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2.

Nach solchen Betrachtungen wird es ohne Anstoß hingenommen werden, wenn ich von den vorplatonischen Philosophen als von einer zusammengehörigen Gesellschaft rede und ihnen allein diese Schrift zu widmen gedenke. Mit Plato beginnt etwas ganz Neues; oder, wie mit gleichem Rechte gesagt werden kann, seit Plato fehlt den Philosophen etwas Wesentliches, im Vergleich mit jener Genialen-Republik von Thales bis Sokrates.

Wer sich mißgünstig über jene älteren Meister ausdrücken will, mag sie die Einseitigen nennen und ihre Epigonen, mit Plato an der Spitze, die Vielseitigen. Richtiger und unbefangener würde es sein, die Letzteren als philosophische Mischcharaktere, die Ersteren als die reinen Typen zu begreifen. Plato selbst ist der erste großartige Mischcharakter, und als solcher sowohl in seiner Philosophie als in seiner Persönlichkeit ausgeprägt. Sokratische, pythagoreische und heraklitische Elemente sind in seiner Ideenlehre vereinigt: sie ist deshalb kein typisch-reines Phänomen. Auch als Mensch vermischt Plato die Züge des königlich abgeschlossenen und allgenügsamen Heraklit, des melancholisch-mitleidsvollen und legislatorischen Pythagoras und des seelenkundigen Dialektikers Sokrates. Alle späteren Philosophen sind solche Mischcharaktere; wo etwas Einseitiges an ihnen hervortritt, wie bei den Cynikern, ist es nicht Typus, sondern Carrikatur. Viel wichtiger aber ist, daß sie Sektenstifter sind und daß die von ihnen gestifteten Sekten insgesammt Oppositionsanstalten gegen die hellenische Cultur und deren bisherige Einheit des Stils waren. Sie suchen in ihrer Art eine Erlösung, aber nur für die Einzelnen oder höchstens für nahestehende Gruppen von Freunden und Jüngern. Die Thätigkeit der älteren Philosophen geht, obschon ihnen unbewußt, auf eine Heilung und Reinigung im Großen; der mächtige Lauf der griechischen Cultur soll nicht aufgehalten, furchtbare Gefahren sollen ihr aus dem Wege geräumt werden, der Philosoph schützt und vertheidigt seine Heimat. Jetzt, seit Plato, ist er im Exil und conspirirt gegen sein Vaterland.

Es ist ein wahres Unglück, daß wir so wenig von jenen älteren philosophischen Meistern übrig haben und daß uns alles Vollständige entzogen ist. Unwillkürlich messen wir sie, jenes Verlustes wegen, nach falschen Maaßen und lassen uns durch die rein zufällige Thatsache, daß es Plato und Aristoteles nie an Schätzern und Abschreibern gefehlt hat, zu Ungunsten der Früheren einnehmen. Manche nehmen eine eigne Vorsehung für die Bücher an, ein fatum libellorum: dies müßte aber jedenfalls sehr boshaft sein, wenn es uns Heraklit, das wunderbare Gedicht des Empedokles, die Schriften des Demokrit, den die Alten dem Plato gleichstellen und der Jenen an Ingenuität noch überragt, zu entziehn für gut fand und uns zum Ersatz Stoiker, Epikureer und Cicero in die Hand drückt. Wahrscheinlich ist uns der großartigste Theil des griechischen Denkens und seines Ausdrucks in Worten verloren gegangen: ein Schicksal, über das sich Der nicht wundern wird, der sich der Mißgeschicke des Scotus Erigena oder des Pascal erinnert und erwägt, daß selbst in diesem hellen Jahrhundert die erste Auflage von Schopenhauer's Welt als Wille und Vorstellung zu Makulatur gemacht werden mußte. Will Jemand für solche Dinge eine eigne fatalistische Macht annehmen, so mag er es, thun und mit Goethe sprechen: »Über's Niederträchtige Niemand sich beklage; denn es ist das Mächtige, was man dir auch sage«. Es ist in Sonderheit mächtiger als die Macht der Wahrheit. Die Menschheit bringt so selten ein gutes Buch hervor, in dem mit kühner Freiheit das Schlachtlied der Wahrheit, das Lied des philosophischen Heroismus angestimmt wird: und doch hängt es von den elendesten Zufälligkeiten, von plötzlichen Verfinsterungen der Köpfe, von abergläubischen Zuckungen und Antipathien, zuletzt selbst von schreibefaulen Fingern oder gar von Kerbwürmern und Regenwetter ab, ob es noch ein Jahrhundert länger lebt oder zu Moder und Gide wird. Doch wollen wir nicht klagen, vielmehr uns selbst die Abfertigungs- und Trostworte Hamann's gesagt sein lassen, die er an die Gelehrten richtet, die über verlorne Werke klagen: »Hatte der Künstler, welcher mit einer Linse durch ein Nadelöhr traf, nicht an einem Scheffel Linsen genug zur Übung seiner erworbenen Geschicklichkeit? Diese Frage möchte man an alle Gelehrte thun, welche die Weile der Alten nicht klüger als Jener die Linsen zu gebrauchen wissen.« Es wäre in unserem Falle noch hinzuzufügen, daß uns lein Wort, keine Anekdote, leine Jahreszahl mehr überliefert zu sein brauchte, als überliefert ist, ja daß selbst viel weniger uns erhalten sein dürfte, um die allgemeine Lehre festzustellen, daß die Griechen die Philosophie rechtfertigen.

Eine Zeit, die an der sogenannten allgemeinen Bildung leidet, aber keine Cultur und in ihrem Leben keine Einheit des Stils hat, wird mit der Philosophie nichts Rechtes anzufangen wissen, und wenn sie von dem Genius der Wahrheit selbst auf Straßen und Märkten proklamirt würde.*) Von *) bis *) vgl. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Bd. II S. 146/47. Sie bleibt vielmehr, in einer solchen Zeit, gelehrter Monolog des einsamen Spaziergängers, zufälliger Raub des Einzelnen, verborgenes Stubengeheimniß oder ungefährliches Geschwätz zwischen akademischen Greisen und Kindern. Niemand darf es wagen, das Gesetz der Philosophie an sich zu erfüllen, Niemand lebt philosophisch, mit jener einfachen Mannestreue, die einen Alten zwang, wo er auch war, was er auch trieb, sich als Stoiker zu gebärden, falls er der Stoa einmal Treue zugefügt hatte. Alles moderne Philosophiren ist politisch und polizeilich durch Regierungen, Kirchen, Akademien, Sitten, Moden, Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein beschränkt: es bleibt beim Seufzer »wenn doch« oder bei der Erkenntnis; »es war einmal«. Die Philosophie ist ohne Recht, deshalb müßte sie der moderne Mensch, wenn er überhaupt nur muthig und gewissenhaft wäre, verwerfen und sie etwa mit ähnlichen Worten verbannen, mit denen Pluto die Tragödiendichter aus seinem Staate verwies.*) Freilich bliebe ihr eine Entgegnung übrig, wie sie auch jenen Tragödiendichtern, gegen Plato, übrig blieb. Sie könnte etwa, wenn man sie einmal zum Reden zwänge, sagen: »Armseliges Volk! Ist es meine Schuld, wenn ich unter dir wie eine Wahrsagerin im Lande herumstreiche und mich verstecken und verstellen muß, als ob ich die Sünderin wäre und ihr meine Richter? Seht nur meine Schwester, die Kunst! Es geht ihr wie mir, wir sind unter Barbaren verschlagen und wissen nicht mehr uns zu retten. Hier fehlt uns, es ist wahr, jedes gute Recht: aber die Richter, vor denen wir Recht finden, richten auch über euch und werden euch sagen: Habt erst eine Cultur, dann sollt ihr auch erfahren, was die Philosophie will und kann.« –


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