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Kapitel 21.
Außer Gefahr.

Ich ging direkt in das Zimmer meines Vaters, obwohl ich nicht wußte, was ich ihm sagen wollte. Ich öffnete leise die Tür, aber als ich mich umschaute, fand ich zu meinem größten Erstaunen das Bett leer. Auch in seinem Arbeitszimmer war er nicht zu sehen. Als ich wieder in die Diele hinunterging, entdeckte ich, daß sein Hut und sein Mantel am Garderobenständer fehlten.

Erschrocken rief ich nach Alice.

»Wo ist der Vater?« fragte ich sie atemlos, als sie aus dem Wohnzimmer trat. »Er ist nicht hier!«

Sie zog mich mit sich in das Zimmer und schloß die Türe. Ihr Gesicht war sehr ernst.

»Er ist vor einer Viertelstunde nach London gefahren.«

»Er ist doch kaum stark genug zu stehen«, erwiderte ich verwirrt. »Hat er sich denn selbst anziehen können?«

»Er war zwar noch schwach, aber er schien doch für sich selbst sorgen zu können. Ungefähr vor einer halben Stunde kam ein Telegramm für ihn. Ich brachte es ihm, und er las es, ohne eine Bemerkung zu machen. Er fragte nur, wo du seist, aber ich konnte ihm weiter nichts sagen, als daß du ausgegangen seist. Gleich darauf hörte ich, wie er aufstand, und ich ging zur Tür seines Zimmers, um zu fragen, ob ich ihm helfen könnte. Er sagte mir dann, daß ich einen Wagen beschaffen solle, und daß er verreisen müsse. Ich war zu erstaunt, um irgend etwas zu entgegnen.«

Ich fühlte eine große Erleichterung. Auf jeden Fall war es ein Aufschub, was auch Miß Berdenstein davon denken mochte.

Am nächsten Morgen kam ein Brief von ihm. Er war nur »London« datiert. Er schrieb, daß er in einer bestimmten Angelegenheit nach London gerufen worden sei. Die Einzelheiten würden uns doch nicht interessieren, aber er hätte dieser Aufforderung unter allen Umständen Folge leisten müssen. Wenn seine Tätigkeit in London beendet sei, wolle er einen kurzen Urlaub an der See verbringen. Er schrieb auch, daß er einen Stellvertreter engagiert habe, der schon auf dem Wege zu uns sei. Er würde uns schreiben, sobald er sich entschlossen hätte, wohin er gehen wollte.

Alice und ich beurteilten den Brief verschieden. Sie kannte ja die Gründe nicht, die ihn zu dieser Handlungsweise veranlaßten, und sein Verhalten mußte ihr exzentrisch erscheinen. Sie war sehr besorgt. Für mich dagegen war seine Abreise eine Erlösung. Ich war schon so nervös geworden, daß mir jeder Ausweg willkommen war.

Aber trotzdem kam ich nicht zur Ruhe. Es war mir unmöglich, mich mit einer Arbeit zu beschäftigen. Später ging ich hinaus in den Garten. Die frische Luft und der kühle Wind taten mir wohl und verlockten mich, noch weiter zu gehen. Ich verließ die großen Bäume, die unser kleines Anwesen einsäumten, trat hinaus auf die Straße und wandte mich zu den grünen Wiesen, die schon zum Park von Deville Court gehörten. Der Wind wehte durch mein Haar, und ich hielt an. In weiter Ferne ritt ein Mann auf das Herrenhaus zu. Ich stand still und beobachtete ihn, als ich ihn erkannte: es war Bruce Deville auf seinem großen Braunen. Aber plötzlich schien sich die heitere Landschaft zu verdüstern, als mir ein böser Gedanke kam. Schnell wandte ich mich ab, schlug den kleinen Fußpfad durch die Schonung ein und eilte zu dem Gelben Hause. Es war, als ob dieser Gedanke die Gestalt eines wilden Tieres angenommen hätte, das mich verfolgte. In wenigen Minuten stand ich atemlos vor Adelaide Fortreß, die blaß und angegriffen aussah. Sie schaute mich bittend an, und ihre Lippen zitterten ein wenig.

»Bringst du eine schlechte Nachricht? Du bist so schnell gelaufen – setze dich doch.«

»Nein, ich habe nur eine Frage. Wie stehst du zu Mr. Deville?«

Sie sah mich einen Augenblick bestürzt an, dann richtete sie sich auf und trat einen Schritt zurück. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. Ihr feines Gefühl hatte ihr den Sinn meiner Frage verraten.

»Mr. Bromley Deville, Bruce Devilles Vater, war der beste Freund meines Vaters«, sagte sie langsam. »Bruce und ich kannten uns schon als Kinder, und obwohl ich fünf Jahre älter als er war, haben wir viel miteinander gespielt und waren immer große Freunde.«

Ich atmete befreit auf. Aber ich wußte, daß ich sie schwer verletzt hatte.

»Wie geht es deinem Vater?« fragte sie. »Hat sich etwas Neues ereignet?«

»Es geht ihm besser – er ist nach London verreist. Von dort aus will er an die See fahren. Ich glaube nicht, daß er überhaupt noch einmal hierher zurückkommen will. Auch wir halten es für das Beste, wenn er nach seinem Urlaub direkt nach Exchester geht.«

»Was wird Miß Berdenstein dazu sagen?«

»Wahrscheinlich wird sie wieder Verdacht schöpfen, aber auf jeden Fall haben wir vorläufig Ruhe.«

»Du hast noch nicht mit ihm gesprochen?«

»Nein, er war schon fort, als ich gestern abend zurückkam. Ich war froh darüber.«

Wir standen uns jetzt gegenüber und schauten uns schweigend an. Ich sah, wie sie errötete und dann wieder blaß wurde. Ihre Hände kämpften sich nervös um die Stuhllehne. Die Strahlen der Sonne beleuchteten sie mitleidlos. Ich sah ihr graues Haar und ihre eingefallenen Wangen. Harte Linien hatten sich in ihr Gesicht eingegraben, die von Schmerz und Leid erzählten. Zum erstenmal empfand ich Mitleid mit ihr, denn ihr Leben war zerbrochen. Ihre dunklen, traurigen Augen sahen mich unverwandt an, aber noch konnte ich nicht zu ihr eilen und ihr das geben, wonach sie sich so sehr sehnte.

Ich fühlte, daß ich etwas sagen mußte. Ihr Schweigen war eine beredte Frage.

»Laß mir noch ein wenig Zeit, über alles nachzudenken«, sagte ich zögernd. »Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, daß Alices Mutter auch die meine, und daß sie tot sei. Ich kann mich nicht so schnell in alles finden. Ich möchte nicht herzlos sein, aber ich bin so zermürbt – ich muß noch warten.« –

Auf dem Heimweg traf ich Bruce Deville. Er war abgestiegen und führte sein Pferd am Zügel. Er hielt einen schönen Strauß duftender Veilchen in der Hand, den er mir verlegen überreichte.

»Ich weiß nicht, ob Sie diese Blumen lieben. Ich verstehe nicht viel davon. Aber der Gärtner sagte mir, sie wären sehr schön – und da dachte ich –«

»Ich danke Ihnen, Mr. Deville, sie sind wirklich entzückend.«

Ich erzählte ihm von der Abreise meines Vaters.

»Das war das Beste, was er tun konnte. Er hat Ihnen nicht einmal gesagt, daß er gehen wollte?«

»Nein, ich hatte keine Ahnung. Aber heute morgen haben wir schon einen Brief von ihm bekommen. Ich möchte nur wissen – was sie dazu sagen wird.«

»Ich glaube nicht, daß sie sich große Mühe machen wird, ihn zu suchen. Soviel ich weiß, verdächtigt sie ihn selbst noch nicht. Sie ist ein merkwürdiges, launenhaftes Mädchen und wird ihre Nachforschungen vielleicht über kurz oder lang ganz einstellen.«

»Hoffentlich. Wenn sie doch wieder gehen wollte.«

Wir standen jetzt am Gartentor des Pfarrhauses, und meine Hand ruhte auf der Klinke.

»Würden Sie nicht noch einen kleinen Spaziergang mit mir machen? Es ist heute so prachtvolles Wetter, und Sie sehen etwas blaß aus.«

Ich zögerte.

»Aber Sie wollten doch reiten.«

»Das macht nichts«, antwortete er kurz. »Diana folgt mir wie ein Lamm. Wir können hier die große Allee entlang gehen. Sie müssen sich einmal die Ulmen auf der Spitze des Hügels ansehen.«

Wir gingen nebeneinander her. Es war nichts Besonderes an diesem Spaziergang, und doch werde ich immer daran denken. Ich bekam an diesem Morgen einen ganz anderen Eindruck von Bruce Deville. Wir unterhielten uns sehr angeregt. Lady Naselton hatte ihn als einen rauhen und ungebildeten Menschen geschildert, aber das war er nicht. Er führte ein zurückgezogenes Leben und hatte abstoßende Gewohnheiten angenommen, weil ihm das gesellschaftliche Treiben zuwider war. Viele Leute geben sich diesen blasierten Anschein, aber nur wenige fühlen die Öde und Leere wirklich. Er hatte sich überall umgesehen, aber viele Enttäuschungen erlebt. Er war weit gereist und hatte großzügige, weitherzige Anschauungen. Keineswegs war er ein stumpfsinniger Landwirt und Bauernbaron.

Die Zeit ging mir im Flug dahin. Er sprach mit großer Sachkenntnis von Büchern und von fremden Ländern, die mich interessierten. Ich erstaunte über sein großes Wissen und vergaß alle Sorgen, die mich quälten, als ich an seiner Seite dahinschritt. Manchmal kamen wir durch hohes Farnkraut, dann wieder durch die Heide. Aber unser schöner Spaziergang sollte nicht ohne Zwischenfall verlaufen. Als wir um eine Ecke bogen, und das Pfarrhaus gerade wieder in Sicht kam, begegnete uns Olive Berdenstein. Sie blieb stehen, als sie uns sah, und warf uns böse Blicke zu. Sie machte einen merkwürdigen Eindruck, als sie mitten auf der Straße stand und uns erwartete. Selbst wenn sie einen Sonntagmorgenspaziergang im Hyde Park hätte machen wollen, wäre sie zu auffallend gekleidet gewesen. Und hier auf dem Lande sah sie einfach lächerlich in diesem Aufzug aus. Ihre feinen Schuhe eigneten sich nicht für diese rauhe Landstraße. Sie hatte den einen an einem Stein zerrissen, und es trug nicht zu ihrem Vorteil bei, daß sie hinken mußte. Ihre dunklen Augen leuchteten böse, und ihre Lippen zitterten. Besonders mich sah sie zornig und vorwurfsvoll an. Sie war in der schlechtesten Stimmung und besaß nicht genug Selbstbeherrschung, sie zu verbergen.

»Sie haben doch versprochen, mich abzuholen! Wir wollten einen Spaziergang machen«, sagte sie leise, aber erregt. »Ich habe zwei Stunden auf Sie gewartet – warum sind Sie nicht gekommen?«

»Das muß ein Irrtum sein«, erwiderte er barsch. »Wir hatten nichts verabredet. Sie sagten mir, ich sollte Sie aufsuchen, und ich entgegnete, daß ich kommen würde, wenn ich könnte. Aber ich konnte eben nicht, ich hatte etwas anderes zu tun.«

»Etwas anderes! O ja, ich sehe.« Sie lachte nervös auf, und wieder traf mich ein haßerfüllter Blick aus ihren Augen. »Das scheint Ihnen mehr Freude zu machen! Ich verstehe. Miß Ffolliot, Sie sind vermutlich auf dem Heimweg. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis werde ich Sie begleiten. Ich möchte Ihren Vater sprechen. Und ich werde in Ihrem Hause solange warten, bis er mich empfangen kann. Wenn Sie mir den Eintritt verwehren, werde ich mich an den Arzt wenden. Er soll mir sagen, ob Ihr Vater tatsächlich so krank ist, daß er mir nicht eine einzige Frage beantworten kann. Und sollte auch der Arzt in Ihrem Komplott sein und mir keine vernünftige Antwort geben, so werde ich sofort zu den Vorgesetzten Ihres Vaters gehen. Das ist gar nicht so schwierig. Sie sehen, daß ich fest entschlossen bin. Wenn Sie so liebenswürdig sein wollen, Ihre traute Unterhaltung zu Ende zu führen, so werde ich hinter oder auch vor Ihnen gehen – ganz wie Sie wünschen. Wahrscheinlich ist es Ihnen lieber, daß ich vorausgehe. Aber zum Pfarrhaus komme ich bestimmt, davon lasse ich mich nicht abbringen!«

Sie atmete erregt; ihre Augen funkelten, und ein häßliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Ihr leidenschaftlicher Haß richtete sich gegen mich, und ich antwortete ihr auch.

»Sie können mit mir zum Pfarrhaus kommen, wenn es Ihnen beliebt«, sagte ich eisig. »Aber Sie werden meinen Vater nicht dort finden – er ist verreist.«

»Verreist!« wiederholte sie ungläubig. »Das haben Sie geschickt gemacht. Gestern war er zu krank, um mich zu empfangen und mir eine kleine Frage zu beantworten, und heute ist er stark genug, um zu reisen. Nun ja, ich kann ihm ja folgen.«

Bleich vor Wut stand sie vor mir.

»Sie können alles tun, was Ihnen gut erscheint«, erwiderte ich fest. »Mr. Deville, ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Es ist Zeit, daß ich nach Hause gehe.«

Er blieb an meiner Seite und wollte mich offenbar bis zum Gartentor begleiten, aber als wir an Miß Berdenstein vorübergingen, hielt sie ihn am Arm fest.

»Nein! Sie dürfen mich hier nicht im Stich lassen. Sie behandeln mich schamlos, Mr. Deville. Bin ich nicht im Recht? Sie verbirgt ihren Vater vor mir! Sie sorgt dafür, daß er abreist, damit er mir nicht sagen kann, wer meinen Bruder getötet hat. Aber Sie werden sich auf meine Seite stellen. Sie haben immer gesagt, daß Sie Mitleid mit mir haben. Sind denn alle Menschen gegen mich? Wollen auch Sie mein Feind sein? Ich verlange doch weiter nichts als Gerechtigkeit!«

Er schüttelte ihre Hand schroff ab.

»Was für ein Unsinn! Sie tun mir wirklich leid, aber was soll es denn bedeuten, daß Sie Miß Ffolliot in dieser Weise verfolgen? Ihr Vater war tatsächlich krank und hatte den Wunsch, nicht von Fremden gestört zu werden. Sie sagten, daß Sie ihn nur etwas fragen wollten. Seien Sie doch vernünftig. Er hat Ihre Frage schriftlich beantwortet. Wenn Sie ihn persönlich sehen, kann er Ihnen nur dasselbe wiederholen. Er ist doch erst so kurze Zeit hier im Amt. Ich dagegen habe fast mein ganzes Leben in dieser Gegend zugebracht, und ich versichere Ihnen, daß kein Maltabar hier lebt.«

»Aber ich habe die Photographie in dem Schreibtisch gesehen«, sagte sie hartnäckig. »Und zwar ganz in der Nähe der Stelle, wo mein Bruder getötet wurde. Ich weiß, daß Philip Maltabar ihn tödlich haßte.«

»Aber was hat das alles mit Mr. Ffolliot zu tun?« fragte er streng.

»Ich wollte ihn sprechen. Er ist doch hier Pfarrer und muß mich anhören, wenn ich es wünsche. Ich verstehe nicht, warum er es ablehnte. Ich brauche Rat, und ich hätte ihn auch aus anderen Gründen gern gesehen. Ich bin sicher, daß man ihn von mir ferngehalten hat.«

»Sie sind wirklich verrückt!« sagte Bruce Deville ärgerlich. »Seine Gesundheit ist doch wichtiger, als Ihnen eine Frage zu beantworten, die von anderen Leuten längst einwandfrei beantwortet ist. Und wenn Sie Rat brauchen, so wissen Sie, daß ich zu Ihrer Verfügung stehe. Wenn Sie vernünftig sind, will ich gern alles für Sie tun.«

»Sie waren sehr gut zu mir«, sagte sie mit zitternden Lippen, »aber –«

»Entschuldigen Sie mich jetzt«, unterbrach er sie. »Ich habe noch etwas mit Miß Ffolliot zu besprechen.«

»Ich gehe ins Haus, bitte kommen Sie nicht weiter mit. Leben Sie wohl.«

Ich nickte ihm zu. Miß Berdenstein beachtete ich nicht. Wenn mich ihr Blick hätte morden können, so wäre ich tot umgesunken. Ich ließ die beiden allein und schritt dem Hause zu. Aber ich beneidete Olive nicht um Mr. Devilles Gesellschaft in der nächsten Viertelstunde.


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