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d) Zu Menschliches, Allzumenschliches.

1. Fragmente einer andern Vorrede zum I. Band.

 

67.

I.

»Menschliches, Allzumenschliches«: mit diesem Titel ist der Wille zu einer großen Loslösung angedeutet, der Versuch eines Einzelnen, sich von jeglichem Vorurtheile, welches zu Gunsten des Menschen redet, loszumachen und alle Wege zu gehn, welche hoch genug führen, um, für einen Augenblick wenigstens, auf den Menschen hinab zu sehen. Nicht das Verächtliche am Menschen zu verachten, sondern bis in die letzten Gründe hinein zu fragen, ob nicht selbst noch im Höchsten und Besten und an Allem, worauf der bisherige Mensch stolz war, ob nicht an diesem Stolze selber und der harmlosen oberflächlichen Zuversichtlichkeit seiner Werthschätzungen etwas zu verachten bleibt: diese nicht unbedenkliche Frage war Ein Mittel unter allen den Mitteln, zu denen eine große, eine umfängliche Aufgabe mich gezwungen hat. Will Jemand mit mir diese Wege gehn? Ich rathe Niemandem dazu. – Aber ihr wollt es? So gehn wir denn!

II.

Wer die Begierden einer hohen und wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine Nahrung bereit findet, dessen Gefahr ist heute keine geringe. In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch »zugreift« – vor Ekel zu Grunde gehn. Dies war die Gefahr meiner Jugend, einer ungesättigten, sehnsüchtigen, vereinsamten Jugend: und die Gefahr kam auf die Höhe, als ich eines Tages begriff, was für Speisen ich zuletzt doch mir zugeführt, und wozu mich der ungestüme Hunger und Durst meiner Seele verlockt hatte. Es war im Sommer 1876. Damals stieß ich, wüthend vor Ekel, alle Tische von mir, an denen ich bis dahin gesessen hatte, und ich gelobte mir, lieber zufällig und schlecht, lieber von Gras und Kraut und unterwegs, wie ein Thier, lieber gar nicht mehr zu leben, als meine Mahlzeiten wie bisher mit dem »Schauspieler-Volk« und den »höheren Kunstreitern des Geistes« – solche harte Ausdrücke gebrauchte ich damals – zu theilen: – denn ich schien mir unter die Zigeuner und Spielleute, unter lauter Cagliostro's und unechte Menschen gerathen und hatte an ihrer verführerischen Üppigkeit theilgenommen, und zürnte und tobte darüber, dort geliebt zu haben, wo ich hätte verachten sollen.

(Variante.) II.

Wer die Begierden einer hohen und wählerischen Seele hat, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten groß sein: heute aber ist sie außerordentlich. In ein lärmendes pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst oder, falls er endlich dennoch »zugreift«, vor Ekel zu Grunde gehn. Einem solchen Menschen müssen schon zur rechten Stunde ein paar Glücksfälle zu Hülfe kommen!

Darum kann ich die drei Glücksfälle meines Lebens nicht genugsam preisen, die es irgendwie noch ausglichen, worin ich etwa durch eine ungesättigte, sehnsüchtige und vereinsamte Jugend zu Schaden gekommen war. Das Erste war, daß ich in jungen Jahren eine achtbare und gelehrte Beschäftigung fand, welche mir erlaubte, mich in der Nähe der Griechen heimisch zu machen, wenn man mir diesen unbescheidnen, aber deutlichen Ausdruck nachsehen will. Solchermaßen bei Seite gerückt und auf das Beste unterhalten, brachte ich es nicht leicht über mich, über Etwas, das sich heute begiebt, heftig zu zürnen. Dazu kam, daß ich einem Philosophen ergeben war, der auf eine tapfere Art allem Gegenwärtigen und den »modernen Ideen« zu widersprechen wußte, ohne doch durch ein Übermaß von Verneinung die Ehrfurcht selber bei seinem Schüler zu entwurzeln. Endlich bin ich von Kindesbeinen an ein Liebhaber der Musik und auch jederzeit guten Musikern selber Freund gewesen: dies Alles zusammen ergab, daß ich wenig Grund hatte, mich um die heutigen Menschen zu kümmern: – denn die guten Musiker sind alle Einsiedler und »außer der Zeit«.

III.

Es geschah spät, daß ich dahinter kam, was mir eigentlich noch ganz und gar fehle: nämlich die Gerechtigkeit. »Was ist Gerechtigkeit? Und ist sie möglich? Und wenn sie nicht möglich sein sollte, wie wäre da das Leben auszuhalten?« – solchermaßen fragte ich mich unablässig. Es beängstigte mich tief, überall, wo ich bei mir selber nachgrub, nur Leidenschaften, nur Winkel-Perspektiven, nur die Unbedenklichkeit Dessen zu finden, dem schon die Vorbedingungen zur Gerechtigkeit fehlen: aber wo war die Besonnenheit? – nämlich Besonnenheit aus umfänglicher Einsicht. Was ich mir allein zugestand, das war der Muth und eine gewisse Härte, welche die Frucht langer Selbstbeherrschung ist. In der That gehörte schon Muth und Härte dazu, sich so Vieles und noch dazu so spät einzugestehn.

IV.

Dieses einleitende Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewußt hat und irgend eine Kunst verstehn muß, durch die auch spröde und widerspänstige Geister verführt werden, ist meinen näheren Freunden am unverständlichsten geblieben: – es war ihnen, als es erschien, ein Schrecken und ein Fragezeichen und legte eine lange Entfremdung zwischen sie und mich. In der That, der Zustand, aus dem es entsprang, hatte des Räthselhaften und Widersprechenden genug in sich: ich war damals zugleich sehr glücklich und sehr leidend, eines Sieges stolzbewußt, den ich eben über mich davongetragen hatte, – aber eines jener Siege, an denen man zu Grunde zu gehn pflegt. Eines Tages – es war im Sommer 1876 – kam mir eine plötzliche Verachtung und Einsicht in mich: unbarmherzig schritt ich über die schönen Wünschbarkeiten und Träume hinweg, wie sie bis dahin meine Jugend geliebt hatte, unbarmherzig gieng ich meines Weges weiter, eines Weges der »Erkenntniß um jeden Preis«: und ich that dies mit einer Härte, mit einer Ungeduld der Neugierde und auch mit einem Übermuthe, daß es mir auf Jahre hinaus die Gesundheit verdarb.

V.

Was begab sich damals eigentlich mit mir? Ich verstand mich nicht, aber der Antrieb war wie ein Befehl. Es scheint, daß unsre ferne einstmalige Bestimmung über uns verfügt; lange Zeit erleben wir nur Räthsel. Die Auswahl der Ereignisse, das Zugreifen und plötzliche Begehren, das Wegstoßen des Angenehmsten, oft des Verehrtesten: dergleichen erschreckt uns, wie als ob aus uns eine Willkür, etwas Launisches, Tolles, Vulkanisches hier und da herausspränge. Aber es ist nur die höhere Vernunft und Vorsicht unsrer zukünftigen Aufgabe. Der lange Satz meines Lebens will vielleicht – so fragte ich mich unruhig – rückwärts gelesen werden? Vorwärts, daran ist kein Zweifel, las ich damals nur »Worte ohne Sinn«.

Eine große, immer größere Loslösung, ein willkürliches In-die-Fremde-gehn, eine »Entfremdung«, Erkältung, Ernüchterung – dies allein, nichts weiter war in jenen Jahren mein Verlangen. Ich prüfte Alles, woran sich bis dahin überhaupt mein Herz gehängt hatte, ich drehte die besten und geliebtesten Dinge um und sah mir ihre Kehrseiten an, ich that das Entgegengesetzte mit Allem, woran sich bisher die menschliche Kunst der Verleumdung und Verlästerung am feinsten geübt hatte. Damals gieng ich um Manches, das mir bis dahin fremd geblieben war, mit einer schonenden, selbst liebevollen Neugierde herum, ich lernte billiger unsre Zeit und alles »Moderne« empfinden. Es mag im Ganzen wohl ein unheimliches und böses Spiel gewesen sein; – ich war oft krank daran. Aber mein Entschluß, blieb stehen; und, selbst krank, machte ich noch die beste Miene zu meinem »Spiele« und wehrte mich boshaft gegen jeden Schluß, an dem Krankheit oder Einsamkeit oder die Ermüdung der Wanderschaft Antheil haben könnten. »Vorwärts! sprach ich mir zu, morgen wirst du gesund sein; heute genügt es, dich gesund zu stellen.« Damals wurde ich über alles »Pessimistische« bei mir Herr; der Wille zur Gesundheit selbst, das Schauspielern der Gesundheit war mein Heilmittel. Was ich damals als »Gesundheit« empfand und wollte, drücken diese Sätze verständlich und verrätherisch genug aus: »eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein braucht und in ihren Äußerungen nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trägt – jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben«; – und als der wünschenswerteste Zustand erschien mir »jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge«. – In der That eine Art Vogel-Freiheit und Vogel-Umblick, Etwas wie Neugierde und Verachtung zugleich, wie dergleichen ein Jeder kennt, der unbetheiligt ein ungeheures Vielerlei übersieht – das war endlich der erreichte neue Zustand, in dem ich es lange aushielt. »Ein freier Geist« – dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe; der Mensch ist zum Gegenstand Derer geworden, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn; den freien Geist – giengen lauter Dinge an, die ihn nicht mehr »bekümmern«.

VI.

Das persönliche Ergebniß von Alledem war damals (M. Allzum. Aph. 29), wie ich es bezeichnete, die logische Welt-Verneinung: nämlich das Urtheil, daß die Welt, die uns überhaupt etwas angeht, falsch sei. » Nicht die Welt als Ding an sich – diese ist leer, sinnleer und eines homerischen Gelächters würdig! –, sondern die Welt als Irrthum ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoße tragend«: so dekretirte ich damals –. Die »Überwindung der Metaphysik«, »eine Sache der höchsten Anspannung menschlicher Besonnenheit« (Aph. 20.), galt mir als erreicht; und zugleich stellte ich die Forderung, für diese überwundenen Metaphysiken, insofern von ihnen »die größte Förderung der Menschheit« gekommen sei, einen großen, dankbaren Sinn festzuhalten.

Aber im Hintergrunde stand der Wille zu einer viel weiteren Neugierde, ja zu einem ungeheuren Versuche: der Gedanke dämmerte in mir auf, ob sich nicht alle Werthe umkehren ließen, und immer kam die Frage wieder: was bedeuten überhaupt alle menschlichen Werthschätzungen? Was verrathen sie von den Bedingungen des Lebens, deines Lebens, weiterhin des menschlichen Lebens, zuletzt des Lebens überhaupt.

VII.

Ich war schon über die zwanziger Jahre hinaus, als ich dahinter kam, daß mir die Kenntniß des Menschen fehle; und ist es auch wahrscheinlich, daß Jemand zum Menschenkenner werden könnte, der seinen Sinn weder auf Ehren, noch auf Geld, noch auf Ämter, noch auf Weiber gerichtet hat und die längsten Stücke jedes Tags mit sich allein verbringt? Hier gäbe es mancherlei Anlaß zu spotten: wenn es nicht wider den guten Geschmack gienge, in der Vorrede eines Buches dessen Urheber zu verspotten. Genug, ich fand Gründe und immer bessere Gründe, meinem Lobe wie meinem Tadel zu mißtrauen und über die richterliche Würde, die ich mir angemaßt hatte, zu lachen: ja, ich verbot mir mit Beschämung endlich jedes Recht auf Ja und Nein; zugleich erwachte eine plötzliche und heftige Neugierde nach »der unbekannten Welt« in mir, – kurz, ich beschloß, in eine harte und lange neue Schule zu gehn und möglichst weit weg von meinem Winkel! Vielleicht, daß mir unterwegs wieder die Gerechtigkeit selber begegnen würde.

Also kamen für mich Jahre der Wanderschaft. Dies waren Jahre der Genesung: Vielfältige Jahre voll bunter, schmerzlich-zauberhafter Verwandlungen, Begebnisse, von denen die Gesunden, die Vierschrötigen des Geistes ebenso wenig etwas begreifen und riechen dürften, als die Krankhaften, die Verurtheilten, die zum Tode und nicht zum Leben Vorherbestimmten. Damals hatte ich »mich« noch nicht gefunden: aber ich war tapfer unterwegs nach »mir« und prüfte tausend Dinge und Menschen, an denen ich vorbeikam, ob sie nicht zu »mir« gehörten oder etwas mindestens von »mir« wüßten. –

VIII.

Allmählich aber gerieth ich in ein immer tieferes Erstaunen, – es wurde wärmer um mich, gelber gleichsam. Mir ward zu Muthe, als ob nach solchen Fernblicken mir meine Augen, die Augen für meine »Nähe« erst aufgiengen. Diese nahen und nächsten Dinge: welchen Flaum und Zauber hatten sie inzwischen bekommen! Wie dankbar ward ich meinen Abenteuern! und daß ich nicht wie ein ängstlicher Eckensteher und Winkel-Frosch immer »zu Hause« geblieben war! Welche Überraschungen fand ich nun! welche neuen Schauder! welches Glück noch in der Müdigkeit! welches Ausruhen in der Sonne! Und diese neuen Stimmen, die ich hörte, – diese Begegnungen, diese seltnen Zärtlichkeiten! Was habe ich nicht damals gehört! – Und freilich auch immer wieder die alte, harte Stimme, welche befahl: »Fort von hier! Vorwärts, Wanderer! Der Mensch ist dir noch unentdeckt! Es sind noch viele Länder und Meere übrig, welche du sehen mußt: wer weiß, wem du noch begegnen wirst! Dir selber vielleicht!«

IX.

Wie es einem Jeden ergeht, meine Freunde, der lange neugierig unterwegs und in der Fremde ist, so sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg gelaufen: vor Allem aber Einer, und dieser immer wieder, nämlich kein Geringerer als der Gott Dionysos: jener große Zweideutige und Versucher-Gott, dem ich einstmals, wie ihr wißt, in aller »menschlichen Ehrfurcht« meine Erstlinge dargebracht habe: – es war ein rechtes Rauch- und Brandopfer der Jugend, und noch mehr Rauch als Brand!

Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die Philosophie dieses Gottes hinzu – und vielleicht kommt mir noch ein Tag von so viel Stille und halkyonischem Glück, daß mein Mund einmal von all dem, was ich weiß, überfließen muß, – daß ich euch, meine Freunde, die Philosophie des Dionysos erzähle. Mit halber Stimme, wie billig, – denn es handelt sich dabei um mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Fragwürdiges, sogar Unheimliches. Daß aber Dionysos ein Philosoph ist und daß also auch Götter philosophiren, dünkt mich eine nicht unbedenkliche, eine vielfach verfängliche Neuigkeit, welche vielleicht gerade unter Philosophen Mißtrauen erregen muß: – unter euch, meine Freunde, wird sie weniger gegen sich haben, es sei denn, daß sie euch nicht zur rechten Zeit bekannt gemacht wird: denn man glaubt heute unter euch, wie man mir verrathen hat, nur ungern an Götter!

X.

Es war Frühling und alles Holz stand in jungem Safte. Als ich so durch den Wald gieng und über eine Kinderei nachdachte, schnitzte ich mir eine Pfeife zurecht, ohne daß ich recht wußte, was ich that. Sobald ich aber sie zum Mund führte und pfiff, erschien der Gott vor mir, den ich seit langem schon kenne, und sagte:

»Nun, du Rattenfänger, was treibst du da? Du halber Jesuit und Musikant, – beinahe ein Deutscher!«

(Ich wunderte mich, daß mir der Gott auf diese Art zu schmeicheln suchte, und nahm mir vor, gegen ihn auf der Hut zu sein.)

»Ich habe Alles gethan, sie dumm zu machen, ließ sie im Bette schwitzen, gab ihnen Klöße zu fressen, hieß sie trinken bis sie sanken, machte sie zu Stubenhockern und Gelehrten, gab ihnen erbärmliche Gefühle einer Bedientenseele ein –«

›Du scheinst mir Schlimmes im Schilde zu führen! – sagte ich da – Man möchte glauben, du wolltest den Menschen zu Grunde richten!‹

»Vielleicht! – antwortete der Gott – Aber so, daß dabei etwas für ihn herauskommt!«

›Was denn?‹ fragte ich neugierig.

» Wer denn? solltest du fragen!«

Also sprach Dionysos und schwieg darauf, in der Art, die ihm eigen ist: nämlich versucherisch. Ihr hättet ihn dabei sehen sollen!

Es war Frühling und alles Holz stand in jungem Safte.

2. Fragment einer dritten Vorrede.

 

68.

I.

»Eine Seele, in welcher die Weltweisheit wohnt, muß durch ihre Gesundheit auch den Körper gesund machen«: so sagt es Montaigne, und ich gebe heute gern mein Jawort dazu, als Einer, der auf diesem Bereiche Erfahrung hat. »Es kann nichts Muntreres, Aufgeweckteres, fast hätte ich gesagt, Kurzweiligeres geben als die Welt und ihre Weisheit«: so sage ich ebenfalls mit Montaigne, – aber unter welchen bleichen und schauerlichen Larven gieng damals die Weisheit an mir vorbei! Genug, ich fürchtete mich oft genug vor ihr und war ungern dergestalt mit ihr allein; noch zur rechten Zeit entlief ich ihr und begab mich, allein und schweigsam, aber mit einem zähen »Willen zur Weisheit« und zum Süden – auf die Wanderschaft. Damals nannte ich mich bei mir selber einen »freien Geist«, oder »den Prinzen Vogelfrei«, und wer mich gefragt hatte »Wo bist du eigentlich noch zu Hause?« dem würde ich geantwortet haben »Vielleicht jenseits von Gut und Böse, sonst nirgends«. Aber ich trug hart daran, daß ich keine Wandergenossen hatte: so warf ich denn eines Tags einen Angelhaken nach andern »freien Geistern« aus – mit eben diesem Buche, das ich bereits mit Namen nannte als »ein Buch für freie Geister«.

Heute freilich – was lernt man nicht Alles in zehn Jahren! – weiß ich kaum noch, ob ich mit diesem Buch, nach Gefährten und »Wandergenossen« suche, Inzwischen nämlich lernte ich, was jetzt Wenige verstehen, Einsamkeit ertragen, Einsamkeit – »verstehen«: und ich würde es heute geradezu mit unter die wesentlichen Anzeichen eines »freien Geistes« setzen, daß er lieber allein läuft lieber allein fliegt, ja selber noch, wenn er einmal krank, Beine hat, lieber allein kriecht. Eine solche Einsamkeit tödtet, wenn sie nicht heilt: das ist wahr; unsre Einsam teil gehört zu den schlimmsten und gefährlichsten Heilkünsten. Aber gewiß ist, daß sie, wenn sie heilt, auch den Menschen gesünder und selbstherrlicher hinstellt, all je ein Mensch in Gesellschaft, ein Baum in seinem Wald, stehen könnte. Einsamkeit erprobt am gründlichsten, mehr als irgend eine Krankheit selber, ob Einer zum Leben geboren und vorbestimmt ist – oder zum Tode, wie die Allermeisten. Genug, ich lernte erst aus der Einsamkeit heraus die zusammengehörigen Begriffe »freier Geist« und »Gesundheit« und »Glück« ganz zu Ende denken.

II.

Wir »freien Geister« leben einzeln und hier und dort auf Erden – daran ist nichts zu ändern; wir sind Wenige – und so ist es billig. Es gehört zu unsern Stolze, zu denken, daß unsre Art eine seltne und seltsame Art ist; und wir drängen uns nicht zu einander wir »sehnen« uns vielleicht nicht einmal nach einander Freilich: treffen wir einmal zusammen, wie heute, so giebt es ein Fest! Wenn wir das Wort »Glück« im Sinn, unsrer Philosophie gebrauchen, so denken wir dabei nicht (wie die Müden, Geängstigten und Leidenden unter den Philosophen vorallererst) an äußeren und inneren Frieden, an Schmerzlosigkeit, Unbewegtheit, Ungestörtheit, an einen »Sabbat der Sabbate«, eine Gleichgewichtslage, an Etwas, das dem tiefen traumlosen Schlafe im Werthe nahe kommt. Das Ungewisse vielmehr, das Wechselnde, Verwandlungsfähige, Vieldeutige ist unsre Welt, eine gefährliche Welt vielleicht –: mehr sicherlich als das Einfache, Sich-selbst-Gleichbleibende, Berechenbare, Feste, dem bisher die Philosophen, als Erben der Heerden-Bedürfnisse und Heerden-Beängstigungen, die höchste Ehre gegeben haben. In vielen Ländern des Geistes bekannt und umhergetrieben u. s. w.

III.

Habe ich euch damit beschrieben? oder nur auf eine neue Weise verschwiegen? Ich weiß es nicht: aber ihr sagt mir, ihr befürchtetet in jedem Falle, daß ich mich mit diesem Namen vergriffen hätte? Daß der Name »freier Geist« vorweggenommen ist? Daß er irreführe? Daß man uns, auf diesen Namen hin, verwechseln werde? – Aber warum, unter uns gesagt warum doch, meine Freunde, sollten wir nicht irreführen? Was liegt daran, daß man uns verwechselt? Werden wir uns deshalb verwechseln? Und zuletzt: wäre es vielleicht nicht schlimmer, wenn – –?

Wohlan, ich verstehe euch: ihr wollt durchaus einen anderen, einen neuen Namen! »Aus Stolz«, sagt ihr mir: das beste Argument, auf das hin man jede Dummheit thun darf. So fange ich denn von Neuem an: macht mir eure Ohren für meine Neuigkeit auf!

IV.

Aber zu wem rede ich dies? Wo sind denn diese »freien Geister«? Giebt es denn ein solches »unter uns«? Ich sehe um mich: wer denkt, wer fühlt denn wie ich? Wer will, was mein verborgenster Wille will? Aber ich fand Niemanden bisher. Vielleicht habe ich nur schlecht gesucht? Vielleicht müssen Die, welche an meiner Art neuer Noth und neuem Glück leiden, sich gleichermaßen verbergen, wie ich es thue? Und Masken vornehmen, wie ich es that? Und folglich schlecht zum Suchen von Ihresgleichen taugen?

In allen Ländern Europa's, und ebenso in Nordamerika, giebt es jetzt »Freidenker«: gehören sie zu uns? Nein, meine Herren: ihr wollt ungefähr das Gegentheil von dem, was in den Absichten jener Philosophen liegt, welche ich Versucher nenne; diese spüren wenig Versuchung, mit euch lügnerische Artigkeiten auszutauschen. Ja, wenn ihr »Freidenker« nur einen Geruch davon hättet, wovon man sich frei machen kann und wohin man dann getrieben wird! ich meine, ihr würdet zu den wüthendsten Gegnern dessen gehören, was ich meine »Freiheit des Geistes«, mein »Jenseits von Gut und Böse« nenne.

V.

Daß ich es nicht mehr nöthig habe, an »Seelen« zu glauben, daß ich die »Persönlichkeit« und ihre angebliche Einheit leugne und in jedem Menschen das Zeug zu sehr verschiednen »Personen« und Masken finde, daß mir der »absolute Geist« und das »reine Erkennen« Fabelwesen bedeuten, hinter denen sich schlecht eine contradictio in adjecto verbirgt – damit bin ich vielleicht auf der gleichen Bahn, wie viele jener »Freidenker«, noch ganz abgesehn von der Leugnung Gottes, mit der auch heute noch einige biedere Engländer vermeinen, eine ungeheure Probe von Freisinnigkeit zu geben. Was mich von ihnen trennt, sind die Werthschätzungen: denn sie gehören allesammt in die demokratische Bewegung und wollen gleiche Rechte für Alle, sie sehen in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft die Ursachen für die menschlichen Mängel und Entartungen, sie begeistern sich für das Zerbrechen dieser Formen: und einstweilen dünkt ihnen das Menschlichste, was sie thun können, allen Menschen zu ihrem Grad geistiger »Freiheit« zu verhelfen. Kurz und schlimm, sie gehören zu den » Nivellirern«, zu jener Art Menschen, die mir in jedem Betracht gröblich wider den Geschmack und noch mehr wider die Vernunft geht. Ich will, auch in Dingen des Geistes, Krieg und Gegensätze; und mehr Krieg als je, mehr Gegensätze als je; ich würde den härtesten Despotismus (als Schule für die Geschmeidigkeit des Geistes) noch eher gutheißen, als die feuchte laue Luft eines »preßfreien« Zeitalters, in dem aller Geist bequem und dumm wird und die Glieder streckt. Ich bin darin auch heute noch, was ich war – »unzeitgemäß«.

Wir neuen Philosophen, wir Versuchenden, denken anders – und wir wollen es nicht beim Denken bewenden lassen. Wir denken freier; – vielleicht kommt der Tag, wo man mit Augen sieht, daß wir auch freier handeln. Einstweilen sind wir schwer zu erkennen; man muß uns verwechseln. Sind wir »Freidenker«?

3. Einzelnes.

 

69.

Heute, wo es gilt, diesem Buch (das offen steht, aber trotzdem nach seinem Schlüssel verlangt) einen Eingang, eine Vorrede zu geben, soll es das Erste sein, zu sagen warum ich mich damals vor einer Vorrede fürchtete.

 

70.

Was an diesem Titel die Worte »Menschliches, Allzumenschliches« bedeuten sollen, habe ich schon zu verstehn gegeben – zum Mindesten für Solche, die feine Ohren haben. Was aber in aller Welt dachte ich mir damals unter »freien Geistern«, nach denen ich den Angelhaken meines Buches auswarf? Es scheint, ich wünschte mir – Gesellschaft?

 

71.

Welche Art Menschen mag das sein, die an solchen Aufzeichnungen Freude hat? – Man gestatte mir, mein Bild von dieser Art rasch an die nächste beste Wand zu malen: hierhin, auf die Blatter einer »Vorrede«. Ich möchte auch am wenigsten gleich eine Bezeichnung, ein einzelnes Wort für sie in Anspruch nehmen, obschon es dergleichen geben mag: – vielleicht findet Einer, der mein Bild sieht, von selbst das Wort, – das »rechte Wort«.

Diese Art Menschen beschützt den Künstler und Philosophen, aber verwechselt sich nicht mit ihm. Sie sind müßig, sie haben die Vernunft zum otium.

 

72.

Der beleidigte Stolz, der Verdruß darüber, dort geliebt zu haben, wo man hätte verachten können, eine hinzukommende Schwermuth über die entstandene Leere und Lücke, endlich der Biß der intellektuellen Eitelkeit, welche sagt »du hast dich betrügen lassen« –: dies war das nächste Erlebniß. Aber ein philosophischer Mensch treibt alles Erlebte in's Allgemeine, alles Einzelne wächst zu Ketten.

 

73.

Es ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbst-Bestimmung; und viel krankhafter sind die ersten wunderlichen und wilden Versuche des Geistes, sich mit eigener Faust nunmehr die Welt zurechtzurücken.

 

74.

»Menschliches, Allzumenschliches.« – Man kann nicht über Moral nachdenken, ohne sich nicht unwillkürlich moralisch zu bethätigen und zu erkennen zu geben. So arbeitete ich damals an jener Verfeinerung der Moral, welche »Lohn« und »Strafe« bereits als »unmoralisch« empfindet und den Begriff »Gerechtigkeit« nicht mehr zu fassen weiß als »liebevolles Begreifen«, im Grunde » Gutheißen«. Darin ist vielleicht Schwäche, vielleicht Ausschweifung, vielleicht auch –


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