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Der Fall Wagner.

Der »Fall Wagner« ist eigentlich als Teilstück von Nietzsches geplantem Hauptwerk »Der Wille zur Macht« anzusehen. Es gibt zahlreiche Niederschriften über Wagner aus der Zeit, da Nietzsche das Material zu dem genannten Werk aufzeichnete. Sie sind im vorliegenden Band der Schrift vorangestellt worden. Diese ersten Niederschriften und der »Fall Wagner« selbst würden aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Hauptwerk in dem Kapitel »Modernität« ihren Platz gefunden haben. Was Nietzsche veranlaßt hat, das Material über Wagner herauszunehmen und als Sonderschrift zu veröffentlichen, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Nach dem Entwurf zu einem Brief an einen Unbekannten scheint es so, daß den unmittelbaren Anlaß die Nachricht gegeben hat, Hans von Bülow wolle eine Schrift über Wagner und Bayreuth veröffentlichen.

Der »Fall Wagner« ist im Mai 1888 in Turin entworfen worden. Nietzsche bringt den Ort der Entstehung mehrfach nachdrücklich in Zusammenhang mit dem Charakter der Schrift: »Das ›Pamphlet‹ gegen Wagner (auf das ich, – unter uns, – stolz bin) gehört in allem Wesentlichen nach Turin und war eigentlich die rechte und allerbeste Erholung, die Jemand sich mitten in schweren Dingen machen konnte« (an Frl. von Salis-Marschlins, Neue Rundschau 1907, Bd. II, S. 1368). Turin war der Ort, den Nietzsche in der letzten Zeit seines Schaffens besonders liebte, mehr noch als Sils-Maria. Hier fühlte er sich so leicht, frei, übermütig, glücklich wie sonst nirgends. Von dieser Stimmung des Ortes, meint er, sei auch etwas in die Schrift hineingeflossen. »In Turin ist, mit spielender Leichtigkeit, ein entscheidendes Stück Musiker-Psychologie zustande gekommen« (Br. V, 794). »Hiermit mache ich mir ein Vergnügen [–] durch Übersendung einer kleinen boshaften aber trotzdem sehr ernst gemeinten Schrift, die noch in den guten Tagen von Turin entstanden ist« (Br. III, 312). Er freut sich des »leichten, ironischen«, ausgelassenen Tones. »Dies schließt nicht aus, daß ich ein paar Heiterkeiten verbrochen habe. Die eine, welche sich alsbald die Freiheit nehmen wird, mit einigem Mutwillen über Deine Schwelle zu springen, heißt › Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem‹. (– böse Zungen lesen: Der Fall Wagner's)« (Br. I. 533). »Es ist etwas Lustiges, mit einem fond von fast zu viel Ernst« (Br. IV, 392). Er nennt den »Fall Wagner« eine »übermütige Farce« (an C. G. Naumann, Neue Rundschau 1907, Bd. II, S. 1371). Vielfach kehrt in den Briefen wieder, daß die Schrift eigentlich französisch geschrieben sein müßte, daß es jedenfalls leicht wäre, sie ins Französische zu übersetzen, »ebenso leicht, als schwer, fast unmöglich, sie in's Deutsche zu übersetzen« (Br. I, 535 f.). Die Abfassung des Buches war ihm so leicht von der Hand gegangen, daß sie ihm als wirkliche Erholung inmitten schwerer Aufgaben vorkam. »Zuletzt sind diese beiden Schriften [Fall Wagner und Götzendämmerung] nur wirkliche Erholungen inmitten einer unermeßlich schweren und entscheidenden Aufgabe, welche, wenn sie verstanden wird, die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet« (Br. I, 536). Die Schrift gegen Wagner war »inmitten der ungeheuren Spannung, in der ich lebe, eine wahre Wohltat für mich – als ein honnettes Duell eines Psychologen mit einem frommen Verführer, den Niemand leicht als solchen erkennt« (Br. V, 806). »Sie werden sehn, daß ich bei diesem Duell meine gute Laune nicht eingebüßt habe. Aufrichtig gesagt, einen Wagner abtun gehört, inmitten der über alle Maßen schweren Aufgabe meines Lebens, zu den wirklichen Erholungen« (Br. III, 639).

Das Druckmanuskript wurde bis Ende Juni in Sils-Maria beendet. Dann aber verfaßte Nietzsche bis Ende August noch zwei »Nachschriften« und einen »Epilog«. Auf diese Nachträge legte er besonderen Wert: »Es gibt noch Nachschriften [–]. Sehr gepfeffert und gesalzen; in der zweiten Nachschrift fasse ich das Problem in erweiterter Form an den Hörnern (– ich werde nicht leicht Gelegenheit haben, von diesen Dingen wieder zu reden; die einmal gewählte Form erlaubt mir viele ›Freiheiten‹ –).« (Br. IV, 394). »Das Stärkste steht eigentlich in den ›Nachschriften‹; in Einem Punkte bin ich sogar zweifelhaft, ob ich nicht zu weit gegangen (– nicht in den Sachen, sondern in dem Aussprechen von Sachen). [–] Im Schluß des Ganzen bin ich auf den Gesichtspunkt des ›Vorworts‹ zurückgekommen: zugleich um der Schrift den Charakter des Zufälligen zu nehmen – um ihren Zusammenhang mit meiner ganzen Aufgabe und Absicht herauszuheben« (Br. IV, 396). »Ich war beim Durchlesen äußerst erbaut, den ›Epilog‹ hinzugeschrieben zu haben: das Niveau der Schrift erhebt sich damit ungeheuer, – sie erscheint nicht mehr als Einzelheit, als Curiosum inmitten meiner Aufgabe« (Br. IV, 403).

Neben dem Gefühl übermütiger Kämpferlust tritt in den Briefen das von der Bedeutung der Frage und von der eigenen Berechtigung, hier entscheidend einzugreifen, scharf hervor: »Wagner ist und bleibt ein capitales Faktum in der Geschichte des europäischen Geistes und der ›modernen Seele‹: wie Heinrich Heine ein solches Faktum war. Wagner und Heine sind unsre letzten Großen, mit denen Deutschland Europa beschenkt hat« (Br. V, 798). »Vielleicht habe ich ein Recht, von diesem ›Fall Wagner‹ einmal deutlich zu reden, – vielleicht selbst eine Pflicht. Die Bewegung ist jetzt in höchster Glorie« (Br. III, 193). »Jetzt hat die Wagnerei ihre Zeit gehabt, sie wirkt verderblich. Das sollte sich ihre Gefolgschaft sagen. Sie sagt es sich aber nicht! Im Gegenteil, sie wird immer fanatischer, verworrener, christlicher und verdüsterter – wie das gesamte Europa. Die Wagnerei ist nur ein Einzelfall. – Wie hat sich Alles gegen die Jahre 1869-72 verändert! Damals war ich Wagnerianer wegen des guten Stücks Antichrist, das Wagner mit seiner Kunst und Art vertrat. Ich bin der Enttäuschteste aller Wagnerianer, denn in dem Augenblick, wo es anständiger als je war Heide zu sein, wurde Wagner Christ. Wir Deutschen, gesetzt, daß wir es je mit ernsten Dingen ernst genommen haben, sind allesamt Spötter und Atheisten! Wagner war es auch! –« (Br. V, 777). »Diese Schrift, eine Kriegserklärung in aestheticis, wie sie radikaler gar nicht gedacht werden kann, scheint eine bedeutende Bewegung zu machen« (Br. III, 639). »Eine kleine ästhetische Streitschrift, in der ich, zum ersten Male und auf die unbedingteste Weise, das psychologische Problem Wagner an's Licht stelle. Es ist eine Kriegserklärung ohne pardon an diese ganze Bewegung: zuletzt bin ich der Einzige, der Umfang und Tiefe genug hat, um hier nicht unsicher zu sein« (Br. I, 535). »Ich rede in dieser Schrift von einer Sache, worin ich nicht nur Autorität, sondern die einzige Autorität bin, die es heute gibt« (Br. I, 516). »Zuletzt bin ich in diesem Falle Kenner in rebus et personis – und, glücklicherweise, bis zu dem Grade Musiker von Instinkt, daß mir über die hier vorliegende letzte Wertfrage von der Musik aus das Problem zugänglich, löslich erscheint« (Br. III, 313). »Ich bin in dieser Frage die einzige Autorität und überdies Psychologe und Musiker genug, um auch in allem Technischen mir nichts vormachen zu lassen« (Br. III, 640).

Aber auch noch andere Stimmungen als die zuversichtlicher Kampfeslust zeigten sich zwischendurch. Nietzsche sagt, daß er »nichts in der Welt so wie Wagner und seine Musik geliebt und bewundert« habe (Br. V, 777). Jetzt mußte er öffentlich gegen ihn auftreten. Während er das Schwert schwang, blutete sein Herz. »Es gibt Stunden, besonders Abends, wo mir der Mut zu so viel Tollheit und Härte fehlt. In summa: es erzieht mich zu einer noch größeren Einsamkeit – und bereitet mich vor, noch ganz andere Dinge zu verlautbaren als meine Bosheiten über einen solchen ›Privat-Fall‹« (Br. IV, 395 f.). Er empfindet den »Fall Wagner« als eine »sehr riskierte Schrift« (Ebenda). »Es kommt nächstens von mir ein kleines Pamphlet in die Wochen, das vollgestopft von musikalischen Glaubensbekenntnissen ist, – freilich in der riskiertesten Form!! –« (Br. I, 511). Daß Nietzsche trotzdem vor der Tat der Veröffentlichung nicht zurückscheute, daß er die Sache, die Überzeugung über seine Person, sein Herz triumphieren ließ, muß ihm selbst bei denen Sympathie einbringen, die in der Beurteilung von Richard Wagner nicht mit ihm gehen können.

Die Abhandlung erschien um Mitte September 1888 bei C. G. Naumann in Leipzig unter dem Titel: »Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.«


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