Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

16.

Das anaxagorische Chaos ist keine sofort einleuchtende Conception: um sie zu fassen, muß man die Vorstellung verstanden haben, die unser Philosoph von dem sogenannten »Werden« sich gebildet hat. Denn an sich ergäbe der Zustand aller verschiedenartigen Elementar-Existenzen vor aller Bewegung noch keinesfalls nothwendig eine absolute Mischung aller »Samen der Dinge«, wie der Ausdruck des Anaxagoras lautet, eine Mischung, die er sich als ein selbst bis zu den kleinsten Theilen vollständiges Durcheinander imaginirte, nachdem alle jene Elementar-Existenzen wie in einem Mörser zerstoßen und zu Staubatomen aufgelöst waren, so daß sie nun in jenem Chaos wie in einem Mischkrug durcheinander gerührt werden konnten. Man könnte sagen, daß diese Chaos-Conception nichts Nothwendiges habe; man brauche vielmehr nur eine beliebige zufällige Lage aller jener Existenzen, aber nicht ein unendliches Zertheiltsein derselben anzunehmen; ein regelloses Nebeneinander genügt bereits, es bedürfe keines Durcheinanders, geschweige denn eines so totalen Durcheinanders. Wie kam also Anaxagoras auf diese schwere und complicirte Vorstellung? Wie gesagt, durch seine Auffassung des empirisch gegebenen Werdens. Aus seiner Erfahrung schöpfte er zuerst einen höchst auffallenden Satz über das Werden, und dieser Satz erzwang sich, als seine Consequenz, jene Lehre vom Chaos.

Die Beobachtung der Vorgänge der Entstehung in der Natur, nicht eine Rücksicht auf ein früheres System, gab Anaxagoras die Lehre ein, daß Alles aus Allem entstehe: dies war die Überzeugung des Naturforschers, gegründet auf eine mannigfache, im Grunde natürlich grenzenlos dürftige Induktion. Er bewies dies so: wenn selbst das Gegentheil aus dem Gegentheil, das Schwarze zum Beispiel aus dem Weißen, entstehen könne, so sei Alles möglich: jenes geschehe aber bei der Auflösung des weißen Schnees in schwarzes Wasser. Die Ernährung des Körpers erklärte er sich dadurch, daß in den Nahrungsmitteln unsichtbar kleine Bestandtheile von Fleisch oder Blut oder Knochen sein müßten, die sich, bei der Ernährung, ausschieden und mit dem Gleichartigen im Körper vereinigten. Wenn aber Alles aus Allem werden kann. Festes aus dem Flüssigen, Hartes aus dem Weichen, Schwarzes aus dem Weißen, Fleischiges aus Brod, so muß auch Alles in Allem enthalten sein. Die Namen der Dinge drücken dann nur das Übergewicht der einen Substanz über die anderen, in kleineren, oft nicht wahrnehmbaren Massen vorkommenden Substanzen aus. Im Gold, das heißt in Dem, was man a potiore mit dem Namen »Gold« bezeichnet, muß auch Silber, Schnee, Brod und Fleisch enthalten sein, aber in ganz geringen Bestandteilen; nach dem Überwiegenden, nach der Goldsubstanz, ist das Ganze genannt.

Wie ist es aber möglich, daß eine Substanz überwiegt und in größerer Masse, als die anderen besitzen, ein Ding erfüllt? Die Erfahrung zeigt, daß nur durch die Bewegung dieses Übergewicht allmählich erzeugt wird, daß das Übergewicht das Resultat eines Processes ist, den wir gemeinhin Werden nennen; daß dagegen Alles in Allem ist, ist nicht das Resultat eines Processes, sondern im Gegentheil die Voraussetzung alles Werdens und alles Bewegtseins und somit vor allem Werden. Mit anderen Worten: die Empirie lehrt, daß fortwährend das Gleiche zum Gleichen, zum Beispiel durch Ernährung, hinzugeführt wird, also war es ursprünglich nicht bei einander und zusammengeballt, sondern getrennt. Vielmehr wird, in den vor den Augen liegenden empirischen Vorgängen, das Gleiche immer aus dem Ungleichen herausgezogen und fortbewegt (zum Beispiel bei der Ernährung die Fleischtheilchen aus dem Brode u. s. w.), somit ist das Durcheinander der verschiedenen Substanzen die ältere Form der Constitution der Dinge und der Zeit nach vor allem Werden und Bewegen. Wenn also alles sogenannte Werden ein Ausscheiden ist und eine Mischung voraussetzt, so fragt es sich nun, welchen Grad diese Mischung, dieses Durcheinander ursprünglich gehabt haben muß. Obgleich der Proceß eine Bewegung des Gleichartigen zum Gleichartigen, das Werden schon eine ungeheure Zeit andauernd, erkennt man trotzdem, wie auch jetzt noch in allen Dingen Reste und Samenkörner aller anderen Dinge eingeschlossen sind, die auf ihre Ausscheidung warten, und wie nur hier und da ein Übergewicht zu Stande gebracht ist; die Urmischung muß eine vollständige, das heißt bis in's Unendlich-Kleine gehende gewesen sein, da die Entmischung einen unendlichen Zeitraum verbraucht. Dabei wird streng an dem Gedanken festgehalten, daß Alles, was ein wesenhaftes Sein besitzt, in's Unendliche theilbar ist, ohne sein Specificum einzubüßen.

Nach diesen Voraussetzungen stellt sich Anaxagoras die Urexistenz der Welt vor, etwa gleich einer staubartigen Masse von unendlich kleinen erfüllten Punkten, von denen jeder specifisch einfach ist und nur eine Qualität besitzt, doch so, daß jede specifische Qualität in unendlich vielen einzelnen Punkten repräsentirt wird. Solche Punkte hat Aristoteles Homoiomerien genannt, in Rücksicht darauf, daß sie die unter sich gleichartigen Theile eines mit seinen Theilen gleichartigen Ganzen sind. Man würde aber sehr irren, jenes ursprüngliche Durcheinander aller solcher Punkte, solcher »Samenkörner der Dinge« dem einen Urstoffe des Anaximander gleichzusetzen: denn Letzterer, das »Unbestimmte« genannt, ist eine durchaus einheitliche und eigenartige Masse. Ersteres ein Aggregat von Stoffen. Zwar kann man von diesem Aggregat von Stoffen dasselbe aussagen, wie von dem Unbestimmten des Anaximander: wie dies Aristoteles thut; es konnte weder weiß noch grau, noch schwarz, noch sonstwie gefärbt sein, es war geschmacklos, geruchlos und als Ganzes überhaupt weder quantitativ, noch qualitativ bestimmt: soweit reicht die Gleichheit des anaximandrischen Unbestimmten und der anaxagorischen Urmischung. Abgesehen aber von dieser negativen Gleichheit unterscheiden sie sich positiv dadurch, daß die Letztere zusammengesetzt, das Erstere eine Einheit ist. Anaxagoras hatte wenigstens durch die Annahme seines Chaos so viel vor Anaximander voraus, daß er nicht nöthig hatte, das Viele aus dem Einen, das Weidende aus dem Seienden abzuleiten.

Freilich mußte er bei seiner Allmischung der Samen eine Ausnahme zulassen: der Nous war damals nicht und ist überhaupt auch jetzt keinem Dinge beigemischt. Denn wenn er nur einem Seienden beigemischt wäre, so müßte er dann, in unendlichen Zertheilungen, in allen Dingen wohnen. Diese Ausnahme ist logisch höchst bedenklich, zumal bei der früher geschilderten materiellen Natur des Nous, sie hat etwas Mythologisches und scheint willkürlich, war aber, nach den anaxagorischen Prämissen, eine strenge Nothwendigkeit. Der Geist, übrigens theilbar in's Unendliche wie jeder andre Stoff, nur nicht durch andre Stoffe, sondern durch sich selbst, wenn er sich theilt, sich theilend und bald groß bald klein sich zusammenballend, hat seine gleiche Masse und Qualität seit aller Ewigkeit: und Das, was in diesem Augenblick, in der gesammten Welt, bei Thieren, Pflanzen, Menschen, Geist ist, war es auch, ohne ein Mehr oder Weniger, wenn auch anders vertheilt, vor einem Jahrtausend. Aber wo er je ein Verhältnis; zu einer andern Substanz hatte, da war er ihr nie beigemischt, sondern ergriff sie freiwillig, bewegte und schob sie nach Willkür, kurz herrschte über sie. Er, der allein in sich Bewegung hat, besitzt auch allein die Herrschaft in der Welt und zeigt diese durch das Bewegen der Substanzen-Körner. Wohin aber bewegt er sie? Oder ist eine Bewegung denkbar ohne Richtung, ohne Bahn? Ist der Geist in seinen Stützen ebenso willkürlich, wie es willkürlich ist, wann er stößt und wann er nicht stößt? Kurz, herrscht innerhalb der Bewegung der Zufall, das heißt die blindeste Beliebigkeit? An dieser Grenze betreten wir das Allerheiligste in dem Vorstellungsbezirk des Anaxagoras.


 << zurück weiter >>