Edward Phillips Oppenheim
Schatten der Vergangenheit
Edward Phillips Oppenheim

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Kapitel 2.
Im Garten.

Nachdem mein Vater seinen Tee getrunken hatte, ging er in sein Studierzimmer. Es war schon gegen Ende der Woche, und er bereitete seine Predigten immer sehr gewissenhaft vor. Ich las eine Stunde, dann war ich des Alleinseins müde und ging den Fahrweg vor dem Hause bis zum Gartentor auf und ab. Diese Ruhelosigkeit bedrückte mich sehr. Wenn sie über mich kam, konnte ich weder arbeiten, noch lesen, noch zusammenhängend denken. Ich war dann unzufrieden mit meinem Leben und meiner Umgebung. Obwohl ich wußte, daß dieser Zustand krankhaft war, konnte ich ihn nicht ändern.

In der Nähe des Gartentors traf ich Alice, meine jüngere Schwester, die schnell des Weges kam. Sie trug ein Buch unter dem Arm, und auf ihrem hübschen Gesicht lag ein freundliches Lächeln. Ich beobachtete sie, als sie auf mich zukam, und beneidete sie beinahe. Wie glücklich waren doch die Menschen, die ein zufriedenes Gemüt und eine heitere Lebensauffassung haben konnten!

»Du siehst aus, als ob dir deine Tätigkeit Freude gemacht hätte«, sagte ich und stellte mich ihr in den Weg.

»Ja, das kann ich wohl sagen«, antwortete sie frohgestimmt. »Ist es aber klug von dir, Kate, daß du dich ohne Hut hier aufhältst? Und wenn man dein dünnes Kleid sieht, könnte man glauben, es sei Sommer. Es wird kühl, komm mit mir ins Haus.«

Ich lachte verächtlich über ihre Besorgnis. Es bestand allerdings ein großer Unterschied zwischen meinem leichten Musselinkleid und ihrem schweren, schwarzen Kostüm, auf dem der Staub der Landstraße lag.

»Habe ich mich schon jemals erkältet, weil ich dünne Kleider trug oder ohne Hut ging?« fragte ich. »Ich bin nicht gern in Zimmern. Den ganzen Nachmittag hatte ich hier Besuch. Ich wundere mich nur, daß dein Gewissen dir gestattet, dich ganz von den häuslichen Pflichten zu drücken und mir die langweilige Unterhaltung der Gäste allein zu überlassen!«

Sie sah mich betroffen an. Sie nahm immer alles ganz wörtlich.

»Aber ich dachte, das machte dir Freude!« rief sie.

Ich war in schlechter Stimmung, und es reizte mich, sie zu ärgern.

»Manchmal ist es mir ganz lieb. Aber heute waren nur Damen da. Zum Schluß mußte ich noch Lady Naselton anderthalb Stunden lang ertragen. Man wird so müde, wenn man sich nur mit seinesgleichen unterhalten soll. Nicht ein einziger Herr war heute nachmittag hier. Selbst ein verheirateter Mann wäre eine Erlösung gewesen!«

Alice wandte sich mißmutig ab.

»Ich bin erstaunt, solche Worte von dir zu hören, Kate«, sagte sie ruhig. »Glaubst du denn, daß sich das schickt?«

»Du kleine Närrin!« rief ich hinter ihr her, als sie mit erhobenem Kopf schnell auf das Haus zuschritt. Sie war die richtige Tochter eines Pastors. Sie tat nichts Außergewöhnliches, war höflich und bescheiden, in jeder Weise anständig und ein wenig hochmütig. Sie stand an dem richtigen Platz und paßte in ihre Umgebung. Aber ich war das schwarze Schaf. Ich sah ihr nach und seufzte.

Ich wollte nicht ins Haus gehen, aber ich wußte auch nicht, warum ich draußen bleiben sollte. Einen Augenblick zögerte ich, dann schlenderte ich langsam einen Gartenweg entlang. Das Wetter schien sich zu ändern. Graues, düsteres Zwielicht lag über der Gegend. Ein sanfter Südwind hatte sich erhoben und sang in den Föhren. Ich lehnte mich an das Tor und schaute nach dem Herrenhause von Deville Court hinüber. Aber es war nichts Besonderes dort zu sehen. Die Bäume hatten in der Dämmerung phantastische Gestalten angenommen, und leichte Nebel stiegen aus den Niederungen des Parkes auf. Die Landschaft erschien mir grau und farblos, so eintönig wie mein eigenes Leben.

Ich erkannte mit Schrecken, daß ich nutzlosen Gedanken nachhing, und wandte mich wieder dem Hause zu. Plötzlich hörte ich jedoch Stimmen in der Nähe, hielt an und drehte mich halb um. Eine tiefe Stimme drang durch die feuchte Abendluft.

»Vorwärts, Madame! Vorwärts, Marvel!«

Ich hörte das Knallen einer Peitsche. Viele Hunde kamen den engen Weg entlang, der an dem Zaun unseres Gartens vorbeiführte und auf der anderen Seite von dem Park von Deville Court begrenzt wurde. Es war eine Meute von über zwanzig Spürhunden, und zwischen ihnen gingen ein Mann und eine Frau. Er war hochgewachsen und breitschulterig, hatte einen zerzausten Bart, lange Haare, und trug keinen Kragen. Sein schäbiger Lederrock war zerrissen; seine weitere Kleidung bestand aus kurzen Sporthosen, Wollstrümpfen und dicken Schuhen. Er sah durchaus nicht wie ein Durchschnittsmensch aus, aber er machte sicherlich auch keinen sympathischen Eindruck. Sein Gesicht konnte ich nicht genau sehen. Zu seinen Gunsten sprach eigentlich nur seine leichte, aufrechte Haltung, obwohl sie in gewisser Weise betont schroff und ablehnend erschien. Die Frau konnte ich nur undeutlich erkennen. Sie war schlank und schien nicht mehr ganz jung zu sein. Als sie näherkamen, verbarg ich mich im Schatten eines großen Lorbeerbusches. Sie konnten mich nicht sehen, aber ich konnte ihre Stimmen hören.

»Ist nicht ein neuer Pastor hier?« fragte sie. »Soviel ich gehört habe, wurde er erwartet.«

Er brummte unwillig.

»Ja, ein Mensch mit einer Tochter, erzählte mir Morris. Der Pfarrer selbst mußte ja vermutlich kommen – aber wozu braucht er denn eine Tochter?«

Die Frau lachte leise. Sie hatte eine wohlklingende, musikalische Stimme.

»Wenn ich recht unterrichtet bin, hat er sogar zwei Töchter! Du wirst ein Weiberfeind! Warum soll der Mann denn keine Töchter haben, wenn er seine Freude daran hat?«

Er brummte wieder grimmig, dann war es einen Augenblick ruhig. Sie waren mir jetzt direkt gegenüber, aber das dichte Gebüsch entzog mich ihren Blicken. Die große, wuchtige Gestalt des Mannes hob sich fast gigantisch von dem grauen Abendhimmel ab. Er schlug die Disteln an der Seite des Weges mit seiner Peitsche ab.

»Möglich!« knurrte er. »Ich habe nur eine gesehen. Ein blasses Ding mit schwarzen Haaren.«

Ich unterdrückte ein Lachen, denn er sprach von mir. Ich war dieses blasse Ding mit den schwarzen Haaren. Aber es war nicht gerade höflich, mich so zu nennen, Mr. Deville!

Als sie vorübergegangen waren, lehnte ich mich an den Zaun und sah ihnen nach, bis sie in der Dämmerung verschwanden. Der Klang ihrer Stimmen drang nur noch undeutlich zu mir, aber ich konnte noch den tiefen Baß des Mannes hören, der einige unwillige Bemerkungen machte. Das war mein erster Eindruck von Mr. Bruce Deville.

Ich wandte mich plötzlich erschrocken um. Fast dicht an meiner Seite war jemand stöhnend zu Boden gefallen. Schnell trat ich vor, neigte mich über ihn und ergriff seine Hand – es war mein Vater.

Seine Augen waren halb geschlossen, seine Hände kalt. Rasch lief ich in das Haus.

In der Diele traf ich Alice.

»Gib mir schnell etwas Kognak«, rief ich atemlos. »Vater ist krank – im Garten!«

Sie brachte das Stärkungsmittel sofort, und wir eilten zusammen zu der Stelle, wo ich ihn verlassen hatte. Er lag noch reglos mit geschlossenen Augen dort. Ich fühlte seinen Puls und sein Herz und öffnete ihm den Kragen.

»Ich glaube nicht, daß es etwas Ernstes ist«, sagte ich leise zu Alice. »Nur ein kleiner Ohnmachtsanfall.«

Ich rieb seine Hände, und wir flößten ihm etwas Kognak ein. Gleich darauf schlug er die Augen auf und hob den Kopf ein wenig. Erschrocken sah er um sich.

»Es war ihre Stimme«, flüsterte er heiser. »Ich hörte sie in der Dämmerung. Wo ist sie? Ich hörte ein Rascheln in den Blättern – und dann sprach sie!«

»Nur Alice und ich sind hier«, sagte ich und neigte mich über ihn. »Es war sicher eine Täuschung. Fühlst du dich wieder besser?«

Er schaute uns an, und seine Züge belebten sich allmählich wieder.

»Ich bin wohl ohnmächtig geworden?« rief er. »Ich erinnere mich – im Studierzimmer wurde es mir zu eng, und ich wollte an die frische Luft gehen. Aber ich dachte –«

Ich reichte ihm meine Hand, und er erhob sich mühsam. Er sah noch bleich aus und zitterte, aber er hatte sich wieder gefaßt.

»Es war so dumpf im Zimmer – so drückend schwül – und ich war auch so müde. Ich bin wahrscheinlich heute zu weit gegangen, und das vertrage ich nicht. Ich muß wirklich einmal einen Arzt aufsuchen!«

Alice sah ihn teilnahmsvoll an. Er nahm ihren Arm, und ich folgte den beiden schweigend. Ein merkwürdiger Gedanke war mir gekommen. Ich hörte immer noch die ersten Worte meines Vaters und sah sein bleiches, erschrockenes Gesicht. War es eine Phantasie gewesen, oder hatte er die Stimme wirklich gehört, die ihn so sehr beunruhigte? Ich versuchte, darüber zu lachen, aber es gelang mir nicht. Zu deutlich hatte ich das Entsetzen in seinen Zügen lesen können. Aber wessen Stimme hatte er vernommen? Und warum fürchtete er sich? Ich beobachtete ihn, wie er sich leicht auf Alices Arm stützte und langsam dem Hause zuschritt. Es ging ihm schon bedeutend besser. Er erschien mir plötzlich in einem neuen Licht, und zum erstenmal dachte ich daran, daß sich hinter seinen verschlossenen, undurchdringlichen Zügen vielleicht eine geheimnisvolle Welt verbarg, von der niemand etwas wußte.

 


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