte plötzlich, daß ich krank gewesen sein mußte.

Ich war nicht allein. Alice neigte sich über mich. Ihr liebenswürdiges, rundes Gesicht strahlte.

»Es geht dir besser«, sagte sie sanft. »Ach, ich bin so froh.«

»Wie lange habe ich hier gelegen?« fragte ich schwach.

Sie setzte sich an meiner Seite nieder.

»Morgen wird es eine Woche!«

Ich schloß die Augen. Plötzlich sah ich wieder die Szene in der Kirche vor mir. Mein Bewußtsein schien zu schwinden, und ich fragte nichts mehr.

Am nächsten Tage fühlte ich mich stärker. Ich richtete mich in meinem Bett auf und schaute um mich. Das Zimmer war mit den schönsten Blumen geschmückt. Ich neigte mich über eine Vase mit Rosen und sog den zarten Duft ein.

»Woher kommen alle diese Blumen?« fragte ich Alice.

Sie lachte merkwürdig.

»Rate einmal.«

»Wie soll ich es wissen? Ich habe keine Ahnung.«

»Von unserem bösen Nachbarn«, sagte sie, nahm eine der Blumen heraus und legte sie auf meine Bettdecke.

Ich sah sie verständnislos an, und sie lachte wieder.

»Kannst du es wirklich nicht vermuten?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Von Mr. Deville. Er hat sich fast jeden Tag nach deinem Befinden erkundigt.«

Das war wirklich eine große Überraschung, aber ich sagte nichts dazu. Ich glaube, daß man mich damals noch für zu schwach hielt, um mir wichtige Neuigkeiten mitzuteilen. Aber einige Tage später sah Alice plötzlich von dem Buch auf, aus dem sie vorlas, und erzählte mir etwas. Ich erkannte, wie schwer es ihr gefallen war, diese Nachricht solange für sich zu behalten.

»Der Vater ist zum Kanonikus ernannt worden, Kate«, sagte sie freudig.

Ich sah sie verwirrt an, denn ich hatte Lady Naseltons Pläne vollständig vergessen. Der letzte Teil dieses schrecklichen Sonntags hatte mich wie ein quälender Traum verfolgt und all meine Gedanken beschäftigt.

»Kanonikus!« wiederholte ich schwach. »Ist es wirklich wahr, Alice?«

Sie nickte.

»Der Bischof kam zu uns herüber und hat Vater viel Anerkennendes über seine Predigt an jenem Sonntagabend gesagt. Erinnerst du dich noch daran?«

»Ja. Es war eine wundervolle Predigt«, sagte ich leise.

»Der Bischof und alle anderen urteilen ebenso«, erklärte Alice begeistert. »Ich werde sie niemals vergessen können.«

»Es war die ergreifendste Predigt, die ich jemals gehört habe. Fast wie die Szene eines Dramas.«

Alice sah schnell auf und legte begütigend die Hand auf meinen Arm. Meine Stimme schien meine Erregung verraten zu haben.

»Denke nicht mehr daran«, bat sie. »Ich habe vergessen, daß Vater mir verboten hat, mit dir darüber zu sprechen. Es muß entsetzlich für dich gewesen sein – du warst so nahe. Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Von der Orgel aus konnte ich ja nichts sehen.«

Ich neigte mich etwas vor.

»Alice, ich möchte nicht darüber sprechen, aber ich muß wissen, wie es endete. Du mußt es mir sagen.«

Sie zögerte einen Augenblick.

»Er war sofort tot«, erwiderte sie dann langsam. »Die Totenschau wurde abgehalten, und man kam zu dem Schluß, daß er wahrscheinlich irgendwo zwischen den Hügeln und dem Gelben Hause überfallen wurde. Etwas von der Straße entfernt hat man Spuren eines Kampfes gefunden.«

»Haben die Geschworenen auf Mord erkannt?«

»Ja«, entgegnete sie ernst. »Er ist ermordet worden. Er schien erst kürzlich aus dem Auslande zurückgekommen zu sein. Er wohnte bei Lady Naselton, aber sie konnte fast nichts über ihn sagen. Ich glaube, man kannte nur seinen Namen. Niemand wußte, ob er Verwandte hatte, die man benachrichtigen konnte. Es war alles sehr sonderbar.«

»War er beraubt worden?«

»Nein. Sein Geld und seine Uhr fand man unberührt in seiner Tasche. Es könnten ihm höchstens Papiere abgenommen worden sein. Die Polizei gibt sich die größte Mühe, die Sache aufzuklären, aber es soll ein sehr schwieriger Fall sein. Jemand scheint ihn gesehen zu haben, nachdem er Naselton Hall verlassen hatte.«

Ich wandte mich zur Seite, um meine Erregung zu verbergen.

»Hat ihn wirklich niemand gesehen?«

»Niemand.«

Ich schwieg einen Augenblick. Die Wände des Zimmers schienen sich plötzlich zu öffnen, und ich sah wieder aus großer Entfernung die Gestalt dieses Mannes auf uns zukommen. Ich sah den eigentümlichen Ausdruck im Gesicht meines Vaters, und ich hörte wieder, wie sie sich begrüßten. Eine schreckliche Angst befiel mich.

»Ist der Vater auch als Zeuge vernommen worden?«

»Nein. Er kannte den Mann doch nicht – er hatte ihn noch nie gesehen.«

Ich schloß die Augen und sank in die Kissen zurück. Alice neigte sich ängstlich über mich.

»Versprich mir, jetzt nicht mehr daran zu denken.«

Ach, wie gerne hätte ich dieses Versprechen gehalten! Aber die freundlichen Worte meiner Schwester erschienen wie bitterer Hohn. Ich ahnte, welch eine schwere Last ich nun zu tragen hatte. Wenn dieser Mann noch einige Augenblicke länger gelebt hätte, wenn er seine Anklage hätte aussprechen können – was wäre daraus geworden? Ich zitterte.

»Vater ist nicht hier?« fragte ich.

»Der Bischof hat ihn auf einige Tage eingeladen. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn er heute zurückkäme.«

Wieder schloß ich die Augen und tat, als ob ich schliefe. Ich hörte, daß ein Wagen vorfuhr, ehe Alice aufmerksam wurde. Aber plötzlich legte sie ihre Arbeit nieder und sprang auf.

»Ich muß hinuntergehen, Kate. Ich bin gleich wieder bei dir.«

Als es aber nach wenigen Minuten an meine Türe klopfte, war es nicht Alice, die zurückkam. Ich antwortete leise, und mein Vater trat ein.


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