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Die Zeit zur Liebe

Im Salon der Rue de Vaugirard weint Maguy, die Wange gegen ein seidenes Kissen gedrückt.

Ihr kleiner Körper, in ein schwarzseidenes, golddurchwirktes Morgenkleid gehüllt, ihre glatten, nie zerrauften Haare geben ihr ein ganz japanisches Aussehen. Die Tränen können ihrem reinen Teint nichts anhaben, sie laufen über ihre Wangen ab wie ein Regenschauer über Blütenblätter.

Mag sie zerbrochen sein von Müdigkeit oder zutiefst niedergeworfen in die Abgründe des Kummers, der Krankheit vielleicht –: Maguy ist niemals unreinlich, niemals verwüstet, niemals lächerlich. Ein Problem.

Die Glocke von Saint-Sulpice schlägt ein Viertel nach acht. Der Glockenschlag hat für Maguy so oft das Ende einer nutzlosen Wartezeit angegeben, daß sie ihn nun nicht hören kann, ohne im Innersten trübe gestimmt zu werden.

Der heiße Julitag verglüht zu Asche über den Akazien des Hofs, und der Diwan im Zimmer versinkt schon in Schatten. Maguy wünscht sich noch mehr Schatten.

Er hat gesagt, daß er kommen wolle. Und er wird nicht kommen. Maguy drückt ihr verzweifeltes Gesichtchen in die Kissen. Das Schrillen der Türglocke dringt wie eine zitternde Nadel ins Herz der stillen Wohnung und hält in verschiedenen Abstufungen an.

»Ah, es ist nur Regine«, sagt Maguy, die einen Augenblick lang an einen anderen Besuch geglaubt hat.

»Grüß dich, Kleines. Oh!« ruft die junge Frau sofort aus, während sie Maguys nasse Wangen küßt. »Geht es denn gar nicht, Liebste?«

Im Salon schaltet Maguy den Stecker ein. Im Herzen der Dämmerung erschließt sich, wie ein Blütenkelch aus gedämpftem Licht, die Porzellanlampe mit ihrem runden Seidenschirmchen.

»Hast du gegessen?« fragt Regine und wirft ihren kleinen Filzhut dem heiligen Fortunatus über den aufreizend melancholischen Kopf. »Nicht? Ich auch nicht, aber ich bringe ein Nachtmahl mit. Törtchen von Lamoureux. Ich kam durch die Rue Saint-Sulpice und konnte nicht widerstehen. Wo ist Laure?«

»Nachtdienst in der Redaktion: bis zwei Uhr nachts wird sie an blödsinnigen Telegrammen herumfingern. Schöner Beruf! Reine hat Gilberte, die Lust auf Bier hatte, zum Balzar begleitet. Ich, ich wartete...«

Maguys Mund zittert, ihre Augen glänzen von verhaltenen Tränen, ihre Stimme schwankt.

»...Kann mich nicht dran gewöhnen...« »Armes Mädel!«

»Den ganzen Tag für ihn arbeiten, mir den Kopf einrennen und die Nerven zerreiben an den ewigen Geldfragen – das tue ich nur deswegen so hemmungslos, weil ich ihn liebe, ihn, und weil ich will, daß dieses Haus seine Freude, sein Stolz sein soll. Ich gebe ihm mein Bestes, meine armen Kräfte, meine Entschlossenheit, mein Urteil. Das ist nicht tausend Franken im Monat wert, nicht zweitausend, nicht fünftausend – einfach ein wenig Glück, ein wenig Dankbarkeit, ein wenig Freundlichkeit.«

Maguy drückt sich ihr Taschentuch, eine feuchte Kugel, auf die Augen.

»Er liebt dich auch«, sagt Regine schwach.

»Ich weiß nicht. Ich denke mir, daß er kein Verlangen mehr hat, mich anders zu sehen, nachdem er mich den ganzen langen Tag über Zahlen gebeugt gesehen hat. Und dann, eine Zeit – Verpflichtungen in der Familie... in der Gesellschaft... Seine Frau. Ah! Seine Frau! Er war von ihr getrennt, sie lebten ›jedes für sich‹. Aber er kann sie nicht allein ausgehen, allein empfangen lassen.

Und ich, ganz zerschlagen, ich komme hierher zurück und weine vor Müdigkeit und Enttäuschung.«

»Aber schließlich und endlich, Gott im Himmel, hat er dich doch gebeten, ihm zu gehören. Ein Ehrenmann hätte das doch wohl nicht so leichthin getan, ohne dich zu lieben.«

»Manchmal glaube ich, daß er mich nur genommen hat, damit es gar keine Schranken mehr zwischen uns gäbe, verstehst du? Er kann mich quälen und anfahren nach Herzenslust, kann schreien, alles auf die Erde werfen. Mit einem Kuß auf die Stirn behält er recht über meine Empfindlichkeit.«

Ein Schweigen.

»Ich bin soweit gekommen, daß ich wünsche, er möchte mich schlecht behandeln,« fährt Maguy fort, »nur danach ist er lieb zu mir. Und dann beweist es mir auch sein Vertrauen und unsere Nähe.«

Immer darauf bedacht, keinen andern mit ihrer Qual zu überlasten, fragt sie Regine:

»Und du, Liebste? Wie steht es mit dir?«

»Mein Kleines, ich bin ratlos, besorgt. Deferny will mich heiraten.«

Maguys kleines Gesicht, so rührend unter Tränen, weil sie den eigenwilligen Zügen etwas Besiegtes, Kindliches, Erbarmenswertes geben, das Gesichtchen zeigt plötzlich tiefen Ernst:

»Wie keck!« entrüstet sie sich. »Du wirst doch nicht annehmen!«

Deferny könnte nicht schlimmer beurteilt werden, wenn er Mädchenhändler wäre. Regine erklärt:

»Ich habe keine Lust, anzunehmen. Und zugleich frage ich mich, ob diese Weigerung nicht die größte Dummheit in meinem Leben wäre, das ihrer schon einige zählt.«

Maguy gibt heftig zurück:

»Die größte Dummheit wäre es, dich zu verheiraten.«

Regine überlegt. Deferny hat Madame Clère als Vermittlerin gewählt, um seinen Antrag vorzubringen. Doch hat sich Regine nicht seit Wochen umgeben gefühlt von diesem Manneswillen, umringt von dieser bescheidenen, treuen, ein wenig traurigen Werbung?

Manchmal, in verträumter Stimmung, hat sie eine Neigung in sich gefühlt, zu dieser Zukunft. Im Augenblick aber, wo die Träumerei Gestalt gewinnt, erschrickt sie davor, fühlt sich versucht, zu fliehen, alles abzuschütteln, so wie neulich, als Deferny, auf seinem Balkon, sie leicht gestreift und sie sich mit erschrecktem Widerwillen gesagt hat: »Wäre es möglich, daß er eines Tages das Recht haben sollte, mich anzurühren, mich zu nehmen? Nein, nein, niemals!«

»Im Augenblick«, meint sie, »geht die Arbeit gut, und ich bin hoffnungsfroh... Des Abends, bei geschlossener Tür, ein halbes Pfund Kirschen auf dem Nachttisch, um beim Lesen naschen zu können – da denke ich daran, daß ich am nächsten Tage, nach Belieben, werde aufstehen oder schlafen können, arbeiten oder ausruhen, kommen und gehen...

Das ist gut: Freiheit, Freiheit, Liebste!... In solchen Augenblicken möchte ich diesen göttlichen Frieden nicht gegen das kostbarste Gut eintauschen. Nur...«

»Nur?« fragt Maguy, nicht ohne Strenge.

»Nur fühle ich, daß dies alles nur seine Zeit haben wird. Daß ein Tag kommen wird, wo mich mein Grauen vor der Ungewißheit wieder packen, und das Bewußtsein, ganz auf meine Arbeit und auf meine Gesundheit gestellt zu sein, mich mit Angst erfüllen wird.

Der Tag wird es sein, an dem ich keine Arbeit finde, an dem alle meine Anstrengungen fehlschlagen werden, der mich für drei Monate an den Bescheid eines Verlegers hängen wird und an dem ich, um essen zu können, die letzten Reste meines lächerlichen Erbteils werde versilbern müssen: glücklich dabei, noch soviel zu haben und nicht als Verkäuferin in den Galeries Lafayette enden zu müssen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, meine kleine Maguy, daß ich an dem Tage eine Vernunftehe eingehe.«

»Nun,« sagt Maguy mit unerwarteter Heiterkeit, »er wird viel Phantasie notwendig haben, der Herr, der dich heiraten wird!«

Dann, in verändertem Ton:

»Liebste, das alles sind nur Kinderkrankheiten. Ich hatte sechs Jahre zu arbeiten, bevor ich es zu etwas gebracht habe.«

Doch Regine überlegt, daß sie von Maguy recht verschieden ist. Sie hält an der Unabhängigkeit aus Selbstsucht fest, aus Angst vor einem zweiten ehelichen Erlebnis, aus Abwehr gegen die Knechtschaft, die die erste Ehe ihr gebracht hatte. Nicht aus idealer Überzeugung, wie ihre Freundin. Und überdies kennt sie sich gut genug, um zu wissen, daß sie an dem Tage, an dem die Einsamkeit sich zu schwer für ihre Schultern erweisen würde, den ganzen Pack von Utopien abwerfen würde.

»Meine kleine Maguy, wenn ich Deferny liebte, dann hätte ich dich sicher nicht um die Erlaubnis gefragt, ihn zu heiraten. Aber ich liebe ihn nicht. Oder vielmehr ich habe ihn sehr lieb, ich liebe ihn mit Umstandswort, wie Laure sagt. Und dann ist da noch die Frage des Bettes. Du, die Frau der schwierigen Situationen, was rätst du mir?«

»Du mußt Zeit gewinnen. Du mußt für ein oder zwei Monate wegfahren. Hast du Geld? Wenn nicht, leihe ich dir welches.«

Die runde Lampe erhellt mit unbeweglichem Licht Maguys müdes Gesicht, hebt das schmächtige Oval aus dem Schatten und unterstreicht die dunklen Ringe um die Augen. Wie sie da in ihrem nachtfarbenen Kleid zwischen den Kissen hingestreckt liegt –: wie zart, wehrlos wirkt sie, und welche wilde Energie steckt doch in dem kleinen Wesen!

Regine aber, langgliedrig, fest und geschmeidig wie ein junges Raubtier – ist sie nicht geschaffen zum Kampf? Doch Zweifel überschatten ihr helles Gesicht.

»Du fährst weg«, bestimmt Maguy.

»Diese Reise ist eine Flucht.«

»Ganz recht. Gewöhnlich sind es die Männer, die ausreißen. Vertauschen wir einmal die Rollen.«


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