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Das liebe Stadtviertel

Später einmal, wenn wir alle, wie Regine, uns im Leben eingerichtet haben werden – in dem herkömmlichen Leben, aus dem wir herauszutreten gedachten und in das wir doch unweigerlich zurückfallen müssen – : welche von uns wird dann wohl ohne Rührung unseres Feldlagers freiheitsdurstiger Frauen gedenken können und dieses Winkels von Paris, von dem Regine sagte, so oft sie das Luxembourg oder die alten Quais mit ihren Bäumen überquerte:

»Ich habe diese Gegend im Blut.«

Freundinnen von der Schule oder von der Arbeit her, zusammengeführt durch die Gemeinsamkeit gewisser Sympathien, Neigungen und Hoffnungen, die man Freundschaft nennt, hatten wir uns alle fünf im Quartier Latin wiedergefunden, zwischen vierundzwanzig und dreißig Jahren; wir übten unsere Tätigkeit auf ganz verschiedenen Gebieten aus und versuchten, unser Leben zu verdienen, ohne sonderlich dafür geschult zu sein; denn wir glaubten aus voller Seele an die Möglichkeit einer Unabhängigkeit für die Frau und weigerten uns vor allem, mit aller Kraft unseres Stolzes, an dem Wettrennen nach der Heirat teilzunehmen; um keinen Preis hätten wir ›junge heiratsfähige Mädchen‹ sein mögen.

Unsere schönsten Erinnerungen, die ohne Schatten und ohne Reue, werden sich wohl an den schönen blühenden Garten knüpfen, den Regine, um der Häßlichkeit ihres Hotelzimmers zu entgehen, immer aufsuchte; dort schrieb sie dann, auf dem Knie, mitten unter grauen Steinen, Bäumen und sprudelnden Wassern.

Du liebes Quartier Latin, vertraut wie eine Landschaft und lebendig wie ein Herz, lernbegierig und froh, großherzig und gutmütig, wo nichts stört, nichts verletzt, weder der freche Luxus der großen Stadt, noch ihr lärmender Alltag!

Wir ließen uns selten in den Schlupfwinkeln der internationalen Bohème blicken, im ›Soufflet‹, das von Fremdlingen überschwemmt, in der ›Source‹, die von Kartenspiel und Pfeifenrauch erfüllt war – fällt dort ein französisches Wort, dann sucht man erstaunt, von wo es wohl gekommen sein mag. Auch das ›d'Harcourt‹ sah uns selten, das ganz überstuckt und mit einer American Bar geziert ist. An Abenden aber, wo uns der Jammer anpackte, gingen wir längs der dunklen Seine, auf der sich Lichtschlangen wanden, zum Châtelet hinunter und kehrten bei Dreher ein; dort spendete uns dann, um den Preis eines Schoppens Bier, ein ausgezeichnetes Orchester ein wenig Süße. Oder es führte uns ein Spaziergang längs der geschlossenen Gitter des Luxembourg bis nach Montparnasse. Und dort horchten wir vor einem Chartreuse oder einem Lindenblütentee (je nach dem Zustand unseres Magens oder unserer Finanzen) nach dem internationalen Vogelhaus der Rotonde hinüber, aus dem es wie das Rauschen eines Stromes klang.

Du liebes Quartier Latin, mit deiner Seele voll Freude und Gelehrsamkeit, voll Überlieferung und Augenblickslaune, wo sich, dem Esprit zuliebe, die Dogmen der alten Sorbonne dem Überschwang närrischer Jugend vermählen! Das Quartier hat seine besonderen Gestalten, die ihm eigentümlich sind, seine besonderen Laute und Gewerbe. Wie viele Altkleiderhändler! Nirgendwo hatten wir ihrer so viele gehört; selbst Laure, selbst Reine nicht, die in der Provinz aufgewachsen waren; das Quartier Latin ist ein Viertel, wo man, zu Ende der Jahreszeiten, gerne seine Kleider verkauft.

Jeder Händler hatte seinen eigenen Rhythmus. Der eine schleppte die Silben, als wäre er es müde, ewig dasselbe Verslein wiederholen zu müssen: »Al–te Klei–der«. Dann eine rasche Häufung, um die Aufmerksamkeit zu erregen: »Kleider, Kleider, sag' ich!« Nach ihm konnten wir die Uhr stellen, denn er kam täglich um acht Uhr zwanzig durch unsere Gasse.

Der andere entledigte sich seiner Worte etwas hastiger, und wie befehlshaberisch! Als wollte er sagen: »Los, verkauft sie, eure Kleider, verkauft sie mir, zum Teufel!«

Der dritte aber, nicht ohne Süße, schmeichelte sich ein, gewinnend, und meinte wohl: »Bringt sie doch her, eure Kleider! Warum laßt ihr euch so lange bitten? Ihr wißt doch, daß ihr nicht drum herumkommt! Los, vierzig Franken für einen Smoking, armer Student, und für diese Hose – sechs Franken, gewiß nicht mehr ...«

Sie folgten einander oder gaben einander abwechselnd Antwort in den hellhörigen Morgenstunden und verkündeten den Tag wie Hähne über weitem Land.

Wie viele waren ihrer? Fünf, sieben, acht, zehn vielleicht. Und mit Vorliebe verweilten sie mit ihrem Gesang unter den Fenstern der Hotels.

»Kleider, Kleider, ... Lumpen ...« Der eine warf seinen Schrei wie den Stein aus einer Schleuder gegen die Fenster der Schläfer, der andere zeigte lyrischen Schwung, und seine Stimme verströmte in breitem Rhythmus: »Kleider! Kleider! Hört ihr nicht?«

Noch ein anderer aber, so versicherte wenigstens Gilberte, sang sein »Alte Lumpen!« nach der großen Arie der Tosca.

Hat nicht jede von uns Maria, der alten italienischen Hökerin, ein paar Blumen abgekauft? Sie war ein wenig verrückt, unheimlich redselig, und kauerte unter ihrer spitzen blauen Wollhaube an der Ecke der Rue Soufflot oder der Rue des Ecoles, vor einem Korb mit blauem Eukalyptus oder angewelkten Maiglöckchen.

In jenem Herbst hatten sich drei von uns, Maguy, Reine und Laure, zusammengetan und in der Rue de Vaugirard, gegenüber dem Luxembourg, eine möblierte Wohnung gemietet.

»Das wird gemütlicher und lustiger sein, als wenn wir, jede für sich, bei einer mißtrauischen, hypochondrischen alten Dame landen müßten«, hatte Maguy erklärt, die den Vorort, wo ihre Familie wohnte, verlassen wollte und von der die erste Anregung zu dem Unternehmen ausging.

Die Sache kostete siebenhundert Franken monatlich. Ein Glücksfall: Leute, die zwei Jahre in den Kolonien bleiben wollten. Nachher würde man sehen, lieber Gott!

Ein Nebenhaus zwischen Hof und Garten, zwei Akazien unter den Fenstern, dazu eine Wand voll Efeu, mit Vogelgesang obendrein.

Wie hätten wir nicht glauben sollen, daß alles gut gehen würde, da wir doch, trotz dem Mangel eines Zuhause, uns wenigstens einreden konnten, eines zu haben ?

Auch Sophie war nicht minder Gegenstand unseres Stolzes. Ah, Sophie! Hausmädchen, treu, selbstlos und gutwillig – das gibt es noch. Sie war lange Zeit in den Diensten einer kleinen Schauspielerin gewesen und hatte es dabei gelernt, jedem Mann, der das Haus betrat, den Titel ›Monsieur‹ zu geben. Sie war nicht mehr jung genug, um diese Gewohnheit abzulegen. Und dann machte sie zwischen den drei jungen Frauen, denen sie nun diente, und jener andern wahrhaftig nicht viel Unterschied. Wenn also Laure, Maguy oder Reine einen Kollegen empfingen, einen alten Onkel, einen jugendlichen Vetter, einen Versicherungsbeamten, dann meldete Sophie bieder:

»Monsieur erwartet das Fräulein ...«

»Ich habe Monsieur in den Salon eintreten lassen ...«

»Monsieur hat gesagt, er würde wieder vorbeikommen.«

Gilberte, Witwe, war die einzige unter uns, die sich einer wirklich eigenen Wohnung zu erfreuen hatte, und Regine, die seit ihrer Scheidung ohne Unterkunft und deren Einrichtung verstreut war, war zeitweilig, in der unwahrscheinlichen Erwartung einer Wohnung, in einem teuren und unsauberen Hotel am Odéon gelandet.


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