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Über Musik und Wort.

(Bruchstück 1871.)

Was wir hier über das Verhältnis; der Sprache zur Musik aufgestellt haben, muß aus gleichen Gründen auch vom Verhältnis; des Mimus zur Musik gelten. Auch der Mimus, als die gesteigerte Geberdensymbolik des Menschen, ist, an der ewigen Bedeutsamkeit der Musik gemessen, nur ein Gleichniß, das deren innerstes Geheimniß nur sehr äußerlich, nämlich am Substrat des leidenschaftlich bewegten Menschenleibes, zum Ausdruck bringt. Fassen wir aber auch die Sprache mit unter die Kategorie der leiblichen Symbolik und halten wir das Drama, gemäß unserm aufgestellten Kanon, an die Musik heran: so dürfte jetzt ein Satz Schopenhauer's in die hellste Beleuchtung treten, an den an einer späteren Stelle wieder angeknüpft werden muß. »Es möchte hingehn, obgleich ein rein musikalischer Geist es nicht verlangt, daß man der reinen Sprache der Töne, obwohl sie, selbstgenügsam, keiner Beihülfe bedarf, Worte, sogar auch eine anschaulich vorgeführte Handlung, zugesellt und unterlegt, damit unser anschauender und reflektirender Intellekt, der nicht ganz müßig sein mag, doch auch eine leichte und analoge Beschäftigung dabei erhalte, wodurch sogar die Aufmerksamkeit der Musik fester anhängt und folgt, auch zugleich Dem, was die Töne in ihrer allgemeinen bilderlosen Sprache des Herzens besagen, ein anschauliches Bild, gleichsam ein Schema, oder wie ein Exempel zu einem allgemeinen Begriff, untergelegt wird: ja, dergleichen wird den Eindruck der Musik erhöhen.« (Schopenhauer, Parerga II, Zur Metaphysik des Schönen und Ästhetik § 224). Wenn wir von der naturalistisch äußerlichen Motivirung absehn, wonach unser anschauender und reflektirender Intellekt beim Anhören der Musik nicht ganz müßig sein mag, und die Aufmerksamkeit, an der Hand einer anschaulichen Aktion, besser folgt, – so ist von Schopenhauer mit höchstem Rechte das Drama im Verhältniß zur Musik als ein Schema, als ein Exempel zu einem allgemeinen Begriff charakterisirt worden: und wenn er hinzufügt: »ja, dergleichen wird den Eindruck der Musik erhöhen«, so bürgt die ungeheure Allgemeinheit und Ursprünglichkeit der Vokalmusik, der Verbindung von Ton mit Bild und Begriff, für die Richtigkeit dieses Ausspruchs. Die Musik jedes Volkes beginnt durchaus im Bunde mit der Lyrik, und lange bevor an eine absolute Musik gedacht werden kann, durchläuft sie in jener Vereinigung die wichtigsten Entwicklungsstufen. Verstehen wir diese Urlyrik eines Volkes, wie wir es ja müssen, als eine Nachahmung der künstlerisch vorbildenden Natur, so muß uns als ursprüngliches Vorbild jener Vereinigung von Musik und Lyrik die von der Natur vorgebildete Doppelheit im Wesen der Sprache gelten: in welches wir jetzt, nach den Erörterungen über die Stellung von Musik zum Bild, tiefer eindringen werden.

In der Vielheit der Sprachen giebt sich sofort die Thatsache kund, daß Wort und Ding sich nicht vollständig und nothwendig decken, sondern daß das Wort ein Symbol ist. Was symbolisirt aber das Wort? Doch gewiß nur Vorstellungen, seien dies nun bewußte oder, der Mehrzahl nach, unbewußte: denn wie sollte ein Wort-Symbol jenem innersten Wesen, dessen Abbilder wir selbst, sammt der Welt, sind, entsprechen? Nur als Vorstellungen kennen wir jenen Kern, nur in seinen bildlichen Äußerungen haben wir eine Vertrautheit mit ihm: außerdem giebt es nirgends eine direkte Brücke, die uns zu ihm selbst führte. Auch das gesammte Triebleben, das Spiel der Gefühle Empfindungen Affekte Willensakte, ist uns – wie ich hier gegen Schopenhauer einschalten muß – bei genauester Selbstprüfung nur als Vorstellung, nicht seinem Wesen nach, bekannt: und wir dürfen wohl sagen, daß selbst der »Wille« Schopenhauer's nichts als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns übrigens gänzlich Unentzifferbaren ist. Müssen wir uns also schon in die starre Nothwendigkeit fügen, nirgends über die Vorstellungen hinauszukommen, so können wir doch wieder im Bereich der Vorstellungen zwei Hauptgattungen unterscheiden. Die einen offenbaren sich uns als Lust- und Unlustempfindungen und begleiten als nie fehlender Grundbaß alle übrigen Vorstellungen. Diese allgemeinste Erscheinungsform, aus der und unter der wir alles Werden und alles Wollen einzig verstehen und für die wir den Namen »Wille« festhalten wollen, hat nun auch in der Sprache ihre eigne symbolische Sphäre: und zwar ist diese für die Sprache ebenso fundamental, wie jene Erscheinungsform für alle übrigen Vorstellungen. Alle Lust- und Unlustgrade – Äußerungen eines uns nicht durchschaubaren Urgrundes – symbolisiren sich im Tone des Sprechenden: während sämmtliche übrigen Vorstellungen durch die Geberdensymbolik des Sprechenden bezeichnet werden. Insofern jener Urgrund in allen Menschen derselbe ist, ist auch der Tonuntergrund der allgemeine und über die Verschiedenheit der Sprachen hinaus verständliche. Aus ihm entwickelt sich nun die willkürlichere und ihrem Fundament nicht völlig adäquate Geberdensymbolik: mit der die Mannigfaltigkeit der Sprachen beginnt, deren Vielheit wir gleichnißweise als einen strophischen Text auf jene Urmelodie der Lust- und Unlustsprache ansehen dürfen. Das ganze Bereich des Consonantischen und Vokalischen glauben wir nur unter die Geberdensymbolik rechnen zu dürfen – Consonanten und Vokale sind ohne den vor Allem nöthigen fundamentalen Ton nichts als Stellungen der Sprachorgane, kurz Geberden –; sobald wir uns das Wort aus dem Munde des Menschen hervorquellen denken, so erzeugt sich zu allererst die Wurzel des Wortes und das Fundament jener Geberdensymbolik, der Tonuntergrund, der Wiederklang der Lust- und Unlustempfindungen. Wie sich unsre ganze Leiblichkeit zu jener ursprünglichsten Erscheinungsform, dem »Willen« verhält, so verhält sich das consonantisch-vokalische Wort zu seinem Tonfundamente.

Diese ursprünglichste Erscheinungsform, der »Wille«, mit seiner Skala der Lust- und Unlustempfindungen, kommt aber in der Entwicklung der Musik zu einem immer adäquateren symbolischen Ausdruck: als welchem historischen Proceß das fortwährende Streben der Lyrik nebenher läuft, die Musik in Bildern zu umschreiben: wie dieses Doppelphänomen, nach der soeben gemachten Ausführung, in der Sprache uranfänglich vorgebildet liegt.

Wer uns in diese schwierigen Betrachtungen bereitwillig, aufmerksam und mit einiger Phantasie gefolgt ist – auch mit Wohlwollen ergänzend, wo der Ausdruck zu knapp oder zu unbedingt ausgefallen ist – der wird nun mit uns den Vortheil haben, einige aufregende Streitfragen der heutigen Ästhetik und noch mehr der gegenwärtigen Künstler sich ernsthafter vorlegen und tiefer beantworten zu können, als dies gemeinhin zu geschehen pflegt. Denken wir uns, nach allen Voraussetzungen, welch ein Unterfangen es sein muß, Musik zu einem Gedichte zu machen, d. h. ein Gedicht durch Musik illustriren zu wollen, um damit der Musik zu einer Begriffssprache zu verhelfen: welche verkehrte Welt! Ein Unterfangen, das mir vorkommt als ob ein Sohn seinen Vater zeugen wollte! Die Musik kann Bilder aus sich erzeugen, die dann immer nur Schemata, gleichsam Beispiele ihres eigentlichen allgemeinen Inhaltes sein werden. Wie aber sollte das Bild, die Vorstellung aus sich heraus Musik erzeugen können! Geschweige denn, daß dies der Begriff oder, wie man gesagt hat, die »poetische Idee« zu thun im Stande wäre. So gewiß aus der mysteriösen Burg des Musikers eine Brücke in's freie Land der Bilder führt – und der Lyriker schreitet über sie hin –, so unmöglich ist es, den umgekehrten Weg zu gehen, obschon es Einige geben soll, welche wähnen, ihn gegangen zu sein. Man bevölkere die Lust mit der Phantasie eines Raffael, man schaue, wie er, die heilige Cäcilia entzückt den Harmonien der Engelchöre lauschen – es dringt kein Ton aus dieser in Musik scheinbar verlorenen Welt, ja stellten wir uns nur vor, daß jene Harmonie wirklich, durch ein Wunder, uns zu erklingen begänne, wohin wären uns plötzlich Cäcilia, Paulus und Magdalena, wohin selbst der singende Engelchor verschwunden! Wir würden sofort aufhören, Raffael zu sein: und wie auf jenem Bilde die weltlichen Instrumente zertrümmert auf der Erde liegen, so würde unsre Malervision, von dem Höheren besiegt, schattengleich verblassen und verlöschen. – Wie aber sollte das Wunder geschehen! Wie sollte die ganz in's Anschauen versunkene apollinische Welt des Auges den Ton aus sich erzeugen können, der doch eine Sphäre symbolisirt, die eben durch das apollinische Verlorensein im Scheine ausgeschlossen und überwunden ist! Die Lust am Scheine kann nicht aus sich die Lust am Nicht-Scheine erregen: die Wonne des Schauens ist Wonne nur dadurch, daß Nichts uns an eine Sphäre erinnert, in der die Individuation zerbrochen und aufgehoben ist. Haben wir das Apollinische im Gegensatz zum Dionysischen irgendwie richtig charakterisirt, so muß uns jetzt der Gedanke nur abenteuerlich falsch dünken, welcher dem Bilde, dem Begriffe, dem Scheine irgendwie die Kraft beimäße, den Ton aus sich zu erzeugen. Man mag uns nicht, zu unserer Widerlegung, auf den Musiker verweisen, der vorhandene lyrische Gedichte componirt: denn wir werden, nach allem Gesagten, behaupten müssen, daß das Verhältnis des lyrischen Gedichtes zu seiner Komposition jedenfalls ein anderes sein muß als das des Vaters zu seinem Kinde. Und zwar welches?

Hier nun wird man uns, auf Grund einer beliebten ästhetischen Anschauung, mit dem Satze entgegenkommen: »nicht das Gedicht, sondern das durch das Gedicht erzeugte Gefühl ist es, welches die Composition aus sich gebiert.« Ich stimme nicht damit überein: das Gefühl, die leisere oder stärkere Erregung jenes Lust- und Unlust-Untergrundes, ist überhaupt im Bereich der produktiven Kunst das an sich Unkünstlerische, ja erst seine gänzliche Ausschließung ermöglicht das volle Sich-Versenken und interesselose Anschauen des Künstlers. Hier möchte man mir etwa erwidern, daß ich ja selbst soeben vom »Willen« ausgesagt habe, er komme in der Musik zu einem immer adäquateren symbolischen Ausdruck. Meine Antwort, in einen ästhetischen Grundsatz zusammengefaßt, ist diese: der Wille ist Gegenstand der Musik, aber nicht Ursprung derselben, nämlich der Wille in seiner allergrößten Allgemeinheit, als die ursprünglichste Erscheinungsform, unter der alles Werden zu verstehn ist. Das, was wir Gefühle nennen, ist, hinsichtlich dieses Willens, bereits schon mit bewußten und unbewußten Vorstellungen durchdrungen und gesättigt und deshalb nicht mehr direkt Gegenstand der Musik: geschweige denn, daß es diese aus sich erzeugen könnte. Man nehme beispielsweise die Gefühle von Liebe, Furcht und Hoffnung: die Musik kann mit ihnen auf direktem Wege gar nichts mehr anfangen, so erfüllt ist ein jedes dieser Gefühle schon mit Vorstellungen. Dagegen können diese Gefühle dazu dienen, die Musik zu symbolisiren: wie dies der Lyriker thut, der jenes begrifflich und bildlich unnahbare Bereich des »Willens«, den eigentlichen Inhalt und Gegenstand der Musik, sich in die Gleichnißwelt der Gefühle übersetzt. Dem Lyriker ähnlich sind alle diejenigen Musikhörer, welche eine Wirkung der Musik auf ihre Affekte spüren: die entfernte und entrückte Macht der Musik appellirt bei ihnen an ein Zwischenreich, das ihnen gleichsam einen Vorgeschmack, einen symbolischen Vorbegriff der eigentlichen Musik giebt, an das Zwischenreich der Affekte. Von ihnen dürfte man, im Hinblick auf den »Willen«, den einzigen Gegenstand der Musik, sagen, sie verhielten sich zu diesem Willen, wie der analogische Morgentraum, nach der Schopenhauerischen Theorie, zum eigentlichen Traume. Allen jenen aber, die der Musik nur mit ihren Affekten beizukommen vermögen, ist zu sagen, daß sie immer in den Vorhallen bleiben und keinen Zutritt zu dem Heiligthum der Musik haben werden: als welches der Affekt, wie ich sagte, nicht zu zeigen, sondern nur zu symbolisiren vermag.

Was dagegen den Ursprung der Musik betrifft, so habe ich schon erklärt, daß dieser nie und nimmer im »Willen« liegen kann, vielmehr im Schooße jener Kraft ruht, die unter der Form des »Willens« eine Visionswelt aus sich erzeugt: der Ursprung der Musik liegt jenseits aller Individuation, ein Satz, der sich nach unsrer Erörterung über das Dionysische aus sich selbst beweist. An dieser Stelle möchte ich mir gestatten, die entscheidenden Behauptungen, zu denen uns der behandelte Gegensatz des Dionysischen und des Apollinischen genöthigt hat, noch einmal übersichtlich neben einander zu stellen.

Der »Wille«, als ursprünglichste Erscheinungsform, ist Gegenstand der Musik: in welchem Sinne sie Nachahmung der Natur, aber der allgemeinsten Form der Natur genannt werden kann. –

Der »Wille« selbst und die Gefühle – als die schon mit Vorstellungen durchdrungenen Willensmanifestationen – sind völlig unvermögend Musik aus sich zu erzeugen: wie es andernseits der Musik völlig versagt ist, Gefühle darzustellen, Gefühle zum Gegenstand zu haben, während der Wille ihr einziger Gegenstand ist. –

Wer Gefühle als Wirkungen der Musik davonträgt, hat an ihnen gleichsam, ein symbolisches Zwischenreich, das ihm einen Vorgeschmack von der Musik geben kann, doch ihn zugleich aus ihren innersten Heiligthümern ausschließt. –

Der Lyriker deutet sich die Musik durch die symbolische Welt der Affekte, während er selbst, in der Ruhe der apollinischen Anschauung, jenen Affekten enthoben ist. –

Wenn also der Musiker ein lyrisches Lied componirt, so wird er als Musiker weder durch die Bilder noch durch die Gefühlssprache dieses Textes erregt: sondern eine aus ganz andern Sphären kommende Musikerregung wählt sich jenen Liedertext als einen gleichnißartigen Ausdruck ihrer selbst. Von einem nothwendigen Verhältniß zwischen Lied und Musik kann also nicht die Rede sein: denn die beiden hier in Bezug gebrachten Welten des Tons und des Bildes stehn sich zu fern, um mehr als eine äußerliche Verbindung eingehen zu können; das Lied ist eben nur Symbol und verhält sich zur Musik wie die ägyptische Hieroglyphe der Tapferkeit zum tapferen Krieger selbst. Bei den höchsten Offenbarungen der Musik empfinden wir sogar unwillkürlich die Rohheit jeder Bildlichkeit und jedes zur Analogie herbeigezogenen Affektes: wie z. B. die letzten Beethoven'schen Quartette jede Anschaulichkeit, überhaupt das gesammte Reich der empirischen Realität völlig beschämen. Das Symbol hat angesichts des höchsten, wirklich sich offenbarenden Gottes keine Bedeutung mehr: ja es erscheint jetzt als eine beleidigende Äußerlichkeit.

Man verarge uns hier nicht, wenn wir auch von diesem Standpunkte aus den unerhörten und in seinen Zaubern nicht auflösbaren letzten Satz der neunten Symphonie Beethoven's in unsre Betrachtung ziehn, um über ihn ganz unverhohlen zu reden. Daß dem dithyrambischen Welterlösungsjubel dieser Musik das Schiller'sche Gedicht »an die Freude« gänzlich incongruent ist, ja wie blasses Mondlicht von jenem Flammenmeere überfluthet wird, wer möchte mir dieses allersicherste Gefühl rauben? Ja wer möchte mir überhaupt streitig machen können, daß jenes Gefühl beim Anhören dieser Musik nur deshalb nicht zum schreienden Ausdruck kommt, weil wir, durch die Musik für Bild und Wort völlig depotenzirt, bereits gar nichts von dem Gedichte Schiller's hören? Aller jener edle Schwung, ja die Erhabenheit der Schiller'schen Verse wirkt schon neben der wahrhaft naiv-unschuldigen Volksmelodie der Freude störend, beunruhigend, selbst roh und beleidigend: nur daß man sie nicht hört, bei der immer volleren Entfaltung des Chorgesanges und der Orchestermassen, hält jene Empfindung der Incongruenz von uns fern. Was sollen wir also von jenem ungeheuerlichen ästhetischen Aberglauben halten, daß Beethoven mit jenem vierten Satz der Neunten selbst ein feierliches Bekenntnis über die Grenzen der absoluten Musik abgegeben, ja mit ihm die Pforten einer neuen Kunst gewissermaßen entriegelt habe, in der die Musik sogar das Bild und den Begriff darzustellen befähigt und damit dem »bewußten Geiste« erschlossen worden sei? Und was sagt uns Beethoven selbst, indem er diesen Chorgesang durch ein Recitativ einführen läßt: »Ach Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns angenehmere anstimmen und freudenvollere«! Angenehmere und freudenvollere! Dazu brauchte er den überzeugenden Ton der Menschenstimme, dazu brauchte er die Unschuldsweise des Volksgesanges. Nicht nach dem Wort, aber nach dem »angenehmeren« Laut, nicht nach dem Begriff, aber nach dem innig-freudenreichsten Tone griff der erhabene Meister in der Sehnsucht nach dem seelenvollsten Gesammtklange seines Orchesters. Und wie konnte man ihn mißverstehn! Vielmehr gilt von diesem Satze genau dasselbe, was Richard Wagner in Betreff der großen Missa solemnis sagt, die er »ein rein symphonisches Werk des echtesten Beethoven'schen Geistes« nennt. (Beethoven, S. 47.) »Die Gesangstimmen sind hier ganz im Sinne wie menschliche Instrumente behandelt, welchen Schopenhauer diesen sehr richtig auch nur zugesprochen wissen wollte: der ihnen untergelegte Text wird von uns, gerade in diesen großen Kirchencompositionen, – nicht seiner begrifflichen Bedeutung nach aufgefaßt, sondern er dient, im Sinne des musikalischen Kunstwerkes, lediglich als Material für den Stimmgesang und verhält sich nur deswegen nicht störend zu unsrer musikalisch bestimmten Empfindung, weil er uns keineswegs Vernunftvorstellungen anregt, sondern, wie dies auch sein kirchlicher Charakter bedingt, uns nur mit dem Eindrucke wohlbekannter symbolischer Glaubensformeln berührt.« Übrigens zweifle ich nicht, daß Beethoven, falls er die projektirte zehnte Symphonie geschrieben hätte – zu der noch Skizzen vorliegen –, eben die zehnte Symphonie geschrieben haben würde.

Nahen wir uns jetzt, nach diesen Vorbereitungen, der Besprechung der Oper, um von ihr nachher zu ihrem Gegenbild in der griechischen Tragödie fortgehen zu können. Was wir im letzten Satze der Neunten, also auf den höchsten Gipfeln der modernen Musikentwicklung, zu beobachten hatten, daß der Wortinhalt ungehört in dem allgemeinen Klangmeere untergeht, ist nichts Vereinzeltes und Absonderliches, sondern die allgemeine und ewig gültige Norm in der Vokalmusik aller Zeit, die dem Ursprunge des lyrischen Liedes einzig gemäß ist. Der dionysisch erregte Mensch hat ebensowenig wie die orgiastische Volksmasse einen Zuhörer, dem er Etwas mitzutheilen hätte: wie ihn allerdings der epische Erzähler und überhaupt der apollinische Künstler voraussetzt. Es liegt vielmehr im Wesen der dionysischen Kunst, daß sie die Rücksicht auf den Zuhörer nicht kennt: der begeisterte Dionysusdiener wird, wie ich an einer früheren Stelle sagte, nur von Seinesgleichen verstanden. Denken wir uns aber einen Zuhörer bei jenen endemischen Ausbrüchen der dionysischen Erregung, so müßten wir ihm ein Schicksal weissagen, wie es Pentheus, der entdeckte Lauscher, erlitt: nämlich von den Mänaden zerrissen zu werden. Der Lyriker singt »wie der Vogel singt«, allein, aus innerster Nöthigung und muß verstummen, wenn ihm der Zuhörer fordernd entgegentritt. Deshalb würbe es durchaus unnatürlich sein, vom Lyriker zu verlangen, daß man auch die Textworte seines Liedes verstünde, unnatürlich, weil hier der Zuhörer fordert, der überhaupt bei dem lyrischen Erguß kein Recht beanspruchen darf. Nun frage man sich einmal aufrichtig, mit den Dichtungen der großen antiken Lyriker in der Hand, ob sie auch nur daran gedacht haben können, der umherstehenden lauschenden Volksmenge mit ihrer Bilder- und Gedankenwelt deutlich zu werden: man beantworte sich diese ernsthafte Frage, mit dem Blick auf Pindar und die äschyleischen Chorgesänge. Diese kühnsten und dunkelsten Verschlingungen des Gedankens, dieser ungestüm sich neu gebarende Bilderstrudel, dieser Orakelton des Ganzen, den wir, ohne die Ablenkung durch Musik und Orchestik, bei angespanntester Aufmerksamkeit so oft nicht durchdringen können – diese ganze Welt von Mirakeln sollte der griechischen Menge durchsichtig wie Glas, ja eine bildlich-begriffliche Interpretation der Musik gewesen sein? Und mit solchen Gedankenmysterien, wie sie Pindar enthält, hatte der wunderbare Dichter die an sich eindringlich deutliche Musik noch verdeutlichen wollen? Sollte man hier nicht zur Einsicht in Das kommen müssen, was der Lyriker ist, nämlich der künstlerische Mensch, der die Musik sich durch die Symbolik der Bilder und Affekte deuten muß, der aber dem Zuhörer Nichts mitzutheilen hat: der sogar, in völliger Entrücktheit, vergißt, wer gierig lauschend in seiner Nähe steht. Und wie der Lyriker seinen Hymnus, so singt das Volk das Volkslied, für sich, aus innerem Drange, unbekümmert, ob das Wort einem Nichtmitsingenden verständlich ist. Denken wir an unsre eignen Erfahrungen im Gebiete der höheren Kunstmusik: was verstanden wir vom Texte einer Messe Palestrina's, einer Cantate Bach's, eines Oratoriums Händel's, wenn wir nicht etwa selbst mitsangen? Nur für den Mitsingenden giebt es eine Lyrik, giebt es Vokalmusik: der Zuhörer steht ihr gegenüber als einer absoluten Musik.

Nun aber beginnt die Oper, nach den deutlichsten Zeugnissen, mit der Forderung des Zuhörers, das Wort zu verstehn.

Wie? Der Zuhörer fordert? Das Wort soll verstanden werden?

 

Die Musik aber nun gar in den Dienst einer Reihe von Bildern und Begriffen zu stellen, sie als Mittel zum Zweck, zu ihrer Verstärkung und Verdeutlichung, zu verwenden – diese sonderbare Anmaßung, die im Begriff der »Oper« gefunden wird, erinnert mich an den lächerlichen Menschen, der sich mit seinen eignen Armen in die Luft zu heben versucht: was dieser Narr, und was die Oper nach jenem Begriffe versuchen, sind reine Unmöglichkeiten. Jener Opernbegriff fordert nicht etwa von der Musik einen Mißbrauch, sondern – wie ich sagte – eine Unmöglichkeit! Die Musik kann nie Mittel werden, man mag sie stoßen, schrauben, foltern: als Ton, als Trommelwirbel, auf ihren rohesten und einfachsten Stufen überwindet sie noch die Dichtung und erniedrigt sie zu ihrem Wiederschein. Die Oper als Kunstgattung nach jenem Begriff ist somit nicht sowohl Verirrung der Musik, als eine irrthümliche Vorstellung der Ästhetik. Wenn ich übrigens hiermit das Wesen der Oper für die Ästhetik rechtfertige, so bin ich natürlich weit entfernt, damit schlechte Opernmusik oder schlechte Operndichtungen rechtfertigen zu wollen. Die schlechteste Musik kann immer noch der besten Dichtung gegenüber den dionysischen Weltuntergrund bedeuten, und die schlechteste Dichtung Spiegel, Abbild und Wiederschein dieses Untergrundes sein, bei der besten Musik: so gewiß nämlich der einzelne Ton, dem Bild gegenüber, bereits dionysisch, und das einzelne Bild, sammt dem Begriff und Wort der Musik gegenüber, bereits apollinisch ist. Ja selbst schlechte Musik sammt schlechter Poesie kann noch über das Wesen der Musik und der Poesie belehren.

Wenn also zum Beispiel Schopenhauer die Norma Bellini's als Erfüllung der Tragödie, hinsichtlich ihrer Musik und Dichtung, empfand, so war er, in seiner dionysisch-apollinischen Erregung und Selbstvergessenheit, dazu völlig berechtigt, weil er Musik und Dichtung in ihrem allgemeinsten, gleichsam philosophischen Werthe, als Musik und Dichtung überhaupt, empfand: während er mit jenem Urtheil einen nur wenig gebildeten, d. h. historisch vergleichenden Geschmack bewies. Uns, die wir in dieser Untersuchung absichtlich jeder Frage nach dem historischen Werthe einer Kunsterscheinung aus dem Wege gehen und nur die Erscheinung selbst, in ihrer unveränderten gleichsam ewigen Bedeutung, somit auch in ihrem höchsten Typus, in's Auge zu fassen uns bemühn – uns gilt die Kunstgattung der Oper als ebenso berechtigt wie das Volkslied, insofern wir in beiden jene Vereinigung des Dionysischen und Apollinischen vorfinden und für die Oper – nämlich für den höchsten Typus der Oper – eine analoge Entstehung voraussetzen dürfen wie für das Volkslied. Nur insofern die uns historisch bekannte Oper seit ihrem Anfang eine völlig verschiedene Entstehung hat als das Volkslied, verwerfen wir diese »Oper«: als welche sich zu jenem eben von uns vertheidigten Gattungsbegriff der Oper verhält wie die Marionette zum lebenden Menschen. So gewiß auch die Musik nie Mittel, im Dienste des Textes, werden kann, sondern auf jeden Fall den Text überwindet: so wird sie doch sicherlich schlechte Musik, wenn der Componist jede in ihm aufsteigende dionysische Kraft durch einen ängstlichen Blick auf die Worte und Gesten seiner Marionetten bricht. Hat ihm der Operndichter überhaupt nicht mehr als die üblichen schematisirten Figuren mit ihrer ägyptischen Regelmäßigkeit geboten, so wird der Werth der Oper um so höher sein, je freier, unbedingter, dionysischer die Musik sich entfaltet und je mehr sie alle sogenannten dramatischen Anforderungen verachtet. Die Oper in diesem Sinne ist dann freilich im besten Falle gute Musik und nur Musik: während die dabei abgespielte Gaukelei gleichsam nur eine phantastische Verkleidung des Orchesters, vor Allem seiner wichtigsten Instrumente, der Sänger, ist, von der der Einsichtige sich lachend abwendet. Wenn die große Masse sich gerade an ihr ergötzt und die Musik dabei nur gestattet: so geht es ihr wie allen Denen, die den goldenen Rahmen eines guten Gemäldes höher als dieses selbst schätzen: Vermöchte solchen naiven Verirrungen noch eine ernsthafte oder gar pathetische Abfertigung gönnen?

Was wird aber die Oper als »dramatische« Musik zu bedeuten haben, in ihrer möglichst weiten Entfernung von reiner, an sich wirkender, allein dionysischer Musik? Denken wir uns ein buntes leidenschaftliches und den Zuschauer fortreißendes Drama, das als Aktion bereits seines Erfolges sicher ist: was wird hier »dramatische« Musik noch hinzuthun können, wenn sie nichts davonnimmt? Sie wird aber erstens viel davonnehmen: denn in jedem Momente, wo einmal die dionysische Gewalt der Musik in den Zuhörer einschlägt, umflort sich das Auge, das die Aktion sieht, das sich in die vor ihm auftretenden Individuen versenkt hat: der Zuhörer vergißt jetzt das Drama und wacht erst wieder für dasselbe auf, wenn ihn der dionysische Zauber losgelassen hat. Insofern die Musik aber den Zuhörer das Drama vergessen macht, ist sie noch nicht »dramatische« Musik: was ist das aber für Musik, die keine dionysische Gewalt auf den Hörer äußern darf? Und wie ist sie möglich? Sie ist möglich als rein conventionelle Symbolik, in der die Convention alle natürliche Kraft ausgesogen hat: als Musik, die sich zu Erinnerungszeichen abgeschwächt hat: und ihre Wirkung hat darin ihr Ziel, den Zuschauer an Etwas zu mahnen, was ihn beim Anblick des Dramas, zu dessen Verständniß, nicht entgehn darf: wie ein Trompetensignal für das Pferd eine Aufforderung zum Trabe ist. Endlich wäre noch vor Beginn des Dramas und in Zwischenscenen oder in langweiligen, für die dramatische Wirkung zweifelhaften Stellen, ja selbst in seinen höchsten Momenten, eine andere, nicht mehr rein conventionelle Erinnerungsmusik erlaubt, nämlich Aufregungsmusik, als Stimulanzmittel für stumpfe oder abgespannte Nerven. Diese beiden Elemente vermag ich allein in der sogenannten dramatischen Musik zu unterscheiden: eine conventionelle Rhetorik und Erinnerungsmusik und eine vor Allem physisch wirkende Aufregungsmusik: und so schwankt sie zwischen Trommellärm und Signalhorn einher, wie die Stimmung des Kriegers, der in die Schlacht zieht. Nun aber verlangt der durch Vergleichung gebildete und an reiner Musik sich erlabende Sinn für jene beiden mißbräuchlichen Tendenzen der Musik eine Maskerade; es soll »Erinnerung« und »Aufregung« geblasen werden, aber in guter Musik, die an sich genießbar, ja werthvoll sein muß: welche Verzweiflung für den dramatischen Musiker, der die große Trommel maskiren muß durch gute Musik, die aber doch nicht »rein musikalisch« sondern nur aufregend wirken darf! Und nun kommt das große mit tausend Köpfen wackelnde Philister-Publikum und genießt diese sich immer vor sich selbst schämende »dramatische Musik« mit Haut und Haar, ohne etwas von ihrer Scham und Verlegenheit zu merken. Vielmehr fühlt es sein Fell angenehm gekitzelt: ihm wird ja gehuldigt in allen Formen und Weisen, ihm dem zerstreuungssüchtigen mattäugigen Genüßling, der Aufregung braucht, ihm dem eingebildeten Gebildeten, der an gutes Drama und gute Musik wie an gute Kost sich gewöhnt hat, ohne übrigens viel daraus zu machen, ihm dem vergeßlichen und zerstreuten Egoisten, der zum Kunstwerke mit Gewalt und mit Signalhörnern zurückgeführt werden muß, weil fortwährend ihm eigensüchtige Pläne, auf Gewinn oder Genuß gerichtet, durch den Kopf kreuzen. Wehselige dramatische Musiker! »Beseht die Gönner in der Nähe! Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.« »Was plagt ihr armen Thoren viel, zu solchem Zweck, die holden Musen?« Und daß diese von ihnen geplagt, ja gemartert und geschunden werden – sie leugnen es selbst nicht, die Aufrichtig-Unglücklichen!

Wir hatten ein leidenschaftliches den Zuhörer fortreißendes Drama vorausgesetzt, das auch ohne Musik seiner Wirkung gewiß sei: ich fürchte, Das, was an ihm »Dichtung« und nicht eigentliche »Handlung« ist, wird sich zu wahrer Dichtung ähnlich verhalten wie die dramatische Musik zur Musik überhaupt: es wird Erinnerungs- und Aufregungsdichtung sein. Die Poesie wird als Mittel dienen, um conventionsmäßig an Gefühle und Leidenschaften zu erinnern, deren Ausdruck durch wirkliche Dichter gefunden und mit ihnen berühmt, ja normal geworden ist. Sodann wird ihr zugemuthet werden, der eigentlichen »Handlung«, sei das nun eine criminalistische Schreckensgeschichte oder eine verwandlungstolle Zauberei, in den gefährlichen Momenten aufzuhelfen und um die Rohheit der Aktion selbst einen verhüllenden Schleier zu breiten. Im Gefühl der Scham, daß die Dichtung nur Maskerade ist, die kein Tageslicht verträgt, verlangt nun eine solche »dramatische« Dichterei nach der »dramatischen« Musik: wie anderseits dem Dichterling solcher Dramen wieder der dramatische Musiker auf dreiviertel des Wegs entgegenläuft, mit seiner Begabung zur Trommel und zum Signalhorn und seiner Scheu vor ächter, sich vertrauender und selbstgenugsamer Musik. Und nun sehn sie sich und umarmen sich, diese apollinischen und dionysischen Karikaturen, dieses par nobile fratrum!


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