Edward Phillips Oppenheim
Schatten der Vergangenheit
Edward Phillips Oppenheim

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Kapitel 19.
Der Vorhang lüftet sich ein wenig.

Als wir beim Mittagessen saßen, wurde mir ein Brief hereingebracht. Die Adresse war in einer starken und doch zarten, weiblichen Handschrift geschrieben. Ich erkannte sie sogleich – der Brief kam von Adelaide Fortreß. Als ich den Umschlag öffnete, fand ich nur eine Zeile:

»Bitte besuchen Sie mich heute nachmittag. A. F.«

Ich ging ohne Zögern zu ihr. Sie saß allein in ihrem Arbeitszimmer. Als ich sie begrüßte, sah ich, daß sie von einer inneren Unruhe erfüllt war. Trotzdem freute sie sich über mein Kommen.

»Setzen Sie sich, Kind. Ich habe den ganzen Tag schon an Sie gedacht, und ich bin froh, Sie zu sehen.«

»Ich bin traurig, daß es nicht sehr glückliche Gedanken gewesen sind«, sagte ich mitfühlend.

Sie sah blaß und angegriffen aus, als ob sie die Nacht nicht geschlafen hätte und von Sorgen gequält wäre.

»Ja. Ich habe an Sie denken müssen, seitdem Sie gestern von mir gingen. Es ist schrecklich für Sie und für uns alle, daß ein böser Zufall diese Südamerikanerin hierhergeführt hat. Weder ihre Kleidung noch ihr Wesen entsprechen unserem Geschmack. Sie folgt Bruce Deville überallhin«, fuhr sie mit einem leichten Stirnrunzeln fort. »Ich habe noch nie ein so schamloses Betragen gesehen. Wenn er mit ihr verheiratet wäre, könnte sie ihn nicht mehr für sich beanspruchen. Sie sind eben wieder zusammen weggegangen. Ich habe sie gesehen.«

»Ich wundere mich, daß Mr. Deville sie nicht abweist. Er sieht nicht wie ein Mann aus, der unter solchen Umständen noch liebenswürdig ist. Ich glaube nicht, daß er leicht zu erobern ist.«

Sie lächelte schwach.

»Aus seinem allgemeinen Benehmen läßt sich allerdings kaum darauf schließen, daß er Damen gegenüber ritterlich ist; aber dieses Mädchen läuft ihm wie ein Hund nach, der um einen Knochen bettelt. Sie läßt ihn keinen Augenblick allein, überall lauert sie ihm auf und läßt ihn nicht aus den Augen.«

»Vielleicht – vielleicht ist das gut. Es lenkt ihre Aufmerksamkeit von anderen Dingen ab«, sagte ich leise.

»Das hoffe ich auch«, gab sie zu. »Auch Bruce wird sie aus keinem anderen Grunde um sich dulden. Ich fürchte nur eins. Sie wird unabhängig von der Polizei einen Detektiv mit Nachforschungen beauftragen.«

»Mr. Deville muß seinen ganzen Einfluß bei ihr geltend machen – er muß sie überreden, das nicht zu tun.«

»Er wird es sicher versuchen.«

»Er muß eben entschieden auftreten.«

Wir schwiegen eine Weile. Ihr trauriges Gesicht rührte mich fast zu Tränen. Sie sah heute ungewöhnlich mild und gütig aus. Unwillkürlich lehnte ich mich vor und streckte meine Hände aus, die sie leidenschaftlich ergriff. Dieser Augenblick brachte uns einander näher.

»Mein Kind«, seufzte sie, »mein armes Kind! Auf Ihren jungen Schultern liegt eine fürchterliche Last.«

»Oh, ich würde sie gern tragen, wenn ich nur wüßte, was das alles bedeutet! Sie könnten mir alles sagen, wenn Sie wollten.«

Ich kniete vor ihr nieder und faßte ihre Hände, aber sie schaute in die Flammen des Kamins. Ihr Gesicht war totenbleich.

»Ich kann es nicht«, sagte sie mit zitternden Lippen. »Fragen Sie mich nicht! Ich kann Ihnen doch keine Antwort geben.«

»Aber ich muß es wissen!« rief ich. »Nichts ist entsetzlicher als diese quälende Ungewißheit. Es besteht ein Geheimnis zwischen Ihnen und meinem Vater – Sie kannten ihn als Philip Maltabar. Sagen Sie mir doch, was er damals war, und warum er seinen Namen änderte. Sagen Sie mir, was zwischen ihm und Ihnen –«

Schon bei meinen ersten Worten hatte sie sich erhoben, nun setzte sie sich wieder, aber sie zitterte am ganzen Körper.

»Nein, ich kann Ihnen nichts von diesen Dingen erzählen«, stöhnte sie. »Es tut mir leid, daß ich Sie bat, hierherzukommen. Verlassen Sie mich wieder – gehen Sie!«

Aber ich war entschlossen, alles zu erfahren, und mein Vorhaben wurde nur bestärkt, als ich sie schwach sah. Ich stand jetzt fordernd und rücksichtslos vor ihr. Ich wollte das Geheimnis erfahren, und wenn ich sie mit übermenschlicher Kraft zum Sprechen zwingen mußte. Sie war eine starke Frau, aber nun war sie zusammengebrochen und mir ausgeliefert.

»Ich gehe nicht«, sagte ich verbissen. »Sie haben nach mir geschickt, und hier bin ich. Ich gehe nicht fort, bis Sie mir alles gesagt haben. Ich habe ein Recht, es zu wissen, und Sie müssen es mir sagen!«

Sie sah mich halb beschwörend, halb bittend an, aber ich rührte mich nicht. Mein Gesicht blieb hart; ich biß die Zähne aufeinander. Ihre Hand fiel kraftlos zurück, als ich sie nicht nahm. Sie blickte düster und starr in die Flammen, als ob in dem roten Schein Bilder der Vergangenheit auftauchten. Mein Herz schlug wild vor Erregung. Ich wußte, daß mein Wille in diesem Kampf gesiegt hatte.

»Mein Kind«, sagte sie mit tonloser Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien, »ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Hören Sie!«

Ich neigte mich atemlos vor. Endlich, endlich sollte ich Gewißheit bekommen! Aber selbst in diesem Augenblick der höchsten Erregung bedrückte mich der versteinerte Ausdruck ihres Gesichtes.

»Es war einmal ein tüchtiges junges Mädchen von guter Erziehung und Herkunft. Da sie eine Waise war, mußte sie sich schon frühzeitig ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen. Sie konnte gut schreiben und wurde eine Journalistin.

Es war ein eigenartiges Leben, aber eine Zeitlang fühlte sie sich glücklich. Sie hatte eigene Ideen und kam mit vielen modernen Künstlern, Schriftstellern und fortgeschrittenen Frauen in Berührung, die ihr eigenes Leben lebten, losgelöst von den Gesetzen der Gesellschaft und der landläufigen Moral. Sie selbst bekam freiere Anschauungen; ich will nicht bei ihnen verweilen, ich will nur erzählen, wohin sie führten. Sie wandte sich scharf und bitter gegen die Ehegesetze und haßte die meisten Männer, weil sie grausam und ungerecht gegen das weibliche Geschlecht waren. Der Gedanke an Heirat erschien ihr verächtlich, und die kirchliche Trauung sah sie als eine Komödie an. Sie besaß keine Religion in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes. Selbstbewußt und tapfer kämpfte sie ihren Kampf, bevor sie erfuhr, was Liebe ist.«

Sie schwieg, aber ich wandte den Blick nicht von ihr. Wartete sie auf ein Wort der Ermutigung von mir? Wenn es so war, dann mußte dieses Schweigen ewig währen, denn meine Zunge war wie gelähmt, und ich konnte in dieser Atmosphäre kaum atmen. Schließlich sprach sie weiter.

»Sie lernte einen Mann kennen und lieben. Er war jung und begeistert von seinen Idealen; das Leben lag vor ihm, und er war begierig, den Kampf aufzunehmen. Er besaß etwas Geld und hatte sich noch nicht zu einem bestimmten Beruf entschlossen. Sie war frei und Herrin ihrer selbst in des Wortes weitester Bedeutung. Niemand konnte ihr Vorschriften machen; sie brauchte sich um nichts zu kümmern. Der junge Mann schlug ihr vor, zu heiraten. Sie zögerte eine Weile. Alte Vorstellungen sterben nicht leicht, und sie erkannte deutlich, wenn auch nicht klar genug, daß sie leiden mußte, wenn sie diese alten Ansichten von Moral und Ehe ihrer neuen Überzeugung opferte. Alle Pioniere großer sozialer Reformen haben leiden müssen. Dynastien und Kaiserreiche wurden an einem einzigen Tage gestürzt, aber Generationen von Menschen gehen dahin, ehe sich die Gesetze der Moral und der Gesellschaft ändern. Aber sie sagte sich, daß sie ihre Selbstachtung verlieren müßte, wenn sie sich im entscheidenden Augenblick nicht selbst offen zu den Lehren bekannte, die sie vertrat. Die Augen aller Gleichgesinnten waren auf sie gerichtet. Sie mußte nur das Beispiel geben, dann würden viele andere folgen. Sie fühlte sich in gewisser Weise als ein Apostel jener neuen Lehren, an deren Wahrheit sie damals unbedingt glaubte.

Sie teilte ihm ihre Entscheidung mit. Um ihm gerecht zu werden, muß ich sagen, daß er lange mit ihr kämpfte und sie von seiner Auffassung überzeugen wollte. Schließlich trennten sie sich, aber nur für kurze Zeit. In einem solchen Kampf wird die Frau immer Siegerin bleiben. Sie setzte ihren Willen durch . . .

Ihre spätere Geschichte ist wenig erfreulich. Die beiden paßten ihrem Charakter nach nicht zusammen. Er war begeistert und hing fast fanatisch an seiner Überzeugung; sie war kühl, berechnend und Tatsachenmensch. Plötzlich entschloß er sich, Geistlicher zu werden. Sie hatte freie Anschauungen und verachtete jedes Dogma. Das Unvermeidliche trat ein. Sie zog die logische Folgerung und verließ ihn um eines anderen willen.«

Sie senkte den Kopf, und ich nahm ihre Hand liebevoll in die meine.

»Sie selbst waren diese Frau«, flüsterte ich.

Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl und schob mich zurück.

»Ja, ich war die Frau«, stöhnte sie. »Und dein Vater war jener Mann! Du –«

Ich schrie auf, aber sie ließ sich nicht unterbrechen.

»Und du«, sagte sie leidenschaftlich, »bist meine – seine – Tochter!«

 


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