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Ich habe kein Gelübde getan

In der lieben Wohnung in der Rue de Vaugirard türmen sich im Vorhaus die Kisten, man stolpert über Schnüre.

Wir lassen so viel von unserem Herzen an diesen Mauern hängen, daß der Auszug wie ein Leichenbegängnis wirkt.

Zum erstenmal hat Regine ihr Hütchen nicht der Gipsfigur der heiligen Fortunata auf dem Kamin aufgesetzt.

Sie sieht aus, als wäre sie zu Besuch: Handschuhe an den Händen, die Jacke geschlossen, die purpurne Schärpe eng um den Hals geschlungen.

Seit Monaten haben wir an ihrem Schweigen, ihrer Zurückhaltung gemerkt, daß sie auf die Heirat zusteuert, wie auf einen Nothafen – oder auf einen Niedergang, auf diese Heirat, von der wir alle genau wußten, daß sie unvermeidlich war. Nun hat sie sie uns angekündigt:

»Was wollt ihr« – sie spricht ein wenig müde und wie entschuldigend –, »ich habe genug. Ich entschließe mich zur Ehe wie andere zum galanten Leben.«

»Du entsagst dem Kampf«, meint Maguy vorwurfsvoll.

»Oh, ich habe mich nie als Apostel der weiblichen Unabhängigkeit gefühlt«, gibt Regine zurück. »Gewiß, ich habe daran geglaubt, nach einer ersten verfehlten Ehe und vor allem, ich wollte daran glauben mit der ganzen Kraft meiner Enttäuschungen. Es war ein Wahnbild, nicht ein Lehrsatz.«

Maguy schweigt. In ihrem tiefsten Innern streitet die Unbeugsamkeit ihrer Grundsätze gegen die bewundernswerte Großmut der Gefühle.

»Ich habe genug,« wiederholt Regine, »genug, weiß Gott.« Sie sieht niemand an. Ihre Augen sind auf die langen roten Seidenfransen gerichtet, die ihre Finger über dem schwarzen Kleid drehen.

Zweifellos steigen in diesem Augenblick häßliche Bilder in ihrer Erinnerung auf. Es ist, als läse sie ein Verzeichnis ab:

»Ich habe genug von diesem ungewissen, einsamen, freudlosen Leben. Ich habe genug von dem Schluß und selbst von den Anfängen arbeitsreicher Monate. Genug von dem kleinen Rundkäse, abends, von den Orangen, die man sich am Kamin schält.

Genug davon, meinen Mantel drei Jahre tragen und meine Kleider immer wieder umändern zu müssen, bis sie mir von den Schultern fallen. Genug davon, meinem Budget keine hundert Franken zumuten zu können für ein Paar Schuh, für einen Hut, für eine Handtasche, ohne daß es heillos aus dem Gleichgewicht kommt, und das alles darum, weil ich dem Hotelier dreihundertfünfzig Franken zahlen muß, um in einem Bett schlafen zu dürfen.

Genug davon, mit einer Woche halben Fastens die zwanzig Franken wieder einbringen zu müssen, die ich halbmonatlich meinem Friseur zahle für die Instandhaltung meines ›Feenhaars‹. Ich will von Ärgerem schweigen ... von der Wäsche nach Art der Mimi-Pinson; von der sonntäglichen Bügelei, die ich mir seit einem Jahr leiste, um fünfzig Franken an der monatlichen Wäscherechnung zu ersparen; von dem scheußlichen Gedränge im Autobus oder in der Untergrundbahn, wo ich vor Müdigkeit und Widerwillen taumle, nur weil die Taxis zu teuer sind.

Genug endlich von allen diesen Einschränkungen, dieser elenden Rechnerei, die lustig sein mag, wenn man sie zu mehreren und für kurze Dauer mitmacht. Denn ich lasse es gelten, daß diese ekelhafte Knappheit in meinem Leben eine Episode gewesen ist, aber ich lehne es ab, daß sie die Regel sein sollte. Ich habe kein Gelübde getan.«

»O doch, meine Liebe,« sagt Laure, »wir alle haben ein Gelübde abgelegt beim Eintritt in dieses Leben! Das Gelübde der Armut, harter Arbeit und Entbehrungen aller Art: materieller und gefühlsmäßiger.«

»Mein Irrtum war es,« fährt Regine fort, »zu glauben, daß ich mich über meine Jugend hinaus mit einem Leben dritter Klasse würde abfinden können. Jetzt weiß ich, daß ich, wenn dies Leben so weitergehen würde, in meinen eigenen Augen nicht das wäre, was ihr so großartig eine unabhängige Frau nennt, eine freie Frau – sondern eine verpatzte Existenz, ein armes Wesen.«

Gilberte lacht. Ihre hellen Augen blitzen zwischen den dunklen Wimpern.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Regine, was du tun willst, ist durchaus vernünftig und klug. Das kommt nicht alle Tage vor.«

»Was wollt ihr! Sogar die Aussicht, meine Situation um tausend Franken monatlich herum gesichert zu sehen, scheint mir nicht erschütternd.

»Ein Sträfling weniger,« sagt Laure, »bravo, Regine!«

»Oh! Du auch!« ruft Maguy beinahe schmerzlich.

»Aber ja, ich auch«, sagt Laure mit Nachdruck.

»Nein, wirklich, kannst du dir vorstellen, Maguy, daß ich aus freien Stücken lange Zeit dieses Leben führen würde? Sag', kannst du dir das vorstellen, ohne jetzt gleich, sofort, Trauer um mich anzulegen? Ja, ich auch und du eines Tages auch, Maguy.«

»Nein«, erklärt Maguy im Ton wirklichen Leidens. »An diese Unabhängigkeit, die euch nur als schlimmer Notbehelf erscheint, glaube ich mit ganzer Kraft. Ich werde ihr alle meine Kräfte bis zum letzten weihen.«

»Du bist jung, Maguy«, wirft Gilberte ein.

»Es ist keine Frage der Jugend. Je älter man wird, desto mehr muß sich angesichts der erreichten Besserungen das Bewußtsein der eigenen Kraft steigern. Ihr fühlt doch wenigstens, daß wir auf ein Ziel losgehen? oder? Dank unserem Dasein werden die kommenden Geschlechter von Frauen dem Leben stärker gegenüberstehen.«

»Oh!« widerspricht Regine, »die Stärke einer Frau liegt vor allem in ihrer Schwäche. Ich werde niemals den Ausspruch eines zeitgenössischen Schriftstellers vergessen: ›Die Frau hat mehr dabei zu verlieren, wenn man sie als Gleichgestellte denn als Untergebene behandelt‹.«

»Der Satz hat etwas Geniales«, meint Laure nachdenklich.

Aber wird sich denn Maguy je besiegt geben? Noch mit dem Kopf auf dem Block würde sie ihren Glauben nicht verleugnen. Das Überlaufen unserer Freundin erfüllt sie mit einem dumpfen Schmerz. Sie hat so viel Überzeugung, so viel Glut in ihre Grundsätze gelegt, soviel Ehrlichkeit an ihre Betätigung gewandt, daß auch das Schauspiel der beweiskräftigsten Fehlschlage ihr Vertrauen nicht zu erschüttern vermag.

Für ihre eigene Person bleibt sie unbeirrbar, trotz grausamer Erfahrungen.

Ihren eigenen Mißerfolg sieht sie nicht als Kennzeichen der Gesamtlage, sondern nur als vereinzelten Zufall an.

»Ich mache es dir nicht zum Vorwurf,« sagt sie, »daß du dir einen Gefährten wünschst, ein Haus, einen Herd. Aber ich trage es dir nach, daß du aus freien Stücken deine Persönlichkeit als Frau hingeben willst. Du hast es nicht nötig, dir deine Wahl gesetzlich bestätigen zu lassen.«

»Du langweilst mich, Maguy«, wirft Regine etwas gereizt ein. »Für die Frau gibt es nur in der Ehe Sicherheit. Und diese gute alte Einrichtung, die so verschrien und gewiß auch unvollkommen ist, hat noch einige Jahrhunderte zu leben. Es ist der einzige Hafen, in dem es für eine Frau weise ist, zu landen. Ich habe wohl das Recht, euch so zu predigen, weil es mir selbst nicht immer geglückt ist.

Jawohl, ich will eine Gewähr, ich will nicht allein das Gewicht des Lebens tragen. Vor allem, vor allem will ich nicht allein alt werden, und ich verheirate mich, weil das immer noch der beste bisher erfundene Ausweg ist, nicht mehr allein zu sein.«


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