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Einleitung zu Ecce homo.

In einem Brief Nietzsches an seine Schwester von Ende Oktober 1888 heißt es: »Ich schreibe in diesem goldnen Herbst, dem schönsten, den ich je erlebt habe, einen Rückblick auf mein Leben, nur für mich selbst. Niemand soll es lesen mit Ausnahme eines gewissen guten Lama's, wenn es über's Meer kommt, den Bruder zu besuchen. Es ist nichts für deutsches Hornvieh, dessen Cultur im lieben Vaterland so erstaunlich zunimmt. Ich will das Manuskript vergraben und verstecken, es mag verschimmeln, und wenn wir allesamt schimmeln, mag es seine Auferstehung feiern. Vielleicht sind dann die Deutschen des großen Geschenks, das ich ihnen zu machen gedenke, würdiger« (Br. V, 802). Das ist das erste Zeugnis, das wir von Nietzsche über die Abfassung seiner Lebensbeschreibung besitzen. Genaueres über die Entstehungszeit erfahren wir aus Briefen an Peter Gast. Am 30. Oktober schreibt Nietzsche: »An meinem Geburtstag [15. Oktober] habe ich wieder Etwas angefangen, das zu geraten scheint und bereits bedeutend avanciert ist. Es heißt › Ecce homo. Oder Wie man wird, was man ist‹« (Br. IV, 414). Und am 13. November: »Mein › Ecce homo. Wie man wird, was man ist‹ sprang innerhalb des 15. Oktobers, meines allergnädigsten Geburtstags und -Herrn, und dem 4. November mit einer antiken Selbstherrlichkeit und guten Laune hervor, daß es mir zu wohlgeraten scheint, um einen Spaß dazu machen zu dürfen« (Br. IV, 416).

Was hat Nietzsche mit dieser seiner Lebensbeschreibung bezweckt? Seine brieflichen Äußerungen geben Aufschluß darüber: Ecce homo »handelt mit einer großen Verwegenheit von mir und meinen Schriften: ich habe nicht nur damit mich vorstellen wollen vor dem ganz unheimlich solitären Akt der Umwertung, – ich möchte gern einmal eine Probe machen, was ich bei den deutschen Begriffen von Preßfreiheit eigentlich riskieren kann. Mein Argwohn ist, daß man das erste Buch der Umwertung auf der Stelle konfisziert, – legal mit allerbestem Recht. Mit diesem › Ecce homo‹ möchte ich die Frage zu einem derartigen Ernste, auch Neugierde steigern, daß die landläufigen und im Grunde vernünftigen Begriffe über das Erlaubte hier einmal einen Ausnahmefall zuließen. Übrigens rede ich von mir selber mit aller möglichen psychologischen ›Schläue‹ und Heiterkeit, – ich möchte durchaus nicht als Prophet, Untier und Moral-Scheusal vor die Menschen hintreten. Auch in diesem Sinne könnte dies Buch gut tun: es verhütet vielleicht, daß ich mit meinem Gegensatz verwechselt werde« (Br. IV, 414 f.). Nietzsche hatte also die Absicht, durch eine Art gewaltsamen Akt, durch ein Stück Litteratur, das auffallen, wenn nicht gar Anstoß erregen mußte, mit aller Macht auf sich aufmerksam zu machen, das »absurde Stillschweigen« über ihn zu brechen. Das scheint im Widerspruch zu stehen mit der Äußerung an die Schwester, daß er Ecce homo nur für sich geschrieben habe und es vergraben wolle (auch ein Titelblatt zu Ecce homo trägt die Aufschrift von Nietzsches Hand »Für meine Freunde«). Aber der Widerspruch laßt sich leicht lösen durch die Erwägung, daß bei der Abfassung von Ecce homo zwei Motive nebeneinander hergingen: am 15. Oktober, seinem Geburtstag, beginnt er das Werk, d. h. bei einem äußeren Lebensabschnitt überkam ihn wieder einmal die von Jugend auf gepflegte Liebhaberei, sich durch Selbstprüfung des eigenen Wollens und Könnens bewußt zu werden; die Veröffentlichung schien ihm zunächst zwecklos, weil er es für selbstverständlich hielt, daß auch diese Schrift bei den Zeitgenossen, zumal im deutschen Vaterland, argem Unverständnis begegnen würde; dann aber kam während der Ausarbeitung der Gedanke hinzu, daß die merkwürdige Form die Schrift vielleicht besonders geeignet mache, auf das große Werk der Umwertung vorzubereiten. Und dieser zweite Gesichtspunkt trat von nun an allein in den Vordergrund. Ecce homo wird als »feuerspeiende Vorrede« zur Umwertung bezeichnet (an Gast 13. November 1888. Br. IV, 417); in den Verhandlungen mit dem Verleger über den Zeitpunkt der Veröffentlichung spielt die vorbereitende Wirkung von Ecce homo eine Hauptrolle: »Ich glaube, das [ Ecce homo] wird gehört werden, vielleicht zu sehr ... Und dann wäre Alles in Ordnung« (6. November 1888, Neue Rundschau 1907, Bd. II, S. 1379). »Sobald Ecce homo gewirkt hat – es wird ein Erstaunen ohne Gleichen hervorrufen« (25. November). »Sobald › Ecce homo‹ heraus ist, bin ich der erste Mensch, der jetzt lebt« (26. November). »Für die Umwertung aller Werte habe ich noch gar keinen Termin. Der Erfolg von Ecce homo muß hier erst vorangegangen sein« (27. Dezember). Angesichts dieser Hoffnung, daß Ecce homo auf die Umwertung vorbereiten könne, trat das Interesse für die Frage der Preßfreiheit zurück: »Die Frage der ›Preßfreiheit‹ ist, wie ich jetzt mit aller Schärfe empfinde, eine bei meinem › Ecce homo‹ gar nicht aufzuwerfende Frage. Ich habe mich dergestalt jenseits gestellt – nicht über das, was heute gilt und obenauf ist, sondern über die Menschheit –, daß die Anwendung eines Codex eine Komödie sein würde« (an Gast 26. November, Br. IV, 421).

Was sah nun Nietzsche in Ecce homo? Wie empfand er es? Am 14. November schreibt er an Fräulein von Salis-Marschlins: »Inzwischen hat sich ein sehr unglaubliches Stück Litteratur, das den Titel führt: › Ecce homo. Wie man wird, was man ist‹ auch schon wieder mit Flügeln begabt und flatterte, wenn mich nicht Alles täuscht, in der Richtung von Leipzig ... dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce; der Versuch, über mich ein wenig Licht und Schrecken zu verbreiten, scheint mir fast zu gut gelungen. Das letzte Kapitel hat zum Beispiel die unerquickliche Überschrift: warum ich ein Schicksal bin. Daß dies nämlich der Fall ist, wird dermaßen stark bewiesen, daß man am Schluß bloß noch als ›Larve‹, bloß noch als ›fühlende Brust‹ vor mir sitzen bleibt.« (Neue Rundschau 1907, Bd. II, S. 1381.) Ähnlich an Gast am 13. November: »Die letzten Partien sind übrigens bereits in einer Tonweise gesetzt, die den Meistersingern abhanden gekommen sein muß, ›die Weise des Weltregierenden‹ ... Das Schlußkapitel hat die unerquickliche Überschrift ›Warum ich ein Schicksal bin‹. Daß dies nämlich der Fall ist, wird so stark bewiesen, daß man am Schluß vor mir als ›Larve‹ und ›fühlende Brust‹ sitzen bleibt ...« (Br. IV, 416 f.) Er fühlte deutlich, daß er in Ecce homo ein Dokument ohnegleichen gegeben habe: »Es geht dermaßen über den Begriff ›Litteratur‹ hinaus, daß eigentlich selbst in der Natur das Gleichnis fehlt: es sprengt, wörtlich, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke – höchster Superlativ von Dynamit ...« (an Gast 9. Dezember, Br. IV, 426.) Er sah sich mit diesem Werk »jenseits gestellt«, »über der Menschheit«, er meinte, mit ihm beginne die »tragische Katastrophe« seines Lebens (Br. IV, 421 und 431). Er war sich wohl bewußt, daß Ecce homo einen allerletzten, bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehenden Aufschluß über ihn selbst bedeute: »Alles erwogen, lieber Freund, hat es von jetzt ab keinen Sinn mehr, über mich zu reden und zu schreiben; ich habe die Frage, wer ich bin, mit der Schrift, an der wir drucken, › Ecce homo ‹, für die nächste Ewigkeit ad acta gelegt. Man soll sich fürderhin nie um mich bekümmern, sondern um die Dinge, derentwegen ich da bin« (an Dr. Carl Fuchs, 27. Dez., Br. I, 538 f.). »Sie werden in Ecce homo eine ungeheure Seite über den Tristan finden, überhaupt über mein Verhältnis zu Wagner. Wagner ist durchaus der erste Name, der in Ecce homo vorkommt. – Dort, wo ich über Nichts Zweifel lasse, habe ich auch hierüber den Mut zum Äußersten gehabt« (an Gast, 31. Dezember, Br. IV, 436). Von den sachlichen Teilen hielt er die Polemik gegen die christliche Moral und die Invektiven gegen die Deutschen für entscheidende Hauptsachen: »Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt. Das Buch heißt › Ecce homo‹ und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten; es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-infekt ist, bei denen Einem Sehen und Hören vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe des Christentums und kann, als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschütz vorfahren, von dem kein Gegner des Christentums auch nur die Existenz vermutet hat. – Das Ganze ist das Vorspiel der ›Umwertung aller Werte‹, des Werks, das fertig vor mir liegt: ich schwöre Ihnen zu, daß wir in zwei Jahren die ganze Erde in Konvulsionen haben werden. Ich bin ein Verhängnis. – Erraten Sie, wer in › Ecce homo‹ am schlimmsten wegkommt? Die Herren Deutschen: Ich habe ihnen furchtbare Dinge gesagt ...« (an Georg Brandes, 20. Nov., Br. III, 321 f.). »Übrigens ist das Buch reich an Scherzen und Bosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist, präsentiere: – das Buch ist so ›unheilig‹ wie möglich« (an Gast, 26. Nov., Br. IV, 421 f.).

Ecce homo ist eins der letzten Geisteserzeugnisse Nietzsches vor dem Ausbruch der Krankheit, die jäh seinem Schaffen ein Ende bereitete. Man hat daraus schnell den naheliegenden Schluß gezogen, daß die sich vorbereitende Krankheit dem Werk bereits ihre Spuren aufgedrückt habe; daher müsse man scheiden zwischen dem, was den Schöpfungen Nietzsches in Zeiten der Gesundheit entspreche und dem, was bereits krankhaft sei. Es ist gewiß, daß damit der Willkür Tor und Tür geöffnet würde: der eine würde dies, der andere jenes ungesund nennen, je nachdem, was jedem Einzelnen einer Abschwächung bedürftig erscheint.

Haben wir ein Recht, Ecce homo durch Aufdrücken des Stempels »Krankhaft« zu entwerten, sei es auch nur im bescheidensten Maße? Die Frage muß rundweg mit Nein beantwortet werden. Noch zwei Monate lang nach Abfassung des Werkes hat Nietzsche durch keine Äußerung oder Handlung den Eindruck von Krankhaftigkeit hervorgerufen. Die Katastrophe ist plötzlich über ihn hereingebrochen. Deutlich läßt sich an dem Unterschied in den Äußerungen vorher und nachher der Zeitpunkt des Ausbruchs erkennen: bis in den Dezember 1888 hinein gibt sich Nietzsche durchaus gesund, die Briefe aus den letzten Tagen des Jahres 1888 und den ersten Tagen des Januar 1889 dagegen sind unverkennbar krank.

Aber nötigen Inhalt oder Form des Werkes, die Erregung im Empfinden, die Leidenschaftlichkeit der Sprache nicht zur Annahme von Krankhaftigkeit? Der Psychiater darf hier anders antworten als der Laie. Für den Arzt verwischen sich die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit mehr als für den Nichtarzt. Er erkennt die Vorbereitungen eines Leidens bereits an Erscheinungen, die der Laie als gesund bezeichnen wird und muß. Aber der Arzt läßt sich auch nicht so schnell wie der Laie durch das Wort »krankhaft« zu einem Entwertungsurteil von Person oder Werk verleiten. Dem Psychiater also wird man es nicht verwehren können, in der erregten Form von Ecce homo bereits Anzeichen kommender Erkrankung zu sehen; er mag diese Betrachtungsweise auch auf frühere Werke Nietzsches ausdehnen; dem Nichtarzt steht ein derartiges Urteil mit falschen Folgerungen nicht zu: Ecce homo muß seinem Inhalt nach von uns mit aller Entschiedenheit zu den Schöpfungen des gesunden Nietzsche hinzugefaßt werden. Rückt man es hin nach der bedenklichen Grenzscheide, da alles zwischen Genie und Irrsinn unklar hin- und herschillert, so erhält der in Wirklichkeit außergewöhnlich wertvolle Gedankengehalt der Schrift ganz unberechtigterweise einen Charakter von höchst zweifelhafter Bedeutung.

Welchen Eindruck hinterläßt nun Ecce homo, wenn man es unbefangen so aufnimmt, wie es vorliegt? Man wird zunächst sagen: das ist ein einzigartiges Literaturdenkmal; so hat noch kein Mensch sich selbst beschrieben. Das ist nicht »Dichtung und Wahrheit«, das ist unverhüllte, unbemäntelte, unumwundene Wahrheit. Die Mitteilungen reichen hinein bis in die heimlichsten Tiefen des Seelenlebens, ein uneingeschränkter Blick hinter die Kulissen des schaffenden Menschen wird gewährt, kein Geheimnis zurückgehalten; keine objektiv entwickelnde Darstellung von Mensch und Werken wird gegeben; wo sich ein Ansatz dazu findet, löst er sich sogleich auf in Selbstcharakterisierung, ja in Beurteilung, Bewertung von eigenem Wesen und Schaffen. Das ist eher eine Psychographie als Biographie zu nennen. In dieser rühmenden Hervorhebung des Wertes eigener Schöpfungen ist die äußerste Grenze des Möglichen erreicht. Stünde das alles nur eine Kleinigkeit tiefer, berührte es jemals den Boden der Mittelmäßigkeit, die Wirkung der Lächerlichkeit wäre unvermeidlich. Aber die Höhenlage, in die jede Einzelheit hinaufgetrieben ist, versetzt sofort in eine nur selten erreichbare Stimmung, in eine so hehre Welt von reiner Luft, von Klarheit, Reichtum der Farben, unendlicher Aussicht, daß es von vornherein ausgeschlossen ist, irgend eine aus der Sphäre des banalen Durchschnitts herrührende Regung aufkommen zu lassen. Und das, was an Fingerzeigen von Nietzsche für sein Verständnis gegeben wird, ist Satz für Satz von so großer sachlich fesselnder Bedeutung, daß die peinliche Empfindung, jemanden in dieser Weise über sich selbst reden zu hören, schnell verfliegt.

Die Autobiographie Nietzsches hat ihre Vorbereitung und ihren Zusammenhang im Rahmen seiner ganzen Schaffenstätigkeit. Bereits im Alter vor dreizehn Jahren schrieb Nietzsche ein Büchlein »Aus meinem Leben«, als Gymnasiast führte er ein Tagebuch, als Student verfaßte er einen »Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre«. Wenn man nun bedenkt, daß außerdem noch manch andere selbstbiographische Ansätze vorhanden sind, daß die große Zahl der Nietzschebriefe eine Fülle von Bemerkungen enthält, in denen er sich immer wieder in neuer Beleuchtung hinmalt, daß alle seine Schriften durchsetzt sind mit Selbsterlebnissen, daß er in den unzeitgemäßen Betrachtungen über Schopenhauer und Wagner sein Wesen, wie es später in die Erscheinung trat, in hellseherischem Vorausblick beschrieben, daß er 1886 in den Vorreden zu seinen Werken glänzende Aufhellungen über sich gegeben hat – erwägt man dies alles, so wird man feststellen: in Nietzsche lag eine besondere Fähigkeit, sein Leben und Schaffen zum Gegenstand der Betrachtung zu machen. Ecce homo ist das letzte Erzeugnis dieser Gabe, das Schlußglied einer langen Kette selbstbetrachtender Entwicklung.

Zwei sonst meist im Gegensatz stehende Erscheinungsformen geistiger Schaffenskraft waren in Nietzsche merkwürdig glücklich vereinigt: die Fähigkeit zum freien, selbstvergessenen, in trunkener Seligkeit hoch über Kritik und Reflexion schwebenden Schaffen, und die Gabe, sein Ich mit scharfkritischem Blick zu mustern, mit dem Seziermesser zu zerschneiden, mit der Lupe zu durchforschen. Vielleicht, daß zwei kräftige Vererbungstendenzen dies seltsame Beieinander verursacht haben. Die beiden Triebe richten sich merkwürdigerweise nicht zur Zerstörung gegeneinander, sie befruchten sich. Und die Früchte des über sich selbst reflektierenden Triebes, des hellen Blickes für das eigene Wesen, die »persönlichen« Enthüllungen stehen an Reiz, Schönheit, Reife, Wert nicht hinter den sachlichen Schöpfungen zurück. Wer wollte z. B. nicht mit der tiefsten Sympathie aufnehmen, was Nietzsche über »Also sprach Zarathustra« gesagt hat? Die Unerschöpflichkeit im Hervorbringen ist das, was immer wieder neu staunendes Interesse für das Persönliche bei Nietzsche erweckt. Niemand bisher besaß eine ähnliche »Umfänglichkeit der Seele«, Niemand hat soviel Möglichkeiten in sich erlebt, Niemand vermochte seinem Ich ein gleiches Farbenspiel wechselnder Bilder zu entlocken; das fortwährende Sichwandeln Nietzsches ist ein beständiges Neuentdecken von Möglichkeiten seines Wesens, Sichneufinden, Sichneusehen. Die sachlichen Schöpfungsphasen wechselten unausgesetzt ab mit aus dem Born der Persönlichkeit aufsteigenden Selbstbetrachtungen. Ecce homo schließt die letztere Reihe krönend ab.

Nun muß aber betont werden, daß alles Persönliche bei Nietzsche die nur autobiographische Bedeutung weit übersteigt. Er selbst nennt sich den »unpersönlichsten Menschen«. Das klingt in Anbetracht des Gesagten befremdend. Es hat aber seine volle Berechtigung. Gerade das, was sonst für Persönliches charakteristisch ist und ihm den unerquicklichen Beigeschmack gibt, das Zufällige, Vereinzelte, für die Allgemeinheit Gleichgültige, die Kleinlichkeit, die Winkelatmosphäre, das eigentlich Egoistische – alle diese Merkmale sind für Nietzsches persönliche Ausführungen nicht zutreffend. Er erhebt alles hinauf ins Typische, die Einzelheiten persönlichen Erlebens haben im Hintergrund den großen Gedanken, daß sie Experimente sind, die der Allgemeinheit – wenn auch nicht der Masse, so doch vielen Einzelnen – zu Gute kommen können. Bei den meisten Selbstbeschreibungen, auch solchen von sehr intimem Charakter, könnte man statt der von Nietzsche gebrauchten ersten Person getrost »das Genie«, »der schaffende Mensch« oder dgl. einsetzen, sie würden ihre Nichtigkeit behalten. Denn diese Selbstzeugnisse sind typische Erlebnisse und Erfahrungen des schöpferischen Menschen. So erweitert sich z. B. da, wo Nietzsche von eigener Krankheit und Gesundheit spricht, der Gegensatz sofort zu dem typischer Erscheinungen von Décadence und Lebensaufstieg beim Genie. Es ist der große Hintergrund des Typischen, der allem Persönlichen bei Nietzsche den Wert und Glanz ewig leuchtender Wahrheiten verleiht.

Ecce homo als Ganzes betrachtet fügt sich also durchaus harmonisch dem Rahmen von Nietzsches Lebenswerk ein. Es ist der natürliche Abschluß einer langen Entwicklungslinie.

Aber wie steht es mit der Leidenschaftlichkeit des Tones, mit der superlativischen Ausdrucksweise? Ist das nicht dem gesunden, echten Nietzsche fremd? Also doch krankhaft? Wer dies befahl, übersieht Folgendes. Nicht durchweg ist Ecce homo in hochgesteigertem Stil und leidenschaftlichstem Tempo geschrieben. Neben Stellen von äußerster Heftigkeit der Sprache finden sich solche von klassischer Ruhe und Mäßigung. Der Gegenstand schafft immer die Tonart: wo die Erregung der Polemik zum Ausdruck kommt, wird die Sprache unwillkürlich eine andere als bei biographischen Charakterisierungen. Und ist Leidenschaft des Wortes nicht das, was Nietzsche überhaupt während der verschiedenen Phasen seines Schaffens kennzeichnet? Nüchternheit und Kühle seinen Problemen gegenüber war ihm zumeist fremd. Und je länger je mehr steigerte sich die Heftigkeit der inneren Anteilnahme an seinen Aufgaben. Ecce homo liegt mit der Rückhaltlosigkeit und Wucht der Äußerungsweise auf gleicher Linie wie »Also sprach Zarathustra«, wie die Vorreden zu den Werken, die »Genealogie der Moral«, die Schriften gegen Wagner, die »Götzendämmerung«, der »Antichrist« u. s. w. Wenn der Verfasser dieser Schriften über sich selbst schreiben wollte, so mußte er es in der Weise tun, in der er es getan hat; ein Nietzsche konnte gar nicht anders sich selbst beschreiben. Eine seltene Verstiegenheit, Jenseitigkeit der Gedanken, eine viele Jahre durchgeführte Menschenferne und Einsamkeit, ein gegenwarts- ja zeitloses Überschweben der ganzen Menschheit, ein ungeheures Verantwortlichkeitsgefühl für alle Zukunft – das ist der Stimmungsuntergrund, aus dem diese Schriften ebenso wie Ecce homo hervorgewachsen sind. Schon lange gab es für Nietzsche kein ausgleichendes Gegengewicht mehr, kein Gegenklang wurde mehr gehört, es fehlten ebenbürtige Gegensätze, es fehlte an jedem Widerspiel des Lebens, das die schaffenden Kräfte nach anderer Richtung ausgelöst hätte. So wuchsen die Probleme immer schroffer empor zu den einzigen Problemen, die überhaupt noch gesehen wurden. So sammelte und staute sich ein Strom von Kraft in der Höhe auf, er brach sich von Zeit zu Zeit Bahn und stürzte dann unaufhaltsam in rasendem Tempo zu Tal.

Nicht die nahende Krankheit, sondern der kommende Ruhm, der bis in ferne Zukunft hineinreichende Einfluß, den Nietzsche vorausfühlte, hat seine Schatten auf Ecce homo zurückgeworfen. Das gibt der Schrift den »welthistorischen Accent«, den so viele der reifen Werke Nietzsches, man könnte wohl sagen alle, tragen. Mit einer einzigartigen Kraft geistiger Freiheit projiziert er sich hinaus in eine Zukunft, in der das Wirklichkeit geworden sein wird, wofür er sein Leben lang gearbeitet hat: die Umwandlung herkömmlicher Anschauungen, die Umwertung der Werte, die Ablösung der Ideale und Irrtümer durch Realitäten. Wird das erst einmal erreicht sein, sind die Gedanken Nietzsches erst in das allgemeine Bewußtsein der Menschheit übergegangen, dann muß auch ein Verständnis, eine Schätzung seiner Werke eintreten, die in der Zeit, da sie entstanden, unmöglich war. Aus der Stimmung einer solchen fernen Zukunft heraus empfindet und beschreibt Nietzsche sich selbst im Ecce homo, man könnte sagen, er macht sich zum Sprecher einer späteren Menschheit über sich. Die Seltsamkeit dieser Erscheinung wird man vor allen Dingen um der Dimensionen willen bewundern, die der zuversichtliche Glaube an sich, an die eigene Zukunft hier bei einem Geiste ersten Ranges angenommen hat.

Noch ist das Ziel, daß Nietzsches Gedanken im Leben Gestalt gewonnen haben, gewiß sehr fern. Die Ketten herkömmlicher Anschauungen und Gewohnheiten hängen uns noch so fest am Fuß, daß es einstweilen nur wenigen und auch diesen nur selten gelingen kann, sich mit der ganzen Persönlichkeit zu der Höhe geistiger Freiheit zu erheben, die unerläßliche Vorbedingung zum Verständnis von Nietzsches Gedankenwelt ist, zu einem Verständnis vom Leben aus und für's Leben. Die Fesseln des Traditionellen in den bestehenden Lebensverhältnissen, denen sich niemand ganz entziehen kann und soll, sind der Erlangung vollkommener innerer Freiheit hinderlich. Weil Nietzsche noch nicht genügend im Bewußtsein der Menschen lebt, ist sein Verständnis vom Leben aus, von innen heraus, mit Leib und Seele, mit allen Fasern der Persönlichkeit vorläufig noch schwer. Deshalb wird es wohl auch noch lange dauern, bis eine vollwertige Würdigung seiner Autobiographie Ecce homo möglich ist.


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