Margarete von Navarra
Das Heptameron
Margarete von Navarra

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Das Heptameron

Wie sich die Gesellschaft zusammenfand.

In den ersten Septembertagen, der Zeit, da der Besuch in den Badeorten der Pyrenäen beginnt, befanden sich in Cauterets mehrere Personen verschiedener Nationalität; aus Frankreich, Spanien und anderwärts waren sie gekommen, die einen, um die Quellen zu trinken, die andern, um zu baden, wieder andere für Moorbehandlung, die in wunderbarer Weise selbst aufgegebene Kranke zu heilen vermag. Doch davon soll hier nicht erzählt werden. Zur Sache gehört nur, daß die Kranken dort über drei Wochen blieben, bis ihre Heilung genügend vorgeschritten war, um ihre Abreise zu ermöglichen. Aber gerade da traten so ungewöhnlich schwere Regengüsse ein, daß man meinen konnte, Gott habe sein Noah gegebenes Versprechen, die Welt nicht mehr durch Wasser zu vernichten, vergessen; alle Hütten und Wohnhäuser von Cauterets wurden dermaßen überschwemmt, daß ein Bleiben unmöglich wurde.

Wer aus Spanien gekommen war, kehrte, so gut es eben die Verhältnisse erlaubten, über die Berge heim, und wer sonst die Wege gut kannte, kam mit heiler Haut davon. Die französischen Herren und Edelfrauen hingegen, die da vermeinten, sie könnten ebenso leicht nach Tarbes zurückkehren, wie sie gekommen waren, fanden die kleinen Bäche derart angeschwollen, daß sie selbst Furten kaum passieren konnten. Die bearner Gade vollends, die auf dem Hinwege kaum zwei Fuß Tiefe aufgewiesen hatte, war nunmehr so wasserreich und reißend, daß sie abbogen und nach Brücken suchten. Doch die waren aus Holz gewesen und fortgerissen worden. Wohl versuchten einige der Reisenden, gemeinschaftlich der Strömung zu trotzen. Aber sie wurden so schnell fortgeschwemmt, daß die übrigen den Mut verloren. Da man sich über die Wahl des Weges, der nun einzuschlagen war, nicht einig wurde, trennte sich die Gesellschaft. Einige gingen über die Bergeshöhen und gelangten durch Aragonien und die Grafschaft Roussillon nach Narbonne; andere brachen nach Barcelona auf, um auf dem Seewege heimzukehren. Eine wohlerfahrene Wittib aber (sie hieß Oisille) entschlug sich aller Furcht vor den schlechten Wegen und beschloß, nach Notre-Dame de Serrance aufzubrechen; denn sie war sicher, daß die Mönche dort Möglichkeiten finden würden, den Gefahren zu entgehen – sofern es überhaupt solche Möglichkeiten gab. Unzugängliche Orte und gewaltige Steigungen mußte sie überwinden, also daß sie trotz ihres Gewichtes und Alters große Strecken zu Fuß zurücklegen mußte. Aber schließlich kam sie zum Ziel. Nur blieb fast ihr gesamter Troß an Dienern und Pferden auf der Strecke liegen, und so gelangte sie mit nur einem Knecht und einer Magd in Serrance an, wo sie gastlich bei den Mönchen Aufnahme fand.

Zwei französische Edelleute, die den Badeort nur aufgesucht hatten, um die Damen zu begleiten, denen sie den Hof machten, waren auch dabei, als die Gesellschaft sich trennte. Da die Gatten mit ihren Frauen einen eigenen Weg einschlugen, beschlossen die beiden Herren, ihnen von weitem zu folgen, ohne etwas darüber verlauten zu lassen.

Doch eines Abends kamen die beiden Ehemänner mit ihren Frauen zum Haus eines Mannes, der mehr Bandit als Bauer war, und suchten dort Unterkunft. Die jungen Edelleute mieteten sich im Nachbarhause ein.

Plötzlich, um Mitternacht, vernahmen sie nebenan gewaltigen Lärm. Schnell sprangen sie auf, und mit ihnen die Diener. Sie fragten ihren Wirt, was der Lärm bedeute. Der arme Kerl zitterte selbst vor Angst und erklärte, das sei schlimmes Gesindel, das von seinem Gefährten, jenem Banditen, sein Beuteteil verlange. Nun griffen die Edelleute flugs zu den Waffen und eilten mit ihren Dienern den Damen zu Hilfe. Denn lieber wollten sie für sie sterben, als ihren Tod überleben. Als sie in das Gasthaus kamen, fanden sie schon die erste Tür erbrochen und die beiden Ehemänner nebst ihren Dienern in mutigem Verteidigungskampfe. Doch die Banditen waren bei weitem in der Übermacht, die Herren selbst schon verwundet, ein Teil der Diener gefallen, so daß sie zu weichen begannen. Durch die Fenster erblickten die beiden Edelleute die Frauen, so erbärmlich weinten und erschrecklich jammerten und schrien. Da schwoll ihr Herz vor Mitleid und Liebe, und wie zwei wütende Bären vom Berge herab stürzten sie sich auf die Banditen und hieben dergestalt wild auf sie ein, daß ihrer ein großer Teil fiel, der Rest ohne Zaudern davonlief. Auch der Wirt war gefallen, und die Wirtin, die, wie sie hörten, noch schlimmer war als er, wurde durch einen Degenstich ihm ins Jenseits nachbefördert. In der niederen Stube fanden sie den einen Ehemann im Sterben. Der andere war gut davongekommen, nur sein Gewand war von Dolchstichen zerfetzt und sein Degen zerbrochen. Er dankte ihnen für ihre Hilfe, umarmte sie und bat, ihn nicht mehr zu verlassen. Dazu waren sie gern bereit.

Alsdann begruben sie den toten Edelmann, trösteten nach Vermögen sein Weib und machten sich aufs Geradewohl wieder auf den Weg. Wollt ihr nun die Namen erfahren, so wisset: der Ehemann hieß Hircan, seine Frau Parlamente, die verwitwete Dame Longarine, die beiden jungen Herren Dagoucin und Saffredant. Nachdem sie einen ganzen Tag im Sattel verbracht hatten, erblickten sie gegen Abend einen Glockenturm. So gut es ging, doch nicht ohne Beschwer, gelangten sie zu dem Kloster und wurden vom Abt und den Mönchen gastlich empfangen. Die Abtei hieß Saint-Savin; der Abt stammte aus einer angesehenen Familie. Er brachte sie trefflich unter, führte sie alsdann in seine Wohnung und fragte sie nach ihren Erlebnissen. Als er alles gehört hatte, versicherte er ihnen, sie seien nicht die einzigen, denen es so ergangen sei. In einem anderen Zimmer befänden sich zwei Damen, die einer fast noch schlimmeren Gefahr knapp entronnen seien, denn eine halbe Meile von Pierrefite seien die ärmsten von einem Bären angefallen worden. Vor dem seien sie so schnell davongejagt, daß die Pferde tot unter ihnen zusammenbrachen, als sie hier angelangt wären. Viel später wären auch noch zwei ihrer Mägde eingetroffen und hätten erzählt, daß der Bär die ganze übrige Dienerschaft getötet habe.

Daraufhin suchten alle die beiden Damen in ihrem Zimmer auf und fanden sie in Tränen aufgelöst. Sie hießen Nomerfide und Emarsuitte. Nach vielen Umarmungen wurden alle Erlebnisse ausgetauscht. Der Abt wies sie in trostreichen Worten darauf hin, daß sie sich ja nun also wiedergefunden hätten, und so gewannen sie allmählich die Fassung wieder. Voll Hingebung wohnten sie tags darauf der Frühmesse bei und priesen Gott für ihre Rettung. Doch plötzlich stürzte ein Mann, nur mit einem Hemd bekleidet, in die Kirche und schrie laut um Hilfe. Sofort eilte Hircan mit den andern Edelleuten zu ihm, um zu sehen, wer ihn verfolge und erblickte zwei Männer mit gezückten Degen. Die wollten vor so vielen Kämpen eilends flüchten. Doch jene drangen auf sie ein, also daß sie ihr Leben lassen mußten. Und als nun Hircan zurückkehrte, erkannte er in dem Mann im Hemd einen seiner Gefährten, namens Guebron. Der erzählte, er habe in einem Landhäuschen bei Pierrefite Unterkunft gefunden. Als er im Bett lag, seien drei Männer in sein Zimmer gedrungen. Einzig geschützt durch seinen Degen habe er den einen der drei tödlich getroffen und sich dann, während die beiden ihren Gefährten plünderten, klargemacht, daß sein Heil vor diesen wohlgewappneten Burschen nur in der Flucht lag, um so mehr, als er unbekleidet leichtfüßiger war. Dann pries er Gott und seine Rächer.

Nach der Messe und dem Mittagsmahl erfuhren sie, daß die Gave noch unpassierbar war, und gerieten in tiefe Sorge. Doch der Abt drang in sie, zu bleiben, bis das Wasser gesunken sei, und das nahmen sie für diesen Tag an. Als sie abends schlafen gehen wollten, kam ein Mönch, der berichtete, er sei der Überschwemmungen wegen über die Berge gekommen und habe nie je so ungangbare Wege erlebt. Doch etwas Trauriges sei ihm widerfahren, denn er habe einen Edelmann, Simontault, getroffen. Der hätte das Sinken des Wassers nicht abwarten, sondern den Übergang erzwingen wollen. Im Vertrauen auf sein gutes Pferd hieß er seine Diener, ihn zu umkränzen und die Strömung zu hemmen. Aber in einem scharfen Strudel wurden diese auf Nimmerwiedersehen fortgerissen, weil sie schlecht beritten waren. Als der Edelmann sich allein sah, kehrte er um, und Gott wollte, daß er zwar reichlich Wasser schlucken mußte, doch endlich todesmatt auf allen Vieren das steinige Ufer erklimmen konnte. Dort stand ihm ein Hirt bei, der ihn gegen Abend fand, als er durchnäßt dasaß und traurig über den Untergang all dieser Leute brütete. Der Hirt begriff bei seinem Anblick und seinen Worten seine Hilfsbedürftigkeit, nahm ihn mit in seine Hütte und trocknete ihn vor einem armseligen Feuer nach Möglichkeit. Und am gleichen Abend kam auch der Mönch herzu und wies ihm den Weg nach Notre-Dame de Serrance, wo er bestmögliche Unterkunft und zudem in einer alten Wittib, namens Oisille, eine Leidensgefährtin finden konnte.

Voller Freuden hörte die Gesellschaft von der guten Frau Oisille und dem wackeren Simontault berichten. Sie lobten alle Gott, der sich mit den Dienern begnügt und die Herrschaften gerettet hatte, und zumal Parlamente lobte ihn von Herzen, denn einstmals war sie diesem Ritter gar wohlgewogen gewesen. Schnell erkundete man den Weg nach Serrance, obgleich der Greis ihn als gar beschwerlich geschildert hatte, und gleich am nächsten Tage brachen sie, mit allem wohl versehen, auf. Mehr zu Fuß als zu Roß und schweißbedeckt erreichten sie schließlich das Kloster, und aus Furcht vor ihrem Beschützer, dem Herrn von Béarn, wagte der Abt ihnen eine Unterkunft nicht zu verweigern, obgleich er sonst nicht gerade gutherzig war. Er bemühte sich, freundlich zu erscheinen, und führte sie schließlich zu der wackeren Oisille und dem edlen Simontault. Die Freude all dieser Gefährten, die sich auf so schier wunderbare Weise wiedergetroffen hatten, war derart groß, daß ihnen die Nacht zu kurz schien für die Lobgesänge, die sie Gott zum Preise seiner erzeigten Gnade anstimmten. Kaum hatten sie gegen Morgen etwas der Ruhe gepflegt, so eilten sie schon zur Messe und flehten den, der sie vereint hatte, um die Gunst an, die Reise ihm zum Ruhme glücklich vollenden zu dürfen.

Nach der Mahlzeit erfuhren sie durch ausgeschickte Boten, daß die Fluten eher geschwollen denn gefallen waren, und beschlossen nun, zwischen zwei nahestehenden Felsen eine Brücke zu schlagen. Noch heute gibt es dort Planken für Fußgänger, die trockenen Fußes von Oleron her die Gave überschreiten wollen. Gern stellte ihnen der Abt die nötigen Arbeiter. Denn so sparte er die Kosten und hatte zu hoffen, daß dann mehr Pilger und Bauern das Kloster besuchen würden. Selbst gab er keinen Heller her, denn sein Geiz war unerbittlich.

Da nun die Arbeiter versicherten, die Brücke könne vor zehn oder zwölf Tagen nicht fertig werden, so begann die Gesellschaft, so Männer als Frauen, sich zu langweilen. Aber Hircans Weib, Parlamente, war nie müßig oder trübselig. Sie erbat von ihrem Gatten die Erlaubnis zu reden und sagte zu Oisille, der alten Dame: »Ich bin baß erstaunt, daß Ihr, edle Frau, die Ihr also erfahren seid und gleichsam Mutterstelle bei den Damen hier vertretet, keinerlei Kurzweil bedenkt, um all die Langeweile für die Dauer unseres Aufenthaltes zu bannen. Sicherlich laufen wir Gefahr, krank zu werden, wenn wir keine vergnügsame und tugendliche Beschäftigung finden.« Und Longarine, die junge Wittib, fügte hinzu: »Schlimmer noch: wir werden unheilbar verdrießlich werden. Denn jeder von uns hat Grund zu schlimmster Trübsal, wenn er seine Verluste erwägt.« Emarsuitte warf lachend dazwischen: »Nicht jede hat gleich Euch den Gatten verloren, und der Verlust der Dienerschaft ist nicht zum Verzweifeln, maßen sie zu ersetzen ist. Immerhin teile ich die Ansicht, daß man eine Kurzweil ausdenken sollte, die uns die Zeit möglichst vergnüglich vertreibt.« Ihre Gefährtin Nomerfide stimmte bei, denn, meinte sie, ein Tag ohne Zeitvertreib könne sie umbringen, und alle die Edelleute schlossen sich der Bitte an, Frau Oisille möge ihnen Vorschläge machen. Worauf jene erwiderte:

»Was fordert ihr doch für schwierige Dinge von mir, meine Kinder. Eine Kurzweil soll ich finden, um euch die Langeweile zu vertreiben. Aber mein Leben lang habe ich danach gesucht und nur eines gefunden: heilige Bücher zu lesen. Darin fand ich wahre und vollkommene Geistesfreude, so Ruhe und körperliche Frische zeitigt. Fragt ihr mich, was mich im Alter so froh und gesund erhält, so erwidere ich: sowie ich aufgestanden bin, nehme ich die Heilige Schrift und lese und erblicke darin den Willen Gottes, der seinen Sohn auf die Erde sandte, um dies heilige Wort und frohe Botschaft zu künden, nämlich die Vergebung der Sünden und Tilgung aller Schuld durch seine Liebe, sein Leiden und seinen Opfertod. Diese Betrachtung gibt mir so viel Freude, daß ich meinen Psalter nehme und, so demütig ich kann, die schönen Psalmen und Gesänge spreche, die der Heilige Geist in Davids und der andern Dichter Herz entstehen ließ. So viel Befriedigung gewinne ich daraus, daß alles Leid, das mir Tag um Tag widerfahren mag, als Segen erscheint, denn gläubig trage ich in meinem Herzen den, der mir es schickt. Und gleichermaßen ziehe ich mich abends nach dem Essen zurück, um meine Seele mit Belehrungen zu speisen; und schließlich lasse ich alle Ereignisse des Tages an meinem Geiste vorüberziehen, bitte für alle Fehler um Verzeihung, danke für die erwiesenen Gnaden und lege mich in der Liebe, der Furcht und dem Frieden des Herrn zur Ruhe nieder, da ich gegen alle Übel gewappnet bin. Das, meine Kinder, ist meine Kurzweil, und befriedigendere habe ich trotz langen Suchens nicht gefunden. Wolltet ihr allmorgendlich eine Stunde also lesen und während der Messe inbrünstig beten – sicher würdet ihr in dieser Öde all die Schönheit finden, so die Städte bieten können. Denn wer Gott kennt, findet alles in ihm schön, alles außer ihm häßlich. Drum befolgt meinen Rat, wenn ihr froh leben wollt.«

Nun nahm Hircan das Wort und sprach: »Alle, die wir die Heilige Schrift gelesen haben, edle Frau (und sicher gibt es keine Ausnahme unter uns), alle gestehen wir gern, daß Ihr wahr sprachet. Doch schaut, wir sind noch nicht so gebrechlich, um Zeitvertreib und körperliche Übung entbehren zu können. Daheim haben wir Jagd und Vogelfang, die alle dummen Gedanken vertreiben und fernhalten. Die Frauen haben ihren Hausstand, ihre Arbeit und bisweilen eine Tanzgelegenheit, an der sie in allen Ehren teilnehmen. So muß ich, wenigstens in der Männer Namen, sagen: Ihr, als älteste unter uns allen, lest uns morgens vor, welch Leben unser Herr Jesus Christus führte und welch erhabene und wundervolle Werke er für uns vollbrachte. Doch nach dem Mittagsmahle bis zur Vesperstunde müssen wir eine Kurzweil treiben, die unserm Leibe behagt und unserer Seele nicht schadet. Und solchermaßen werden wir den Tag froh verbringen.«

Frau Oisille entgegnete, sie gäbe sich so viel Mühe, alle Eitelkeiten des Lebens zu vergessen, daß sie gewißlich nichts Geeignetes finden würde. Man solle die Stimmenmehrheit entscheiden lassen und Hircan seine Meinung zuerst äußern. Der sprach: »Ich meinesteils wäre schnell entschieden, wenn es gälte, eine Kurzweil zu finden, die einer Gefährtin gleichermaßen vergnüglich wäre wie mir. Drum will ich vorderhand schweigen und hören, was die andern meinen.« Parlamente, sein Weib, wurde rot, denn sie bezog die Bemerkung auf sich. Halb zornig, halb lachend rief sie: »Hircan, – vielleicht weiß jene, die Ihr durch Eure Worte am meisten zu betrüben vermeintet, recht wohl, wie sie Euch das vergelten kann, wenn es ihr beifällt! Doch wir wollen nun Zeitvertreibe, daran nur zwei zugleich teilnehmen können, beiseite lassen und von gemeinsamen Beschäftigungen reden.« Nun wandte sich Hircan an alle Damen: »Da meine Frau so wohl den Sinn meiner Worte verstanden hat, so wird sie, meine ich, auch besser als jeder andere zu sagen wissen, was uns allen Freude schaffen würde. Drum bin ich von Stund' an ohnbedingt ihrer Meinung.« Alle stimmten zu, und Parlamente, die sah, daß das Los auf sie gefallen war, hub also an:

»Hielte ich mich für fähig, gleich den Alten, die der Künste viele ersannen, ein neues Spiel zu erfinden, ich tät's, um die übertragene Aufgabe zu erfüllen. Doch maßen ich mich angesichts meiner Kenntnisse und Gaben kaum der Dinge erinnern kann, die schon von andern geleistet wurden, so bin ich froh, dem Beispiel derer folgen zu können, die schon eine der euren ähnliche Aufgabe lösten. Sicher gibt's zum Beispiel keinen unter euch, der nicht Boccaccios ›Hundert Novellen‹ las, von deren Übersetzung ins Französische der Allerchristliche König Franz, seines Namens der erste, der Herr Dauphin, dessen hohe Gemahlin und die Prinzessin Margarete so viel des Lobes gesagt haben, daß davon Boccaccio sicherlich wieder auferstanden wäre, wenn er es in seinem Grabe vernommen hätte. Dermalen hörte ich jene hohen Frauen und andere Hofleute darüber beratschlagen, wie man gleiches zustande bringen könne, in einem nur von Boccaccio verschieden: jegliche dieser Novellen sollte ausschließlich wahre Vorfälle behandeln. Vor allen entschlossen sich jene Damen und mit ihnen der Herr Dauphin, jedweder wolle zehn Geschichten schreiben und zudem wollte man – unter Ausschluß aller, die den Wissenschaften und der Schriftstellerei oblägen – die fähigsten Erzähler wählen, bis sie insgesamt zehn an der Zahl wären. Denn der Herr Dauphin wollte keinesfalls, daß Kunstinteressen sich einmischten und die schöne Phrase irgendwie die geschichtliche Wahrheit beeinflusse. – Seitdem haben große Ereignisse den König in Anspruch genommen, der Friedensschluß mit dem König von Engelland, die Niederkunft der hohen Gemahlin des Dauphin und andere wichtige Vorfälle beschäftigten den Hof, und so geriet jenes Vorhaben in Vergessenheit. Wir aber können es wohl durchführen, während wir die Herstellung der Brücke erwarten. Und wenn es euch behagt, vom Mittag bis vier Uhr diese schöne Wiese aufzusuchen, die an den Ufern der Gave sich hinbreitet, und wo also dichtbelaubte Bäume stehen, daß der Sonne Strahl nicht durchzudringen vermag, noch des Haines Kühle zu verjagen: so wollen wir hier, behaglich hingelagert, jedweder eine Geschichte erzählen, die wir entweder selbst erlebt oder von vertrauenswürdiger Seite gehört haben. In zehn Tagen kann das Hundert voll sein. Und wenn es Gott fügt, daß unser Werk Gnade finden könnte vor jenen Herrschaften, so wollen wir es ihnen nach unserer Rückkunft unterbreiten. Ich kann die Versicherung geben, daß ihnen dieses Geschenk genehm wäre. Sollte indessen jemand unter uns eine bessere Kurzweil finden, so will ich mich dem gern anschließen.«

Doch die ganze Gesellschaft vermeinte, unmöglich besseres ersinnen zu können, und man konnte schier den nächsten Tag nicht erwarten, um zu beginnen. So verbrachten alle diesen Tag guter Dinge und plauderten untereinander von ihren Erlebnissen. Kaum brach dann der neue Morgen an, so eilten sie zur Stube der Frau Oisille. Die gute Dame war schon in Gebete versunken. Man lauschte ihren Worten eine gute Stunde, dieweil sie las, besuchte dann andächtig die Messe und ging um zehn Uhr zu Tisch. Danach kehrte jeder in sein Zimmer zurück, um das seinige zu versorgen, und pünktlich um zwölf Uhr fanden sich alle auf der Wiese ein, wie vereinbart war. Dort war es also schön und vergnüglich, daß es eines Boccaccio bedürfte, um die Wahrheit zu treffen – genug, es war schier ohnegleichen. Als alle auf dem grünen Pflanzenbette hingelagert waren, das sich weich und zart hinbreitete und jeglichen Pfühl entbehrlich machte, hub Simontault also an:

»Wer von uns wird die Oberleitung über uns alle übernehmen?« – »Da Ihr zuerst sprachet,« meinte Hircan, »so möget Ihr auch die Leitung haben; denn im Spiel sind wir alle einander gleichgestellt.« – »Gebe Gott,« rief Simontault, »daß mir so Herrliches beschieden wurde, euch allen hier befehlen zu dürfen.« Parlamente verstand ihn recht wohl und hüstelte, damit Hircan die ihr aufsteigende Röte nicht merkte. Der sprach zu Simontault: »So beginnt mit einer schönen Geschichte, und alle werden Eueren Worten lauschen.« Darob hub jener an:

»Meine Damen, für langes Liebeswerben bin ich schlecht gelohnt worden. So will ich aus Rache für jene, die so grausam war, von üblen Streichen plaudern, die armen Männern von den Frauen gespielt wurden. Ich werde wahrhaftig sein und die lautere Wahrheit berichten.«


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