Edward Phillips Oppenheim
Schatten der Vergangenheit
Edward Phillips Oppenheim

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Kapitel 26.
Der Indizienbeweis.

Langsam vergingen zwei trübe Tage. Von meinem Vater kamen keine weiteren Nachrichten; wir wußten nicht einmal, wo er war. Alice und ich waren eifrig mit Packen beschäftigt, und die ganze Wohnung sah schon kahl und öde aus. Mit Ausnahme zweier Zimmer war alles geräumt. Wir zählten schon die Tage bis zum Umzug nach Exchester. Niemand besuchte uns, und ich sah weder Olive Berdenstein noch Bruce Deville.

Aber am Nachmittag des dritten Tages schaute ich zum Fenster hinaus und entdeckte die beiden. Sie kamen aus der kleinen Schonung, die zu dem Gelben Haus führte, und wandten sich langsam zum Herrenhaus hinauf. Sie war passender gekleidet als früher; das dunkelgrüne Kostüm stand ihr ausgezeichnet. Selbst auf diese Entfernung konnte ich erkennen, daß sie aufrecht und fröhlich einherschritt. Ihr ganzes Wesen schien von neuem Leben erfüllt zu sein. Bruce Deville neigte sich mehr zu ihr, als er es sonst zu tun pflegte. Ich empfand einen quälenden Schmerz, als ich sie beobachtete. Hatte sie ihr Spiel schon gewonnen? Ließ sich ein Mann so leicht täuschen?

Sie kamen von dem Gelben Hause; er hatte sie zu Mrs. Fortreß mitgenommen. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff mich plötzlich. Rasch nahm ich Mantel und Hut und ging zu ihr.

Das Mädchen ließ mich ohne Zögern ein. Sie sagte, daß Mrs. Fortreß zu Hause wäre und mich sicher empfangen würde, obwohl sie stark beschäftigt wäre. Als meine Mutter meine Stimme hörte, kam sie selbst in die Diele, um mich zu begrüßen, und führte mich in ihr Arbeitszimmer.

»Ich habe viel zu tun, sagte sie und zeigte auf einen Stoß von Schriftstücken. »Wann kannst du wohl mit mir nach London kommen? Meine Wohnung ist fertig, und ich möchte bald abreisen.«

»In etwa drei Wochen. Am Montag oder Dienstag werden wir hoffentlich nach Exchester ziehen können. Ich möchte meinen Vater gern wiedersehen und will ihnen noch helfen, sich einzurichten. Dann bin ich frei.«

»Du siehst müde und abgespannt aus«, sagte sie teilnahmsvoll. »Hat sich etwas Neues ereignet?«

»Nein.«

»Mr. Bruce Deville war eben mit Miß Berdenstein hier.«

»Ich sah sie. Geht es Miß Berdenstein gut? Ich habe sie einige Tage nicht gesehen.«

»Es geht ihr sehr gut. Aber ich wundere mich über Bruce Deville. Er ist in einer sonderbaren Verfassung. Ich habe noch nie bemerkt, daß er sich um jemand so bemühte wie um dieses Mädchen. Und doch scheint eine rücksichtslose Ironie in seinem Betragen zu liegen. Als ich ihn bat, noch etwas zu bleiben und mit mir zu plaudern, lehnte er es ab. Ich möchte nur wissen, ob du –«

Sie sah mich an und machte eine Pause.

»Willst du es mir nicht sagen?« fragte sie dann ernst. »Natürlich nur, wenn es dir lieb ist.«

»Es ist nicht viel zu sagen.« Ich zwang mich, ruhig zu sprechen. »Ich mußte auf eine Frage Mr. Devilles mit Nein antworten. Er hat sich sehr schnell getröstet.«

Sie seufzte und betrachtete mich nachdenklich. Die Bitterkeit meines Tons hatte mich verraten.

»Das tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Bruce Deville ist kein Mann, der mit Frauen umzugehen versteht. Er hat viele Fehler, aber er ist ein feiner, aufrichtiger Mensch. Er ist viel zu schade, um sich an dieses nichtssagende, unglückliche Wesen wegzuwerfen.«

Ich fühlte dasselbe, aber ich sprach nicht darüber.

»Sie ist sehr reich«, erwiderte ich. »Sie kann seine Schulden bezahlen und ihm wieder eine geachtete, angesehene Stellung verschaffen.«

»Ach, seine Schulden sind nur gering. Außerdem ist er nicht so arm, wie die Leute denken. Er könnte ganz anders leben, aber er fürchtet sich vor dem gesellschaftlichen Verkehr und schützt Armut vor, um sich all diesen Verpflichtungen zu entziehen. In Wirklichkeit steht es nicht so schlecht mit ihm, wie man allgemein annimmt. Ich kann wirklich nicht glauben, daß er ernstlich daran denkt, dieses Mädchen zu heiraten«, fuhr sie fast ängstlich fort. »Der Gedanke ist mir unerträglich!«

»Männer sind große Rätsel«, entgegnete ich. »Sie tun gewöhnlich das, was man am wenigsten von ihnen erwartet.«

»Dasselbe sagt man auch von den Frauen.«

Sie erhob sich plötzlich und trat an meine Seite. Sie streckte ihre Hände aus, und ich gab ihr die meinen. Meine Augen wurden feucht. Es war so seltsam, einen Menschen zu finden, der mich verstand.

»Würdest du nicht gern morgen mit mir abreisen?« fragte sie freundlich. »In London ist alles bereit. Wir brauchen nur ein Telegramm zu senden. Vielleicht – wäre es gut für dich.«

»Ja«, sagte ich schnell. »Ich glaube, daß ich den Verstand verliere, wenn ich noch länger hier bleiben muß. Ich hasse diesen Ort.«

»Armes Kind!« rief sie begütigend. »Entscheide dich und komme mit mir.«

»Ich würde keinen Augenblick zögern, wenn ich genau wüßte, daß mein Vater nicht mehr hierherkommen wird, solange Olive Berdenstein noch hier ist.«

»Das können wir doch leicht erreichen. Schreibe ihm, daß er hier nicht sicher ist, und daß er nicht kommen soll.«

Unsere Blicke trafen sich.

»Glaubst du, daß er ihren Bruder getötet hat?«

Sie sah mich mit bleichen Wangen an.

»Wer anders könnte es gewesen sein?« fragte sie. »Ich hörte selbst, wie er an einem schrecklichen Tage drohte, ihn umzubringen, wenn er jemals wieder mit ihm zusammenkommen würde. Das liegt weit zurück, aber es ist mir, als ob es gestern gewesen wäre. Dort draußen sind sie aufeinander gestoßen und dann – du weißt ja – in der Kirche –«

Ich machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, und sie schwieg. Das Stöhnen des Windes draußen klang wie das Todesröcheln dieses Mannes. Ich fuhr schaudernd zusammen.

»Ich kann nicht mehr hier bleiben«, rief ich. »Ich will mit dir gehen.«

Ihre Augen leuchteten auf. Sie zog mich an sich und küßte mich auf die Stirne.

»Das wird das Beste sein. Auch ich werde niemals hierher zurückkommen – also morgen!«

»Ja, morgen!«

 


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