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6.

Während die Imagination Heraklit's das rastlos bewegte Weltall, die »Wirklichkeit«, mit dem Auge des beglückten Zuschauers maß, der zahllose Paare, im freudigen Kampfspiele, unter der Obhut strenger Kampfrichter ringen sieht, überkam ihn eine noch höhere Ahnung; er konnte die ringenden Paare und die Richter nicht mehr getrennt von einander betrachten, die Richter selbst schienen zu kämpfen, die Kämpfer selbst schienen sich zu richten – ja, da er im Grunde nur die ewig waltende eine Gerechtigkeit wahrnahm, so wagte er auszurufen: »Der Streit des Vielen selbst ist die reine Gerechtigkeit! Und überhaupt: das Eine ist das Viele. Denn was sind alle jene Qualitäten dem Wesen nach? Sind sie unsterbliche Götter? Sind sie getrennte, von Anfang und ohne Ende für sich wirkende Wesen? Und wenn die Welt, die wir sehen, nur Werden und Vergehn, aber kein Beharren kennt, sollten vielleicht gar jene Qualitäten eine anders geartete metaphysische Welt constituiren, zwar keine Welt der Einheit, wie sie Anaximander hinter dem flatternden Schleier der Vielheit suchte, aber eine Welt ewiger und wesenhafter Vielheiten?« – Ist Heraklit, auf einem Umwege, vielleicht doch wieder in die doppelte Weltordnung, so heftig er sie verneinte, hineingerathen, mit einem Olymp zahlreicher unsterblicher Götter und Dämonen – nämlich vieler Realitäten – und mit einer Menschenwelt, die nur das Staubgewölk des olympischen Kampfes und das Aufglänzen göttlicher Speere – das heißt nur ein Werden – sieht? Anaximander hatte sich gerade vor den bestimmten Qualitäten in den Schooß des metaphysischen »Unbestimmten« geflüchtet; weil diese wurden und vergiengen, hatte er ihnen das wahre und lernhafte Dasein abgesprochen; sollte es jetzt aber nicht scheinen, als ob das Weiden nur das Sichtbarwerden eines Kampfes ewiger Qualitäten ist? Sollte es nicht auf die eigenthümliche Schwäche der menschlichen Erkenntniß zurückgehn, wenn wir vom Werden reden – während es im Wesen der Dinge vielleicht gar kein Werden giebt, sondern nur ein Nebeneinander vieler wahrer ungewordner unzerstörbarer Realitäten?

Dies sind unheraklitische Auswege und Irrpfade: er ruft noch einmal: »Das Eine ist das Viele.« Die vielen wahrnehmbaren Qualitäten sind weder ewige Wesenheiten, noch Phantasmata unsrer Sinne (als jene denkt sie sich später Anaxagoras, als diese Parmenides), sie sind weder starres selbstherrliches Sein, noch flüchtiger in Menschenköpfen wandelnder Schein. Die dritte, für Heraklit allein zurückbleibende Möglichkeit wird Niemand mit dialektischem Spürsinn und gleichsam rechnend errathen können: denn was er hier erfand, ist eine Seltenheit, selbst im Bereiche mystischer Unglaublichkeiten und unerwarteter kosmischer Metaphern. – Die Welt ist das Spiel des Zeus, oder physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst, das Eine ist nur in diesem Sinne zugleich das Viele. –

Um zunächst die Einführung des Feuers als einer weltbildenden Kraft zu erläutern, erinnere ich daran, in welcher Weise Anaximander die Theorie vom Wasser als dem Ursprung der Dinge weitergebildet hatte. Im Wesentlichen darin Thales Vertrauen schenkend und seine Beobachtungen stärkend und vermehrend, war Anaximander doch nicht zu überzeugen, daß es vor dem Wasser und gleichsam hinter dem Wasser keine weitere Qualitätsstufe gäbe: sondern aus Warm und Kalt schien ihm das Feuchte selbst sich zu bilden, und Warm und Kalt sollten daher die Vorstufen des Wassers, die noch ursprünglicheren Qualitäten sein. Mit ihrer Ausscheidung aus dem Ursein des »Unbestimmten« beginnt das Werden. Heraklit, der als Physiker sich der Bedeutung Anaximander's unterordnete, deutet sich dieses anaximandrische Warme um als den Hauch, den warmen Athem, die trocknen Dünste, kurz als das Feurige: von diesem Feuer sagt er nun Dasselbe aus, was Thales und Anaximander vom Wasser ausgesagt hatten, es durchlaufe in zahllosen Verwandlungen die Bahn des Werdens, vor Allem in den drei Hauptzuständen, als Warmes, Feuchtes, Festes. Denn das Wasser geht theils im Niedersteigen zur Erde, im Aufsteigen zum Feuer über: oder wie sich Heraklit genauer ausgedrückt zu haben scheint: aus dem Meere steigen nur die reinen Dünste auf, welche dem himmlischen Feuer der Gestirne zur Nahrung dienen, aus der Erde nur die dunklen, nebeligen, aus denen das Feuchte seine Nahrung zieht. Die reinen Dünste sind der Übergang des Meeres zum Feuer, die unreinen der Übergang der Erde zum Wasser. So laufen fortwährend die beiden Verwandlungsbahnen des Feuers, aufwärts und abwärts, hin und zurück, nebeneinander her, vom Feuer zum Wasser, von da zur Erde, von der Erde wieder zurück zum Wasser, vom Wasser zum Feuer. Während Heraklit in den wichtigsten dieser Vorstellungen, zum Beispiel darin, daß das Feuer durch die Ausdünstungen unterhalten wird, oder darin, daß aus dem Wasser theils Erde, theils Feuer sich absondert, Anhänger des Anaximander ist, so ist er darin selbständig und im Widerspruch mit Jenem, daß er das Kalte aus dem physikalischen Proceß ausschließt, während Anaximander es als gleichberechtigt neben das Warme gestellt hatte, um aus beiden das Feuchte entstehen zu lassen. Dies zu thun war freilich für Heraklit eine Nothwendigkeit: denn wenn Alles Feuer sein soll, so kann, bei allen Möglichkeiten seiner Umwandlung, es doch Nichts geben, was sein absoluter Gegensatz wäre; er wird also Das, was man das Kalte nennt, nur als Grad des Warmen gedeutet haben und konnte diese Deutung ohne Schwierigkeiten rechtfertigen. Viel wichtiger aber als diese Abweichung von der Lehre Anaximander's ist eine weitere Übereinstimmung: er glaubt wie Jener an einen periodisch sich wiederholenden Weltuntergang und an ein immer erneutes Hervorsteigen einer andern Welt aus dem Alles vernichtenden Weltbrande. Die Periode, in der die Welt jenem Weltbrande und der Auflösung in das reine Feuer entgegeneilt, wird von ihm höchst auffallender Weise als ein Begehren und Bedürfen charakterisirt, das volle Verschlungensein im Feuer als die Sattheit; und es bleibt uns die Frage übrig, wie er den neuen erwachenden Trieb der Weltbildung, das Sich-Ausgießen in die Formen der Vielheit, verstanden und benannt hat. Das griechische Sprüchwort scheint uns mit dem Gedanken zu Hülfe zu kommen, daß »Sattheit den Frevel (die Hybris) gebiert«; und in der That kann man sich einen Augenblick fragen, ob Heraklit vielleicht jene Rückkehr zur Vielheit aus der Hybris hergeleitet hat. Man nehme diesen Gedanken einmal ernst: in seiner Beleuchtung verwandelt sich, vor unseren Blicken, das Gesicht Heraklit's, das stolze Leuchten seiner Augen erlischt, ein faltiger Zug schmerzlicher Entsagung, der Ohnmacht prägt sich aus, es scheint, daß wir wissen, warum das spätere Alterthum ihn den »weinenden Philosophen« nannte. Ist jetzt nicht der ganze Weltproceß ein Bestrafungsakt der Hybris? Die Vielheit das Resultat eines Frevels? Die Verwandlung des Reinen in das Unreine Folge der Ungerechtigkeit? Wird jetzt nicht die Schuld in den Kern der Dinge verlegt, und somit zwar die Welt des Werdens und der Individuen von ihr entlastet, aber zugleich ihre Folgen zu tragen immer von Neuem wieder verurtheilt?


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