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Die wütende Kuh

Es ist keine Fabel, wir konnten tatsächlich einen wütenden Wiederkäuer während langer Monate von Angesicht zu Angesicht betrachten.

In diesem Winter haben Regine und Laure mehr durchgemacht, als ihnen zukam.

Seit ihrem Weggang von der Zeitung führte Laure ein abscheuliches Dasein: das des Journalisten, der seine Artikel unterzubringen sucht.

Es ist keine Rede davon, daß sie etwa wieder eine Stellung finden könnte ähnlich der, die sie verloren hat. Die eine war ein glücklicher Zufall, ein kurzer Lichtblick. Nun aber könnte man sagen, daß das Schicksal es auf unsere Freundin abgesehen hatte, daß es für dieses wunde Herz, für diese unerträgliche Daseinssorge keinen Hoffnungsschimmer geben soll.

Sechs Monate und noch länger haben wir zugesehen, wie Laure die Redaktionen ablief, an die sie durch Empfehlungen von Freunden oder liebenswürdigen Kollegen gewiesen wurde.

Gewiß, da sie gute Artikel bringt, wird sie nirgends schlecht empfangen, und daß sie gut anzusehen und hinlänglich gut angezogen ist, schadet ihr natürlich auch nicht.

In Paris darf man nicht bedürftig aussehen, wenn man Arbeit finden will.

Wie sollten die zerstreuten Schriftleiter wohl auf den Gedanken kommen, daß diese so geschmackvoll angezogene junge Frau mit dem eleganten Hut über dem schönen Gesicht, daß sie die grausamsten Sorgen kennt und bisweilen in ihrem gestickten Handtäschchen eben noch Geld genug für ein kleines Abendessen hat? In dreiviertel der Fälle ist man der Meinung, daß sie das Handwerk aus Liebhaberei, als Dilettantin betreibt. Eine so hübsche Frau wird doch nicht ›darauf‹ angewiesen sein, um essen zu können.

Eines Tages hat ihr ein Kollege geradeheraus gesagt:

»Sagen Sie mir doch unter uns, die Geldfrage kümmert Sie wohl nicht viel? Sie stehen nicht allein?«

»Ich bin allein. Ich habe allerdings meine Eltern, die helfen mir, aber nur in sehr bescheidenem Maß, weil der Krieg ihr Vermögen geschmälert hat ...«

»Das ist es ja nicht, was ich sagen will. Sie haben doch ›jemand‹. Sie stehen nicht allein ... dem Herzen nach.«

»Aber, mein Lieber, das Herz hat doch nichts mit dem Materiellen zu tun!«

»Ach, gehen Sie doch!«

Ein anderer, der das literarische Beiblatt einer neugegründeten Zeitung redigiert, ein sehr netter Junge, hat ihr gesagt: »Heute gebe ich Ihnen nur fünfundsiebenzig Franken für Ihre Geschichte. Ihnen macht das ja doch nichts aus ...«

»Diesen Monat«, überlegt Laure, »rechne ich auf sechs- bis siebenhundert Franken: eine Novelle im Grand Journal, eine im Paris-Matin, macht zweihundert Franken, ein Artikel im Notre Dimanche – noch einmal hundert, Quotidiana will einen Artikel wöchentlich von mir bringen im Frauenblatt. Und dann kommt noch Pallas-Athéné, das neue Blatt, das eine Reihe von vier Artikeln von mir liegen hat.«

Aber im Augenblick darauf stimmt die Rechnung nicht mehr: »Nicht genügend Handlung; zuviel reine Psychologie, und im übrigen, machen Sie uns doch etwas anderes.«

Man könnte ein Meisterwerk einreichen. Sobald es ›keine Handlung‹ hat, taugt es nicht mehr als Hundefutter.

Und die Hundertfrankennoten haben sich in Traumdunst verflüchtigt. Der Artikel für Notre Dimanche ›paßt nicht in den Rahmen‹. Man schickt ihn Laure zurück mit einem Begleitbrief wie an einen Handwerker. Bei Quotidiana ist infolge Überfluß an Stoff dreimal von vier das Gemisch aus Kinderstube und Abendschule unterdrückt worden, das sich ›die Seite der Frau und des Kindes‹ nennt. Pallas-Aténé, eben erst erscheinend, muß bekannte Namen haben, um durchzudringen. Die Prosa der Anfänger hat in der Unordnung der Schubladen eine günstige und sehr ferne Stunde abzuwarten. –

Die erhofften siebenhundert Franken schrumpfen auf dreihundert zusammen.

Jede neue Enttäuschung stürzt Laure in abgrundtiefe Verzweiflung. Sie ist besessen von den Geldsorgen. Weiße Nächte, schwarze Tage.

»Wie kannst du dir Geldfragen so nahgehen lassen?« sagt Maguy, die diese Angelegenheiten durch tiefste Verachtung erledigt. »Natürlich ist es langweilig, wenn man kein Geld hat, aber die Sorge hält doch nicht vor. Es gibt keine, die sich so leicht vergessen ließe.«

Laure bestreitet das nicht, gäbe es nur die Geldfrage, so wären ihre Tage nicht so vergiftet. Zu all dem andern aber, zu der Qual ihrer Liebe, ihrer lebendigen, schmerzensreichen, nutzlosen Liebe – zu all dem ist es unerträglich.

Wäre sie allein, dann könnte sie's einfach nicht ertragen. An ihre Eltern wagt sie sich nicht zu wenden. Die Nachkriegszeit hat sie so hart mitgenommen. Sie leben so beschränkt. Aber Maguy streckt ihr die Miete vor. Sie will sie ihr sogar schenken, die Liebe, die Großmütige, und noch manches andere dazu.

Reine hat ein paar tausend Franken auf der Bank.

»Ich habe ein bißchen Geld, meine Liebe, es gehört dir, wir sehen dann später schon ...«

Die Schwestern. Alles gemeinsam, Schmerz, Freude, Geld: das Brot, das Salz und die Tränen der Freundschaft geteilt auf dem Altar der ›Vache Enragée‹.

Laure könnte sich in ihre Anfänge zurückversetzt glauben. Alles ist neu zu beginnen, neu aufzunehmen. Der Weg starrt von Hindernissen. Sooft sie einen Zweig zur Seite gebogen hat, peitschen ihr andere das Gesicht. Jeder Tag bringt neue Bitternisse.

Ein Jahr an einer großen Zeitung fällt als Empfehlung nicht schwer ins Gewicht, man hat nichts weiter davon als eine rückschauende Erfahrung, die nützen kann.

»Nicht übel, der Artikel. Aber vielleicht könnten Sie ihn mildern, nicht gar so realistisch fassen, verstehen Sie? Man darf die Leser nicht vor den Kopf stoßen.«

Laure beginnt den Artikel von neuem. Mildert ihn. Anderswo ein anderes Lied:

»Gut, aber ein bißchen blaß. Man muß den Leser überraschen, seine Aufmerksamkeit erzwingen. Verstehen Sie?«

Ob sie versteht!

Und weiter: »Ihre Meinung über die gefärbten Haare und das Schminken können wir nicht teilen. Die Frage ist zu ernst, um ...«

Und weiter: »Denken Sie doch ein wenig über eine Spalte für uns nach, die etwa überschrieben sein könnte: »Ich sehe das Leben vorüberziehen.«

Höchstens fünfzig Zeilen. Sie verstehen, ja, um was es sich handelt ...«

Zwei Wochen später: »Ich sehe das Leben vorüberziehen«? Sie sagen, ich hätte zwei Artikel von Ihnen? Warten Sie nur, ach ja, ich erinnere mich. Ja, nun, leider, wir müssen darauf verzichten, die Anzeigen häufen sich, wir können unmöglich Platz finden, und Ihre Artikelfrage, ich weiß wirklich nicht, wohin ich sie getan habe ...«

Und dann die illustrierten Blätter:

»Haben Sie Bilder? Nein? Was soll ich denn mit einem Artikel ohne Photos, meinen Sie?«

»Aber Sie haben das Thema doch angenommen ...«

»Das bestreite ich nicht. Aber hier bei uns, verstehen Sie, ist der Text Nebensache. Bringen Sie uns Photos!«

»Aber ... wo soll ich sie hernehmen?« Und die Antwort mit gebreiteten Armen: »Du lieber Gott, das ist Ihre Sache!«

Laure fällt, steht auf, fällt wieder, und mit der fast blinden Hartnäckigkeit, die die Grundlage ihres Charakters bildet, rennt sie noch einmal gegen das Hindernis an – und zwingt es wieder nicht.

Die wirksamste Unterstützung hat unsere Freundin bei ihren Standesgenossinnen gefunden. Sie hat zwei oder drei Redaktricen aufgesucht. Die mochten mitunter launisch sein, ungeduldig, durch und durch weiblich natürlich. Aber Laure hat bei ihnen doch den aufrichtigen Wunsch erkannt, der Anfängerin nützlich zu sein, ihr den mühsamen Aufstieg zu erleichtern. Diese ›arrivierten‹ Frauen, die sich mit Hilfe der Ellenbogen und des Gehirns ein wenig Bestand und Behagen in ihrem Arbeitsdasein geschaffen, haben die Vergangenheit nicht vergessen, die so reich an Schwierigkeiten und Enttäuschungen war.

»Ich habe es auch durchgemacht, ich weiß, wie es ist. Bringen Sie mir Ihre Arbeiten. Ich werde für Sie immer ein wenig Platz schaffen.«

Und schließlich:

»Sagen Sie mir, Kleine, wollen Sie einen Vorschuß?«

Die Härten des Lebens werden die Frauen zumindest eines gelehrt haben: gegenseitige Hilfe.

Laure hat Anselme aufgesucht, um ihn zu bitten, daß er das Erscheinen ihrer Novelle beschleunigen möchte. Er hat seinen brummigen Tag:

»Ich weiß von nichts. Ich kann nichts dazu. Sie kommt dieser Tage dran.«

»Ich warte doch schon acht Monate.«

»Es gibt welche, die warten zwei Jahre.«

»Und andere, die nach sechs Wochen drankommen. Neulich einmal haben Sie eine scheußliche Novelle von Myriane ›Jolyse‹ gebracht, was, nebenbei bemerkt, ein Kokottenname ist«, sagt Laure schonungslos.

Anselme reckt die Arme zur Decke:

»Was soll ich Ihnen sagen ? Sie verlegt bei uns, ganz natürlich, daß sie bevorzugt wird. Arbeiten Sie weiter und denken Sie nicht an das, was schon fertig ist.«

»Ich denke daran, weil ich Geld brauche.«

Der Wilde wird zahmer:

»Geht es denn gar nicht?«

»Gar nicht.«

Er triumphiert.

»Hä! Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Habe ich Sie nicht gewarnt? Ich habe Ihnen nicht ein Jahr Zeit gegeben.«

Er flucht, und seine Faust jagt die Papiere vom Schreibtisch auf:

»Ist ein Lastträgerberuf – es gibt keinen schlimmeren –, ich weiß es, Herrgott, hab's selber gemacht.«

Auf dem Bürgersteig steht sie still, weint, überlegt.

Warum lebt man weiter, ja, warum? Nichts – keine Liebe, kein Glück, kein Pflichtenkreis, nicht einmal die bescheidene Genugtuung, sich sagen zu können: ›Ich verdiene mir mein Hundeleben.‹

Und weiter? Immer im Kreis herum, im Leeren. Kämpfen wofür? Für welches Ziel?

Das Leben ist eine Gewohnheit.

Und Laures Herz ist in ihrer Brust so zerrissen, so gelähmt – ganz Blut und Asche – und schwer wie die Marmorwürfel, die man in häßlichen Karaffen auf den Tischen der Kaffeehäuser findet.


Auch in Regines Arbeit gibt es einen Stillstand. Das Haus Vorland macht eine Geldkrise durch und hat die Arbeit eingestellt. Diese Krise gilt auch für Regine in noch härterem Maße. Die Perlen, die ihr noch bleiben, könnten zur Not noch ein Armband geben. Regine reibt sich auf. Doch in welcher Richtung sie auch eine Anstellung versucht – niemals hat sie Erfolg. Die Übersetzungen aus dem Russischen sind nicht anzubringen. Man hat zu viel davon gelesen. Tolstoi und Dostojewski haben zuviel Unveröffentlichtes hinterlassen. Als Tote noch überschwemmen sie den internationalen Verlagsmarkt. Alles schreit: ›genug, genug‹.

Ein großer Verlag betraut Regine mit literarischen Bearbeitungen. Es handelt sich darum, Werke, die ihr im Urtexte unzugänglich sind, der Jugend mundgerecht zu machen und Bücher von hundert, zweihundert und dreihundert Seiten auf achthundert Zeilen zu kürzen.

Dafür werden zweihundert Franken gezahlt.

»Ich kann Ihnen alle drei Monate einen Band zuteilen«, sagt der Herausgeber der Sammlung.

Er ist sehr gütig. Er zahlt Regine gegen jede Regel, bei Ablieferung des Manuskripts. Mehr kann man von ihm nicht verlangen.

Ein Freund hat Regine gesagt:

»Gehen Sie zu Tartempion. Er bringt eine neue Sammlung heraus. Schlagen Sie ihm eine Anthologie von Dichterinnen vor. Die nimmt er sicher an.«

»Die schönsten Liebesgedichte vom dreizehnten Jahrhundert bis zum heutigen Tag? Gewiß, ausgezeichnete Idee. Bringen Sie mir doch einen Entwurf und eine biographische Notiz als Probe.«

Eine Woche lang durchwachte Nächte, Suchen in den Bibliotheken, Aufstöbern des Staubes aus den Büchern von Barbe de Verrue, Christine de Pisan, der Königin von Navarra, der Clotilde de Surville ...

Du jour qu'ay veu mon roy partit
Voyle des nuits couvre le monde ...
II me disait, je vis pour toy ...
Que la mors seule nous sépare! ...

Endlich ist der Plan bis ins genaueste ausgearbeitet. Regine stürzt zu Tartempion:

»Sie bringen mir etwas?

Erinnern Sie mich doch ... Ach ja, gewiß ...«

Die Papiere, die Regine hinhält, werden ihr achtlos abgenommen, ein zerstreuter Zeigefinger durchblättert sie, während die Augen anderswo sind:

»Ja, allerdings ... Ich fürchte sehr, daß das die Mehrzahl der Leser wenig reizen wird. Es ist zu oft gemacht worden ...«

Das Telephon klingelt.

»Sie gestatten? Sehr beschäftigt ...

Guten Tag, meine Dame . .. wenn Sie in drei oder vier Monaten wiederkommen wollen, dann wäre es möglich ...«

»In der Zwischenzeit kann man auf die Straße gehen«, sagt Regine zum Abschluß ihrer Erzählung.


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