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2. Modernität.

 

138.

Den Verfall der modernen Seele in allen Formen darzustellen –: inwiefern von Sokrates an der Verfall beginnt; meine alte Abneigung gegen Plato, als anti-antik; die »moderne Seele« war schon da!

Griechisch die zunehmende Härte: Sinnen-Kraft; Schamlosigkeit; das Unhistorische; Wettkampf; Gefühl gegen das Barbarische; Haß des Unbestimmten, Ungeformten, der Wölbung; die Schlichtheit der Lebensweise; Götter schaffen, als seine höhere Gesellschaft.

 

139.

Gegen den großen Irrthum, als ob unsre Zeit (Europa) den höchsten Typus Mensch darstelle. Vielmehr: die Renaissance-Menschen waren höher, und die Griechen ebenfalls; ja vielleicht stehn wir ziemlich tief: das »Verstehen« ist kein Zeichen höchster Kraft, sondern einer tüchtigen Ermüdung; die Moralisirung selbst ist eine décadence .

 

140.

Auch die »Wilden« sind unsäglich hoch entwickelte Menschen, gegen die längsten Zeiten gerechnet.

 

141.

Das griechisch-römische Alterthum hatte endlich eine tyrannische und übertreibende Antinatur-Moral nöthig: die Germanen ebenfalls, in anderer Hinsicht.

Unsre jetzige Art Mensch entbehrt eigentlich der Zucht und der strengen Disziplin; die Gefahr ist dabei nicht groß, weil die Art Mensch schwächer ist, als frühere, und andrerseits, weil die unbewußten Zuchtmeister (wie Fleiß, der Ehrgeiz im Vorwärtskommen, die bürgerliche Achtbarkeit) sehr hemmend wirken und ihn im Zaume halten. – Aber wie Menschen aus der Zeit Pascal's zusammengehalten werden mußten?

Das überflüssige Christenthum: dort wo keine extremen Mittel mehr nöthig sind! Da wird Alles falsch, und jedes Wort, jede christliche Perspektive eine Tartüfferie und eine Schönrednerei.

 

142.

Modernität. – Die Abwesenheit der moralischen Zucht; man hat die Menschen wachsen lassen (Vielleicht sind die Menschen von Port-Royal wie künstliche Gärten.)

Es fehlt die Autorität.

Es fehlt die Mäßigung innerhalb ruhiger Horizonte; – man hat aus der Unendlichkeit eine Art Betrunkenheit gemacht.

Es fehlt die Feinheit in der Beurtheilung.

Es herrscht ein Chaos von widersprechenden Werthschätzungen.

 

143.

Es ist etwas Fundamental-Verfehltes im Menschen, – er muß überwunden werden. Versuche!

 

144.

Die zunehmende Verdummung und Vergemeinerung Europa's.

Nachwuchs des Adels, l'homme supérieur, immer mehr angefeindet.

Die moralistische Cultur der Spanier und Franzosen im Zusammenhang mit dem Jesuitismus. Dieser wird mißverstanden.

Das Fehlen aller moralischen Praktik: Gefühle – statt Prinzipien.

 

145.

Die Skepsis mit den heroischen Gefühlen verknüpfen. Skepsis der Schwäche und Skepsis des Muthes. Einen Menschen ohne Moral imaginiren, der überall auch das entgegengesetzte Urtheil hervorruft (Napoleon).

 

146.

Höhepunkte der Redlichkeit: Macchiavell, der Jesuitismus, Montaigne, Larochefoucauld. Die Deutschen als Rückfall in die moralische Verlogenheit.

 

147.

Dühring, oberflächlich, sieht überall Corruption; – ich empfinde vielmehr die andere Gefahr des Zeitalters, die große Mittelmäßigkeit: es gab nie so viel Rechtlichkeit und Gutartigkeit.

 

148.

Die Heuchelei wäre abzuschaffen, wenn es nicht lustig wäre, sie anzusehen. Nicht Götter nach Epikur, sondern nach Homer: oder wie Galiani.

 

149.

An sich verlangen, daß nur »Wahres« gesagt wird, würde voraussetzen, daß man die Wahrheit hätte; soll es aber nur heißen, daß man sagt, was einem wahr gilt, so giebt es Fälle, wo es wichtig ist, dasselbe so zu sagen, daß es einem Andern auch wahr gilt: daß es auf ihn wirkt.

Sobald wir selbst die Moral absolut nehmen, z. B. das Verbot der Lüge im religiösen Verstande, so wird die ganze Geschichte der Moral, wie die der Politik, eine Nichtswürdigkeit. Wir leben von Lügen und Falschmünzerei , – die herrschenden Stände haben immer gelogen.

 

150.

Die allgemeine Vergröberung des europäischen Geistes, ein gewisses täppisches Geradezu, welches sich gerne als Geradheit, Redlichkeit oder Wissenschaftlichkeit rühmen hört: das ist die Wirkung des demokratischen Zeitgeistes und seiner feuchten Luft: noch bestimmter – es ist die Wirkung des Zeitunglesens. Bequemlichkeit will man oder Betrunkenheit, wenn man liest. Bei weitem das Meiste, was gelesen wird, ist Zeitung oder Zeitungs-Art. Man sehe unsre Revuen, unsre gelehrten Zeitschriften an: Jeder der da schreibt, redet wie vor »ungewählter Gesellschaft« und läßt sich gehn, oder vielmehr sitzen, auf seinem Lehnstuhl. – Da hat es Einer schlimm, welcher am meisten Werth auf die Hintergedanken legt und mehr als alles Ausgesprochne die Gedankenstriche in seinen Büchern liebt. Die Freiheit der Presse richtet den Stil zu Grunde, und schließlich den Geist: das hat vor hundert Jahren schon Galiani gewußt. – Die »Freiheit des Gedankens« richtet die Denker zu Grunde. – Zwischen Hölle und Himmel und in der Gefahr von Verfolgungen, Verbannungen, ewigen Verdammnissen und ungnädigen Blicken der Könige und Frauen war der Geist biegsam und verwegen geworden: wehe, wozu wird heute der »Geist«!

 

151.

Man muß an der Kirche die Lüge empfinden, nicht nur die Unwahrheit – so weit die Aufklärung in's Volk treiben, daß die Priester alle mit schlechtem Gewissen Priester werden –, ebenso muß man es mit dem Staate machen. Das ist Aufgabe der Aufklärung: den Fürsten und Staatsmännern ihr ganzes Gebahren zur absichtlichen Lüge zu machen, sie um das gute Gewissen zu bringen und die unbewußte Tartüfferie aus dem Leibe des europäischen Menschen wieder herauszubringen.

 

152.

Die Feigheit vor der Consequenz: – das moderne Laster.

Romantik: die Feindschaft gegen die Renaissance (Chateaubriand, Richard Wagner); gegen das antike Werthideal; gegen die dominierende Geistigkeit; gegen den klassischen Geschmack, den einfachen, den strengen, den großen Stil; gegen die »Glücklichen«; gegen die »Kriegerischen«.

 

153.

Der Schauspieler. – Der historische Sinn: davon hat Plato und alle Philosophen seinen Begriff. Es ist eine Art von Schauspieler-Kunst, zeitweilig eine fremde Seele anzunehmen: Folge der großen Rassen- und Völker-Mischungen, vermöge deren in Jedem ein Stück von Allem ist, das war; – ein Künstler-Sinn, auf dem Gebiete der Erkenntniß. Zugleich ein Zeichen von Schwäche und Mangel der Einheit.

Exotismus, Kosmopolitismus u. s. w., Romantik, Der Sinn hat sich verschärft, z. B, ist Walter Scott uns jetzt nicht mehr möglich. Ebensowenig Richard Wagner. Rousseau, George Sand, Michelet, Sainte-Beuve – ihre Art von Schauspielerei. Die Einen vor dem Volke, Andere (wie Voltaire) vor der Gesellschaft.

Ganz andere Schauspieler die Mächtigen, wie Napoleon, Bismarck.

 

154.

Der Natur-Geschmack des vorigen Jahrhunderts erbärmlich. Voltaire: Fernen. Caserta. Rousseau: Clarens!

 

155.

Im 17. Jahrhundert war nichts häßlicher als ein Gebirge; man hatte tausend Gedanken an's Unglück dabei. Man war müde der Barbarei, wie wir heute müde der Civilisation sind. Die Straßen heute so reinlich, die Gensdarmes in Überfluß, die Sitten so friedlich, die Ereignisse so klein, so vorhergesehn, daß man aime la grandeur et l'imprévu. Die Landschaft wechselt wie die Litteratur; damals bot sie lange zuckersüße Romane und galante Abhandlungen: heute bietet sie la poésie violente et des drames physiologistes.

Diese Wildniß, die allgemeine unversöhnliche Herrschaft der nackten Felsen ennemi de la vie – nous délasse de nos trottoirs, de nos bureaux et de nos boutiques. Nur deshalb lieben wir sie.

Unser Zustand: der Wohlstand macht die Sensibilität wachsen; man leidet an den kleinsten Leiden; unser Körper ist besser geschützt, unsre Seele ist kränker. Die Gleichheit, das bequeme Leben, die Freiheit des Denkens, – aber zu gleicher Zeit l'envie haineuse, la fureur de parvenir, l'impatience du présent, le besoin du luxe, l'instabilité des gouvernements, les souffrances du doute et de la recherche – man verliert ebenso viel, als man gewinnt –. Ein Bürger von 1850, verglichen mit dem von 1750, glücklicher? moins opprimé, plus intruit, mieux fourni de bien-être, aber nicht plus gai – – –

 

156.

Es sind uns, wie noch nie irgendwelchen Menschen, Blicke nach allen Seiten vergönnt, überall ist kein Ende abzusehn. Wir haben daher ein Gefühl der ungeheuren Weite, – aber auch der ungeheuren Leere voraus: und die Erfindsamkeit aller höheren Menschen besteht in diesem Jahrhundert darin, über dies furchtbare Gefühl der Öde hinwegzukommen. Der Gegensatz dieses Gefühles ist der Rausch: wo sich gleichsam die ganze Welt in uns gedrängt hat und wir am Glück der Überfülle leiden. So ist denn dies Zeitalter im Erfinden von Rauschmitteln am erfinderischesten. Wir kennen alle den Rausch, als Musik, als blinde, sich selber blendende Schwärmerei und Anbetung vor einzelnen Menschen und Ereignissen; wir kennen den Rausch des Tragischen, das ist die Grausamkeit im Anblick des Zugrundegehens, zumal wenn es das Edelste ist, was zu Grunde geht; wir kennen die bescheidneren Arten des Rausches, die besinnungslose Arbeit, das Sichopfern als Werkzeug einer Wissenschaft oder politischen oder geldmachenden Partei; irgend ein kleiner dummer Fanatismus, irgend ein unvermeidliches Sich-Herumdrehn im kleinsten Kreise hat schon berauschende Kräfte. Es giebt auch eine gewisse excentrisch werdende Bescheidenheit, welche das Gefühl der Leere selber wieder wollüstig empfinden läßt: ja einen Genuß an der ewigen Leere aller Dinge, eine Mystik des Glaubens an das Nichts und ein Sich-opfern für diesen Glauben. Und welche Augen haben wir uns als Erkennende gemacht für alle die kleinen Genüsse der Erkenntniß! Wie verzeichnen wir und führen gleichsam Buch über unsre kleinen Genüsse, wie als ob wir mit dem Summiren des vielen kleinen Genusses ein Gegengewicht gegen jene Leere, eine Füllung jener Leere erlangen könnten –: wie täuschen wir uns mit dieser summirenden Arglist!

 

157.

Ich bin keinem begabten Menschen begegnet, der mir nicht gesagt hätte, er habe das Gefühl der Pflicht verloren oder es nie besessen. Wer jetzt nicht starken Willen hat –

 

158.

Es ist merkwürdig, wie die Stoiker und fast alle Philosophen keinen Blick für die Ferne haben. Und dann wieder die Dummheit der Sozialisten, welche immer nur die Bedürfnisse der Heerde repräsentiren.

 

159.

Das Überhandnehmen der sklavischen Gesinnung in Europa: der große Sklaven-Aufstand; der Sklave im Regiment; das Mißtrauen gegen alle noblesse des Gefühls, Herrschaft der gröbsten Bedürfnisse; die moralische Verlogenheit; das Sklaven-Mißverständniß der Cultur und des Schönen: Mode, Presse, suffrage universel, faits, – er erfindet immer neue Formen des sklavischen Bedürfnisses; der niedere Mensch sich empörend (z. B. Luther gegen die sancti); die Unterwerfung unter die Fakta, als Wissenschaft der Sklaven.

 

160.

Der große Pöbel- und Sklavenaufstand:

die kleinen Leute, welche nicht mehr an die Heiligen und großen Tugendhaften glauben (z. B. Christus, Luther u. s. w.);

die Bürgerlichen, welche nicht mehr an die höhere Art der herrschenden Kaste glauben (deshalb Revolution);

die wissenschaftlichen Handwerker, welche nicht mehr an den Philosophen glauben;

die Weiber, welche nicht mehr an die höhere Art des Mannes glauben.

 

161.

Das gegenwärtige Deutschland, das mit Anspannung aller Kräfte arbeitet und eine Überladung und frühzeitiges Alter zu seinen normalen Folgen zählt, wird sich schon in zwei Generationen abzahlen mit einer tiefen Degenerescenz-Erscheinung. Einstweilen constatiren wir nur die zunehmende Entgeistigung und Verpöbelung des Geschmacks, ein immer vulgäreres Erholungs-Bedürfniß: die späteren Zeiten werden die krankhaften Bedürfnisse im Vordergrunde finden, die Steigerung der Reizmittel, die alkoholischen und Musik-Opiate.

 

162.

Durch Alkohol und Musik bringt man sich auf Stufen der Cultur und Uncultur zurück, welche unsre Voreltern überwunden haben: insofern ist nichts lehrreicher, nichts »wissenschaftlicher«, als sich zu berauschen ... Auch manche Speisen enthalten Offenbarungen über Etwas, woraus wir herkommen. Wie viel Geheimniß steckt zum Beispiel in der Korrelation der deutschen Knödel und des deutschen »kindlichen Gemüthes«! ... Wenn man erstere im Leibe hat, regt sich sofort das letztere: man beginnt zu ahnen! ... Oh wie fern man alsbald vom »Verstand der Verständigen« ist! –

 

163.

Der Nationalismus hat in Frankreich den Charakter, in Deutschland den Geist und Geschmack verdorben: um eine große Niederlage – und zwar eine definitive – zu vertragen, muß man jünger und gesünder sein als der Sieger.

 

164.

Ich las, mit vieler Bosheit der Hintergedanken, was ein deutscher Anarchist unter dem Begriff »freie Gesellschaft« sich denkt.

»Die freie Gesellschaft« – alle Züge als groteske Wort- und Farben-Aufputzung einer kleinen Art von Heerdenthieren.

»Die Gerechtigkeit« und die Moral der gleichen Rechte – die Tartüfferie der moralischen Prädikate.

»Die Presse«, ihre Idealisierung.

»Die Abschaffung des Arbeiters«.

»Es schlägt die vorarische Rasse durch«: und überhaupt die ältesten Arten von Gesellschaft.

Der Niedergang des Weibes.

Die Juden als herrschende Rasse.

Vornehme und gemeine Cultur – wie ich dies Alles gesehn habe, ohne Liebe vielleicht, aber doch ohne Hohn, und was hiernach vielleicht Wunder nimmt – mit der Neugierde eines Kindes, das vor dem buntesten und zierlichsten aller Guckkästen steht.

 

165.

Zu Gunsten der Gegenwart. – Die Gesundheit wird gefördert; asketisch-weltverneinende Denkweisen (mit ihrem Willen zur Krankheit) kaum begriffen. Alles Mögliche gilt und wird gelten gelassen und anerkannt; feuchte milde Luft, in der jede Art Pflanze wächst. Es ist das Paradies für alle kleine üppige Vegetation.

 

166.

Die zahme Barbarei. – Die thatsächliche Barbarei Europa's – und zunehmend:

die Verdummung (»der Engländer« als Normal-Mensch sich anlegend);

die Verhäßlichung (» Japonisme«. – Der revoltirende Plebejer);

die Zunahme der sklavischen Tugenden und ihrer Werthe (»der Chinese«);

die Kunst als neurotischer Zustand bei den Künstlern, Mittel des Wahnsinns: die Lust an dem Thatsächlichen (Verlust des Ideals);

die Deutschen als Nachzügler: in der Politik die Neutralisation des Monarchischen, wie Richelieu; in der Philosophie mit Kant Skepsis (zu Gunsten der Biedermännerei und Beamten-Tugend), mit Hegel Pantheismus zu Gunsten der Staats-Anbetung, mit Schopenhauer Pessimismus zu Gunsten der christlichen Mystik (»Pascalismus«);

die schlechte Ernährung des ganzen europäischen Südens. Englands bessere Gesellschaft ist durch Ernährung voran;

»der gute Mensch« als das Heerdenvieh, aus dem Raubthier umgewandelt;

die historische Krankheit als Mangel der bildenden idealen Kraft, – »Gerechtigkeit« bleibt übrig und »Unschädlichkeit« im äußerlichen Sinne.

Es ist die zahme Barbarei, die heraufzieht! Die Geltung der Dummen, der Frauen u. s. w.

 

167.

Wo ist heute der Tiefstand der europäischen Cultur, ihr Sumpf? – Bei den Antisemiten; bei der Heilsarmee (den Salutisten); bei den Spiritisten; bei den Anarchisten; bei den Engländern, – das heißt bei den fünf Spezialitäten des cant. Sie alle nämlich geben vor, sie alle seien die höheren Menschen ...

 

168.

Daß die Civilisation den physiologischen Niedergang einer Rasse nach sich zieht. – Der Bauer von den großen Städten aufgefressen: eine unnatürliche Überreizung des Kopfes und der Sinne. Die Ansprüche an ihr Nervensystem sind zu groß: Skropheln, Schwindsucht, Nervenkrankheiten, jedes neue Reizmittel steigert nur das rasche Verschwinden der Schwachen: die Epidemien raffen die Schwachen fort ... Die Unproduktiven.

Die Faulheit ist eigen den Nervenschwachen, den Hysterischen, den Melancholikern, den Epileptikern, den Verbrechern.

 

169.

Zeichen der décadence:

Faulheit, Armuth, Verbrechen, Parasitismus, Überarbeitung, Erschöpfung, Stimulanz-Bedürfniß. Das Unvermögen zum Kampf: das ist Degenerescenz. Luxus einer der ersten Instinkte der décadence.

 

170.

Die Frage der décadence: zu begreifen, welche Phänomene zu einander gehören und hier ihren gemeinsamen Herd haben: Anarchismus, Weibs-Emanzipation, Abnahme der Defensiv-Kräfte (Krankheit, Seuchen u. s. w.), Übergewicht des Ressentiments (der Entrüstungs-Pessimismus), das Mitgefühl mit allem Leidenden (Mitleiden), der Mangel an Hemmungs-Apparaten; Laster, Corruption (Kritik der Sinne, der Leidenschaften), die Zunahme der Häßlichkeit (die Schönheit als erarbeitet), die »Toleranz« (die Skepsis, die »Objektivität«), Übergewicht der Schwäche-Gefühle (die Pessimisten, physiologisch décadent ), die auflösenden Instinkte (die liberalen Institutionen), Talent, mehrere Personen darzustellen (Heuchelei, Schauspielerei: die Schwächung der Person), das »Umsonst«, die »Sinnlosigkeit« (der Nihilismus), übermäßige Reizbarkeit, die Hyperirritabilität (»Musik«, der »Artist«, der » romancier«), Bedürfnis nach Reizmitteln ( Luxus als Bedürfnis der Narkotika, der Ausschweifung in Weib und Alkohol, auch Buch), die Tyrannei des Milieu's.

 

171.

Die Lehre vom Milieu eine décadence-Theorie, aber eingedrungen und Herr geworden in der Physiologie.

 

172.

Die Theorie vom Milieu, heute die Pariser Theorie par excellence, ist selbst ein Beweis von einer verhängnißvollen Disgregation der Persönlichkeit. Wenn das Milieu anfängt zu formen und es dem Thatbestand entspricht, die Vordergrunds-Talente als bloße Concrescenzen ihrer Umgebung verstehen zu dürfen, da ist die Zeit vorbei, wo noch gesammelt, gehäuft, geerntet werden kann, – die Zukunft ist vorbei! Der Augenblick frißt auf, was er hervorbringt, – und wehe! er bleibt dabei noch hungrig ...

 

173.

In willensschwächeren und vielfacheren Zeitaltern ist ein hoher Grad von Entartung und Absonderlichkeit nicht sofort gefährlich und bedingt seine Ausmerzung aus dem gesellschaftlichen Körper: andrerseits geht man nicht gleich zu Grunde, weil die mittlere Quantität aller Kräfte selbst in sehr willkürlichen und eigensüchtigen Wesen nach Außen zu die aggressive und herrschsüchtige Tendenz verhindert.

Die Gefahr solcher Zeitalter sind die concentrirten Willensmächtigen; während in starken Zeitaltern die Gefahr in den Unsicheren liegt.

 

174.

Warum die Schwäche nicht bekämpft, sondern nur »gerechtfertigt« wird. –

Die Abnahme des Heilkraft-Instinktes bei den Geschwächten: sodaß sie als remedium begehren, was ihren Untergang beschleunigt. Z. B. die meisten Vegetarier hätten eine corroborirende Kost nöthig, um der erschlafften Faser wieder Energie zu geben: aber sie halten ihr penchant zum Milden und Sanften für einen Wink der Natur: – und schwächen sich noch ύπέρ μόρον.

 

175.

Die décadence-Moralen haben Das eigentümlich, daß sie eine Praxis, ein Régime empfehlen, welches die décadence beschleunigt, – sowohl physiologisch, als psychologisch: der Instinkt der Reparation und Plastik fungiert nicht mehr.

Die Energie der Gesundheit verräth sich bei Kranken in dem brüsken Widerstande gegen die krankmachenden Elemente, – einer Reaktion des Instinkts, z. B. gegen Musik bei mir –.

 

176.

Furcht vor dem Tode als europäische Krankheit.

Furcht leicht anzuzüchten, sogar den dummen Fischen. Heerdenthiere hauptsächlich furchtsam, fein im Hören von Noth-Signalen.

Moral-Urtheile (Furcht und Abneigung) sehr verschieden früh eingetrichtert. Die Art, gegen andre Urtheile einzunehmen, allen Lehrern der Tugend gemeinsam.

 

177.

Die Consequenzen absterbender Rassen verschieden, z. B. pessimistische Philosophie, Willens-Schwäche; – wollüstige Ausbeutung des Augenblicks, mit hysterischen Krämpfen und Neigung zum Furchtbaren. Zeichen des Alters kann auch Klugheit und Geiz sein (China), Kälte.

Europa unter dem Eindruck einer sklavenhaft gewöhnten furchtsamen Denkweise: eine niedrigere Art wird siegreich, – seltsames Widerstreiten zweier Prinzipien der Moral.

 

178.

Das zwanzigste Jahrhundert hat zwei Gesichter: eines des Verfalls. Alle die Gründe, wodurch von nun an mächtigere und umfänglichere Seelen, als es je gegeben hat (vorurtheilslosere, unmoralischere) entstehen könnten, wirken bei den schwächeren Naturen auf den Verfall hin. Es entsteht vielleicht eine Art von europäischem Chinesenthum, mit einem sanften, buddhistisch-christlichen Glauben, und in der Praxis klug-epikureisch, wie es der Chinese ist, – reduzirte Menschen.

 

179.

Ein Christenthum, das vor Allem kranke Nerven beruhigen soll, hat die furchtbare Lösung eines »Gottes am Kreuze« überhaupt nicht nöthig: – weshalb im Stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht.

 

180.

Zum Zugrunderichten, zum Verzögern und Vertiefen von Völkern und Rassen kann eine pessimistische Denkweise, eine Religion der Verneinung und Weltflucht, eine ekstatische Entsinnlichung und Verhäßlichung des Lebens, unentbehrlich sein.

 

181.

Das Dasein als Strafe und Buße! »Der Mythus vom Sündenfall ist es allein, was mich mit dem alten Testament aussöhnt«! Schopenhauer (Par. II, p. 323).

 

182.

Der Pessimismus als Instinkt und der Wille zum Pessimismus: Hauptcontrast.

Der Pessimist des Intellekts,

Der Pessimist der Sensibilität, jener dem Unlogischen, dieser dem Schmerzhaften nachspürend.

Alle diese Maßstäbe sind es nur aus moralischen Gründen: oder, wie bei Plato, auch die ήδονή, als Werth-Umwertherin und Verführerin gefürchtet.

Causalität: »Warum bin ich so und so?« Der unsinnige Gedanke, für sein Dasein, auch für sein So- und So-sein selbst freiwählend sich zu denken! ... Hintergrund: die Forderung »es müßte ein Wesen geben, welches ein sich selbst verachtendes Geschöpf, wie ich es bin, am Entstehen verhindert hätte«. Sich als Gegenargument gegen Gott fühlen –.

 

183.

Ohne die Wiedergeburt sind alle menschlichen Tugenden, nach Kant, glänzende Armseligkeiten. Diese Besserung ist möglich nur vermöge des intelligiblen Charakters; ohne ihn giebt es keine Freiheit, weder in der Welt noch im Willen des Menschen, noch zur Erlösung vom Bösen. Wenn die Erlösung nicht in der Besserung besteht, kann sie nur in der Vernichtung bestehn. Der Ursprung des empirischen Charakters, der Hang zum Bösen, die Wiedergeburt sind bei Kant Thaten des intelligiblen Charakters; der empirische Charakter muß an seiner Wurzel eine Umkehr erfahren. –

Der ganze Schopenhauer!!

 

184.

Den vollkommenen Pessimismus imaginiren (Schopenhauer hat ihn verdorben! – Begehren absolut unentrinnbar, aber zugleich als dumm begriffen und geschätzt, d. h. ein zweites Gegen-Begehren!): – Unerkennbarkeit – inwiefern betrübend? (nur für eine dogmatisch geübte Menschheit!): – der Gedanke des Todes, »Todesfurcht« angezüchtet, »europäische Krankheit« (mittelalterliche Todes-Sucht): – die Nutzlosigkeit alles Ringens – betrübend unter Voraussetzung moralischer Grundurtheile, d. h. wenn Etwas festgehalten wird als Maßstab (– es könnte auch Anlaß zum Lachen sein!).

Der vollkommene Pessimismus wäre der, welcher die Lüge begreift, aber zugleich unfähig ist, sein Ideal abzuwerfen: Kluft zwischen Wollen und Erkennen. Absoluter Widerspruch: der Mensch ein Dividuum zweier feindseligen Mächte, die zu einander Nein sagen.

Es gehört also zum Pessimismus, daß er an gebrochenen, zweitheiligen Wesen hervortritt – er ist ein Zeichen des Verfalls – als Zeit-Krankheit. Das Ideal wirkt nicht belebend, sondern hemmend.

 

185.

Man hat mit einem willkürlichen und in jedem Betracht zufälligen Wort, dem Worte » Pessimismus«, einen Mißbrauch getrieben, der wie ein Contagium um sich greift: man hat das Problem dabei übersehn, in dem wir leben, das wir sind –. Es handelt sich nicht darum, wer Recht hat, – es fragt sich, wohin wir gehören, ob zu den Verurteilten, den Niedergangs-Gebilden ... In diesem Fall urtheilen wir nihilistisch.

Man hat zwei Denkweisen gegen einander gestellt, wie als ob sie miteinander über die Wahrheit zu streiten hätten: während sie beide nur Symptome von Zuständen sind, während ihr Kampf das Vorhandensein eines cardinalen Lebens-Problems – und nicht eines Philosophen-Problems – beweist. Wohin gehören wir? –

 

186.

Es handelt sich ganz und gar nicht um die beste oder die schlechteste Welt: – Nein oder Ja, das ist die Frage. Der nihilistische Instinkt sagt Nein; seine mildeste Behauptung ist, daß Nicht-sein besser ist als Sein: daß der Wille zum Nichts mehr Werth habe, als der Wille zum Leben: daß, wenn das Nichts die oberste Wünschbarkeit ist, dieses Leben, als Gegensatz dazu, absolut werthlos ist.

Von solchen Wertschätzungen inspirirt, wird ein Denker unwillkürlich suchen, alle die Dinge, denen er instinktiv noch Werth beimißt, zur Rechtfertigung einer nihilistischen Tendenz heranzuziehn. Das ist die große Falschmünzerei Schopenhauers, der zu vielen Dingen mit tiefem Interesse gestellt war, dem aber der Geist des Nihilismus verbot, dies zum Willen zum Leben zu rechnen; und so sehen wir denn eine Reihe seiner und beherzter Versuche, die Kunst, die Weisheit, die Schönheit in der Natur, die Religion, die Moral, das Genie, wegen ihrer scheinbaren Lebensfeindlichkeit, als Verlangen in's Nichts zu Ehren zu bringen.

 

187.

Ich will einmal zeigen, wie Schopenhauer's Mißverständniß des Willens ein »Zeichen der Zeit« ist – es ist die Reaktion gegen die Napoleonische Zeit, man glaubt nicht mehr an Heroen, d. h. Willensstärke. (In »Stello« steht das Bekenntniß: »es giebt keine Heroen und Monstra«, – antinapoleonisch.)

 

188.

Hedonismus = Lust als Prinzip. Lust als Maßstab, thatsächlich gefunden bei den Utilitariern ( comfort – Engländer). Lust als regulatives Prinzip, thatsächlich nicht gefunden bei den Schopenhauerianern. Hartmann ein oberflächlicher Querkopf, der den Pessimismus durch Teleologie vermanscht und eine Behaglichkeits-Philosophie daraus machen will (nähert sich darin den Engländern an).

Das, was auf den Pessimismus folgt, ist die Lehre von der Sinnlosigkeit des Daseins; daß Lust und Schmerz keinen Sinn haben, daß ήδονή kein Prinzip sein kann. Dies im nächsten Jahrhundert –, Lehre der großen Müdigkeit. »Wozu? Es lohnt sich Nichts!«

 

189.

Kant: Wenn sich die Menschheit zunehmend verschlechtert, so ist ihr Ziel das absolut Schlechte: die terroristische Vorstellungsart im Gegensatz zu der eudämonistischen Vorstellungsart oder dem »Chiliasmus«. Schwankt die Geschichte zwischen Fort- und Rückschritt hin und her, ist ihr ganzes Treiben zweck- und ziellos, Nichts als eine geschäftige Thorheit, sodaß sich Gutes und Böses gegenseitig neutralisiren und das Ganze als ein Possenspiel erscheint: das nennt Kant die abderitische Vorstellungsart.

(– Er sieht in der Geschichte nichts Anderes als eine moralische Bewegung!)

 

190.

Die Mächte in der Geschichte sind wohl zu erkennen, bei Abstreifung aller moralischen und religiösen Teleologie. Es müssen die Mächte sein, die auch im ganzen Phänomen des organischen Daseins wirken. Die deutlichsten Aussagen im Pflanzenreich.

Die großen Siege über das Thier: das Thier als Sklave, oder als Feind.

Der Sieg des Mannes über das Weib.

(Siege neben den großen Schwankungen, z. B. zwischen Gesunden und Kranken.)

Wohinein die Würde des Menschen gesetzt worden ist:

über das Thier im Menschen Herr geworden zu sein,     griechisches Ideal.
über das Weib im Menschen Herr geworden zu sein

Dagegen die christliche Würde:

über den Stolz im Menschen Herr geworden zu sein; u. s. w.

 

191.

Die Weiter-Entwicklung der Menschheit nach Baudelaire's Vorstellung: – Nicht daß wir dem wilden Zustande uns wieder näherten, etwa nach Art des désordre bouffon südamerikanischer Republiken, wo man, das Gewehr in der Hand, seine Nahrung sucht, zwischen den Trümmern unsrer Civilisation. Das würde noch eine gewisse vitale Energie voraussetzen. Die Mechanik wird uns derart amerikanisirt, der Fortschritt wird die spiritualistisch Starken dermaßen unter uns atrophiirt haben, daß alles Verrückte, was geträumt worden ist von Sozialisten, hinter der positiven Wirklichkeit zurückbleibt. Keine Religion, kein Eigenthum: selbst keine Revolution mehr. Nicht in politischen Institutionen wird sich der allgemeine Ruin zeigen ( ou le progrès universel: es liegt wenig an Namen). Habe ich nöthig zu sagen, daß das Wenige von Politik, das übrig bleibt, se débattra péniblemente dans les étreintes de l'animalité générale, und daß die politischen Gouvernements gezwungen sein werden, um sich aufrecht zu erhalten, ein Phantom von Ordnung zu schaffen, zu Mitteln ihre Zuflucht zu nehmen, qui feraient frissonner notre humanité actuelle, pourtant si endurcie (haarsträubend!) Dann wird der Sohn die Familie fliehen, mit zwölf Jahren, émancipé par sa précocité gloutonne, um sich zu bereichern, um seinem infamen Vater Conkurrenz zu machen, fondateur et actionnaire d'un journal, das Licht verbreitet u. s. w. – Dann werden selbst die Prostituirten von unbarmherziger Weisheit sein, qui condamne tout, fors l'argent, tout, même les erreurs des sens! Dann wird Alles, was uns Tugend heißt, als etwas ungeheuer Lächerliches angesehen werden, – Alles, was nicht ardeur vers Plutus ist. Die Gerechtigkeit wird Bürger verbieten, welche nicht ihr Glück zu machen wissen u. s. w. – avilissement –.

Was mich betrifft, der ich bisweilen das Lächerliche eines Propheten in mir fühle, ich weiß, daß ich niemals la charité d'un médecin darin finden werde. Verloren in dieser erbärmlichen Welt, coudoyé par les foules, bin ich wie ein müder Mensch, der rückwärts blickend Nichts sieht, als désabusement et amertume in langen, tiefen Jahren, und vor sich einen Sturm, in dem es nichts Neues giebt, weder Lust noch Schmerz. Le soir, où cet homme a volé à la destinée quelques heures de plaisir, bercé dans sa digestion, oublieux autant que possible du passé, content du présent et résigné à l'avenir, enivré de son sang-froid et de son dandysme, fier de n'être pas aussi bas que ceux qui passent, il se dit, en contemplant la fumée de son cigare: »Que m'importe, où vont ces consciences?« –

 

192.

Unsre europäische Cultur – worauf sie drängt, im Gegensatz zur buddhistischen Lösung in Asien? –

 

193.

Gienge es nach meinem Willen, so wäre es an der Zeit, der europäischen Moral den Krieg zu erklären, und ebenso Allem, was auf ihr gewachsen ist: man müßte diese zeitweilige Völker- und Staaten-Ordnung Europa's zertrümmern. Die christlich-demokratische Denkweise begünstigt das Heerden-Thier, die Verkleinerung des Menschen, sie schwächt die großen Triebfedern (das Böse –), sie haßt den Zwang, die harte Zucht, die großen Verantwortlichkeiten, die großen Wagnisse. Die Mittelmäßigsten tragen den Preis davon und setzen ihre Werthmaße durch.

 

194.

Prinzip: 1) Eine Gattung von Wesen zu schaffen, die den Priester, Lehrer und Arzt ersetzen. (Die Eroberung der Menschheit.)

2) Eine Geistes- und Leibes-Aristokratie, die sich züchtet, immer neue Elemente in sich hinein nimmt und gegen die demokratische Welt der Mißrathenen und Halbgerathenen sich abhebt. (» Die Herren der Erde«.)

 

195.

Die synthetischen Menschen können nicht aus der »Ameise« wachsen.

 

196.

Die Aufgabe ist, eine herrschende Kaste zu bilden, mit den umfänglichsten Seelen, fähig für die verschiedensten Aufgaben der Erdregierung. Alle bisherigen Einzel-Fähigkeiten in Eine Natur zu centralisiren.

Stellung der Juden dazu: große Vorübung in der Anpassung. Sie sind einstweilen die größten Schauspieler darum; auch als Dichter und Künstler die glänzendsten Nachmacher und Nachfühler. Was ihnen andererseits fehlt. Wenn erst das Christenthum vernichtet ist, wird man den Juden gerechter werden: selbst als Urhebern des Christenthums und des höchsten bisherigen Moral-Pathos.

 

197.

Anti-Antisemitisches. – Die Juden sind in unbedingtem Sinne gescheut: einem Juden zu begegnen ist eine Wohlthat, gesetzt daß man unter Deutschen lebt. Ihre Gescheutheit hindert sie, auf unsre Weise närrisch zu werden, z. B. national. Sie sind selbst ein Antidoton gegen diese letzte Krankheit der europäischen Vernunft. Sie sind ehemals zu gut geimpft – ein wenig blutig selbst –, um der rabies nationalis zu verfallen.

Sie sind im unsicheren Europa vielleicht die stärkste Rasse: sie sind dem ganzen Westen Europa's überlegen durch die Länge ihrer Entwicklung. Ihre Organisation setzt ein reicheres Werden, eine größere Zahl von Stufen voraus, als unsre übrigen Völker aufweisen. Aber das ist beinahe eine Formel für Vollkommenheit ...

Eine Rasse, wie irgend ein organisches Gebilde, kann nur wachsen oder zu Grunde gehn: es giebt keinen Stillstand. Eine Rasse, die nicht zu Grunde gegangen, ist eine Rasse, die immerfort gewachsen ist. Vielleicht gilt auch hier, daß Wachsen soviel wie Vollkommner-werden heißt. Die Dauer ihres Daseins entschiede dann über die Höhe ihrer Entwicklung: die älteste müßte die höchste sein.

Die Juden aber haben im modernen Europa an die supremste Form der Geistigkeit gestreift: diese ist die geniale Buffonerie. Mit Offenbach, mit Heinrich Heine ist die Potenz der europäischen Cultur wirklich überboten: in dieser Weise steht es den andern Rassen noch nicht frei, Geist zu haben ... Die älteste und späteste Cultur Europa's hat Paris: aber die verwöhntesten Pariser, solche wie die frères de Goncourt, haben Heinrich Heine die Ehre gegeben, zusammen mit dem Abbé Galiani und dem Fürsten von Ligne die sublimste Form des esprit Parisien darzustellen (– drei Ausländer! merkwürdig!).

 

198.

Man lobt unter den Gebildeten von Heute (welche Alle, proh pudor! Zeitungen lesen) die tiefen Menschen. Aber was dürften Die, welche tiefe Menschen loben, selber von der Tiefe wissen! – Es sind gefährliche Menschen: daran ist gar nicht zu zweifeln. Man pflegt doch sonst die Abgründe nicht zu loben!

 

199.

In diesem Jahrhundert der oberflächlichen und geschwinden Eindrücke ist das gefährlichste Buch nicht gefährlich: es sucht sich die fünf, sechs Geister, die tief genug sind. Im Übrigen – was schadet es, wenn es diese Zeit zerstören hilft!

 

200.

» Magna ingenia conspirant

 

201.

Ein Mensch, dem fast alle Bücher oberflächlich geworden sind, der vor wenigen Menschen der Vergangenheit noch den Glauben übrig hat, daß sie Tiefe genug besessen haben, um – nicht zu schreiben, was sie wußten.

 

202.

La vie est une tragédie pour ceux qui sentent, et une comédie pour ceux qui pensent. (Horace Walpole.)

 

203.

»Wer mit vierzig Jahren nicht Misanthrop ist, der hat die Menschen nie geliebt« pflegte Chamfort zu sagen.

 

204.

» Solitudo continuata dulcescit.« (Madonna del Sasso, Locarno.)

 

205.

Von der Habgier des Geistes: wo, wie beim Geize, das Mittel Zweck wird. Die Unersättlichkeit.

Man liebt heute alles fatalistische Ungeheure: so auch den Geist.

 

206.

Den größten Ekel haben mir bisher die Schmarotzer des Geistes gemacht: man findet sie, in unserem ungesunden Europa, überall sitzen, und zwar mit dem besten Gewissen von der Welt. Vielleicht ein wenig trübe, ein wenig air pessimiste, in der Hauptsache aber gefräßig, schmutzig, beschmutzend, sich einschleichend, einschmiegend, diebisch, krätzig – und unschuldig wie alle kleinen Sünder und Mikroben. Sie leben davon, daß andere Leute Geist haben und mit vollen Händen ausgeben: sie wissen, wie es selbst zum Wesen des reichen Geistes gehört, unbekümmert, ohne kleinliche Vorsicht, auf den Tag hin und selbst verschwenderisch sich auszugeben, – denn der Geist ist ein schlechter Haushalter und hat kein Augenmerk darauf, wie Alles von ihm lebt und zehrt.

 

207.

Ein Garten, an dem selbst das Gitterwerk vergoldet ist, hat sich nicht nur gegen Diebe und Strolche zu schützen: seine schlimmsten Gefahren kommen ihm von seinen zudringlichen Bewunderern, die überall Etwas abbrechen und gar zu gern Dies und Jenes zum Andenken mitnehmen möchten. – Und merkt ihr es denn nicht, ihr Müßiggänger in unseren Gärten, daß ihr euch nicht einmal neben unsern Kräutern und Unkräutern rechtfertigen könnt, daß sie euch in's Gesicht sagen: fort, ihr Eindringlinge, ihr Unzugehörigen!

 

208.

Wer in unsrer Zeit jung war, der hat zu Viel erlebt: vorausgesetzt, daß er zu den Wenigen gehört, die noch tief genug sind zu »Erlebnissen«. Den Allermeisten nämlich fehlt jetzt diese Tiefe und gleichsam der rechte Magen: sie kennen daher auch die Noth jenes rechten Magens nicht, welcher mit jedem Erlebniß »fertig werden« muß; die größten Neuigkeiten fallen durch sie hindurch. Wir Andern haben zu schwere, zu mannigfache, zu überwürzte Kost hinunterschlucken müssen, als wir jung waren: und wenn wir schon den Genuß an seltsamen und unerhörten Speisen voraus haben vor den Menschen einfacherer Zeiten, so kennen wir das eigentliche Verdauen, das Erleben, Hineinnehmen, Einverleiben fast nur als Qual.


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