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Kapitel 17.
Eine Besprechung.

In dem Walde zwischen dem Gelben Hause und der Pfarrei traf ich Bruce Deville. Ich wollte vorwärtseilen, aber es war unmöglich, an ihm vorbeizukommen. Er stand mitten im Wege.

»Miß Ffolliot! Darf ich Sie nach Hause begleiten?«

»Es sind ja nur ein paar Schritte – bitte, bemühen Sie sich nicht.«

»Es würde mir aber ein Vergnügen sein«, sagte er hartnäckig.

Ich sah ihn an. Ein leichtes, aber doch bitteres Lächeln lag um seinen Mund.

»Waren Sie heute nicht schon höflich genug?«

Er war ehrlich überrascht über meine schlechte Stimmung.

»Vermutlich spielen Sie darauf an, daß ich diese Dame nach Hause brachte? Ich tat es nur um Ihretwillen, denn ich wollte erfahren, was sie vorhat.«

»Ich habe keine Erklärung verlangt.«

»Ich mußte Sie sehen«, fuhr er nachdenklich fort. »Ich war schon in dem Pfarrhause – Ihre Schwester wollte nicht zulassen, daß ich Ihren Vater sprach.«

»Darüber bin ich nicht erstaunt. Sie wissen nicht, wie krank er ist.«

»Haben Sie einen Arzt gerufen?«

»Nein, das wünscht er nicht, obwohl es dringend nötig wäre. Es ist sehr schwer, in diesem Fall das Richtige zu tun.«

»Wenn ich Ihnen raten darf, würde ich Ihnen empfehlen, sich genau nach den Wünschen Ihres Vaters zu richten. Er weiß am besten, wie er sich zu verhalten hat. Bestellen Sie ihm nur von mir, daß ich eine Luftveränderung für die beste Medizin halte. Soviel ich weiß, soll er sein neues Amt so bald als möglich antreten. Lassen Sie ihn schon morgen nach Exchester gehen – es ist besser und sicherer für ihn.«

Ich blieb kurz stehen und legte meine Hand auf seinen Arm, damit er mich ansehen sollte. Aber er hielt den Blick gesenkt.

»Sie denken doch nicht nur an seine Gesundheit. Es handelt sich noch um etwas anderes. Ich weiß sehr viel, Sie können offen mit mir sprechen. Es ist Miß Berdenstein –«

Er stritt es nicht ab. Ich entdeckte einen milden Zug in seinem sonst so harten Gesicht, und ich wußte, daß er um mich besorgt war. Ich kämpfte mit den Tränen.

»Was wird sie unternehmen?« fragte ich zitternd. »Was vermutet sie?«

»Nichts Bestimmtes«, entgegnete er schnell. »Sie ist natürlich aufgeregt über das heutige Erlebnis und wird nun hier bleiben und weiter beobachten. Ich fürchte, sie wird tatsächlich einen Detektiv kommen lassen. Sie hat noch keinen Verdacht auf Ihren Vater, aber Ihnen und Adelaide mißtraut sie. Sie glaubt, daß Sie Ihren Vater von ihr fernhalten wollen, und sie nimmt an, daß er ihr sagen könnte, was sie wissen will. Das ist alles.«

»Nun, das ist genug«, rief ich. »Wenn wir sie nur dazu bewegen könnten, fortzugehen. Ich fürchte mich vor ihr.«

Wir waren an unserem Gartentor angekommen. Ich reichte ihm die Hand, und er drückte sie warm.

»Denken Sie an meinen Rat für Ihren Vater. Ich werde alles tun, um Miß Berdenstein von den äußersten Maßnahmen abzuhalten. Glücklicherweise fühlt sie sich mir gegenüber verpflichtet.«

»Sie haben ihr das Leben gerettet«, erwiderte ich nachdenklich.

»Ja, das tut mir jetzt leid«, sagte er kurz. »Auf Wiedersehen.«

Er ging, und ich eilte in das Haus. Alice war nirgends zu sehen. Leise trat ich in das Zimmer meines Vaters. Er schien im Halbschlaf zu liegen, und als ich sein blasses und eingefallenes Gesicht betrachtete, traten Tränen in meine Augen. Oh, wie ich mich danach sehnte, daß diese Scheidewand zwischen uns niedergerissen würde, daß er mir die Wahrheit sagte! Ich würde mich kühn an seine Seite stellen, selbst wenn er im Unrecht sein sollte und das Gesetz fürchten müßte.

Plötzlich öffnete er die Augen.

»Es geht dir nicht gut, Vater«, sagte ich sanft. »Und es wird immer schlechter werden, wenn du nicht auf meinen Rat hörst. Laß mich doch bitte zum Arzt gehen.«

»Nein«, erwiderte er fest. »Ich fühle mich schon viel besser. Wo ist dieses junge Mädchen? Ist sie fortgefahren?«

»Nein, sie ist nicht abgereist, sie denkt auch gar nicht daran. Sie hat hier einen alten Freund getroffen. Sie kennt Mr. Deville von früher her. Er hat ihr in der Schweiz einmal das Leben gerettet.«

Diese Nachricht schien ihn sehr zu beunruhigen. Seine Stirne lag in schweren Falten.

»Hast du sie wiedergesehen?« fragte er leise.

»Heute nachmittag habe ich sie gesprochen.«

»Wo?«

Ich zögerte. Eigentlich wollte ich meinen Besuch bei Adelaide Fortreß nicht erwähnen, bis er sich stärker fühlte. Aber sein Blick zwang mich, ihm zu antworten.

»Im Gelben Hause.«

Er atmete schwer auf. Ich fürchtete, daß er mir zürnen würde, aber mein Ungehorsam schien ihm nicht zum Bewußtsein zu kommen.

»Was wollte sie denn im Gelben Hause?«

»Ich weiß nicht, unter welchem Vorwand sie dort Besuch machte. Scheinbar hat sie in der ganzen Nachbarschaft nach Philip Maltabar geforscht. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, daß er ihren Bruder tötete, und behauptet, daß er sich in dieser Gegend versteckt hält. Sie ist sehr aufgebracht und wird nicht ruhen, bis sie ihn gefunden hat.«

Seine weiße Hand krampfte sich in die Bettdecke.

»Sie wird ihn niemals finden. Philip Maltabar ist tot.«

»Ich wünschte nur, daß wir sie davon überzeugen könnten. Aber das wird uns nicht gelingen.«

»Warum nicht?«

»Weil es nicht wahr ist – Philip Maltabar ist nicht tot. Das weiß sie genau.«

»Was meinst du?« fragte er heiser und richtete sich mühsam in den Kissen auf. »Wer sagt, daß er nicht tot ist? Wer wagt es zu behaupten, daß Philip Maltabar noch lebt?«

»Ich!« antwortete ich fest. »Du selbst hast dich in vergangenen Tagen Philip Maltabar genannt. Und du bist es, nach dem sie sucht.«

Er machte keinen Versuch, es abzuleugnen. Ich hatte so sicher gesprochen, daß er mir glauben mußte. Er sank wieder zurück und schloß die Augen.

»Hat sie mich in Verdacht?« fragte er nach einer Weile leise. »Bleibt sie deshalb hier?«

»Ich glaube nicht. Aber sie nimmt an, daß sich Philip Maltabar hier in der Nähe verbirgt. Vor allem verdächtigt sie mich.«

»Dich! – Warum dich?«

»Sie hat eine unklare Vorstellung, daß Philip Maltabar mein Freund ist, daß ich ihn beschütze und dich von ihr fernzuhalten suche, damit sie nicht die Wahrheit von dir erfahren soll.«

»Kannst du ihr nicht klarmachen, daß es keinen Philip Maltabar in dieser Gegend gibt?« sagte er schwach. »Sie kann doch eigene Nachforschungen anstellen, sie kann alle Adreßbücher nachschlagen, sie kann bei der Polizei und den Leuten fragen. Es müßte doch nicht so schwer sein, sie davon zu überzeugen.«

»Es ist unmöglich.«

»Warum?«

»Sie hat die Photographie in dem Schreibtisch von Mrs. Fortreß gesehen.«

»Was!«

Der Ausruf kam wie ein Pistolenschuß von seinen trockenen Lippen. Seine brennenden Blicke waren ungläubig auf mich gerichtet.

»Sie sah sein Bild im Gelben Hause. Es lag in einem Geheimfach des Schreibtisches. Ohne es zu wollen, berührte sie die verborgene Feder.«

Mein Vater wandte sich zur Seite und stöhnte.

»Wenn das Schicksal so gegen mich arbeitet, dann ist das Ende nicht mehr weit«, rief er gebrochen.

Ich fiel auf meine Knie nieder und nahm seine blasse Hand.

»Vater«, begann ich stockend, »ich habe schon viele Fragen an dich gestellt, die du mir nicht beantwortet hast. Aber auf eine mußt du mir antworten. Ich will und kann nicht länger hier in Unkenntnis darüber bleiben. Ich bin deine Tochter, und ich habe ein Recht, es zu erfahren. Warum hat diese Frau dein Bild?«

»Mein Bild!« rief er erregt. »Wer darf sagen, daß es mein Bild ist?«

»Es ist dein Bild, Vater. Ich sah es selbst, es ist kein Irrtum möglich. Sie hat es auch zugegeben, aber sie will mir nichts sagen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Wahrscheinlich wirst du es eines Tages erfahren«, erwiderte er leise. »Aber nicht von mir – niemals!«

Ich faßte seine Hand fester.

»Sage das nicht!« bat ich ihn inständig. »Ich weiß, daß irgendeine Verbindung zwischen euch dreien besteht, obwohl ihr euch voneinander fernhaltet. Du, Bruce Deville und Adelaide Fortreß. Sage mir, was es ist. Ein Geheimnis? Das Wissen um eine unglückliche Vergangenheit? Ich allein weiß nichts davon, und ich kann es nicht länger ertragen. Wenn du nicht zu mir sprichst, muß ich das Haus verlassen. Ich bin kein Kind mehr – ich will es wissen!«

Er sah mich traurig an.

»Ja, es ist ein Geheimnis«, sagte er dann langsam. »Aber nicht ich kann es dir erzählen. Habe Geduld, mein Kind. Eines Tages wirst du alles verstehen. Warte noch eine kleine Weile.«

»Es hat keinen Zweck, zu bleiben, wenn mir niemand vertraut.«

»Es ist eine furchtbare Last, die auf meine Schultern gelegt ist. Hilf mir, sie zu tragen. Bleibe bei mir.«

»Du hast doch Alice –«

»Alice ist sehr gut, aber sie ist nicht stark. Sie ist keine Hilfe für mich – und eines Tages werde ich Hilfe brauchen.«

»Ich möchte dich ja nicht verlassen«, rief ich mit zitternder Stimme. »Ich möchte alles tun, um dir zu helfen – aber versetze dich in meine Lage! Ich taste immer im Dunkeln, und ich brauche Klarheit und Licht.«

Er sah mich mit einem schwachen, müden Lächeln an.

»Mein Kind, du bist ganz wie deine Mutter. Willst du mir nicht glauben, daß ich machtlos bin? Wenn du mich wirklich verlassen willst, wenn ich dir diese Aufklärung nicht gebe, dann mußt du gehen. Und selbst, wenn du direkt zu dieser Frau gehst und ihr alles sagst, werden meine Lippen verschlossen bleiben. Ich kann dir dieses Geheimnis nicht enthüllen. Und wenn du es jemals wissen solltest, so hast du es nicht von mir erfahren. Gehe, wenn du gehen mußt – aber wenn es dir möglich ist, dann bleibe bei mir!«

Mitleiderfüllt schaute ich in sein hageres, ängstliches Gesicht. Die Tränen stiegen mir wieder in die Augen. Ich neigte mich über ihn und küßte ihn.

»Ich werde hier bleiben«, flüsterte ich. »Ich will dich auch nicht mehr mit Fragen quälen. Solange du mich brauchst, werde ich nicht fortgehen.«

Er mühte sich, ein Schluchzen zu unterdrücken. Die Tränen verschleierten meinen Blick, als ich ihn ansah. Ein fast überirdisches Leuchten lag auf seinen Zügen.


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