Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11. Bei den Großeltern.

Vier Tage war Elisabeth bei den Großeltern, als die Mutter abreiste. Sie ließ ihr Töchterlein und auch ihre Sorgen zurück. Die Großeltern waren beide so sehr ruhig, sie hatten schon mehr in der Welt erlebt. Die Oberförsterin hatte auch in ihrer Jugend eine thörichte Liebe gehabt, und hatte nachher einen so braven Mann bekommen. Elisabeths warmes Herz wird noch öfter etwas schneller klopfen, und Herr von Kadden darf gegen ein so hübsches Mädchen aufmerksam sein, ohne ernstliche Absichten zu haben. Die Großeltern wollten aber doch die Sache ernstlich untersuchen, der Großmama sollte es nicht schwer werden, Elisabeths Herz zu erforschen, sie war ja des Kindes allerbeste Freundin. Elise mußte das zugeben, obwohl sie ein bitteres Gefühl dabei nicht überwinden konnte. Zu ihrer Entschuldigung sagte sie: Elisabeth ist so viel bei der Großmutter gewesen, es ist ja ganz natürlich. Es ist aber doch entsetzlich schwer, wenn eine erwachsene Tochter dem Mutterherzen fremd ist, wenn sie nie kommt, sich warm anzuschmiegen und einen Blick des Verständnisses zu suchen. Zwischen Elisabeth und der Mutter war das aber nie eingeführt, die Mutter war ihr immer eine treue Lehrerin und Rathgeberin, aber nie die Vertraute ihrer kindischen Vergnügungen und Fantasien, nie eine warme fröhliche Freundin ihrer Jugend gewesen; woher sollte jetzt plötzlich eine so innige Gemeinschaft, das Bedürfniß nach Mittheilung kommen? Während Elise immer wieder dasselbe Thema überlegte und sich selbst damit peinigte, war Elisabeth bei den Großeltern sehr vergnügt, ihre tanzenden Füße und ihre singende Stimme wurden Trepp auf Trepp ab gehört, sie unterhielt Charlottchen und Onkel Karl und die Wirthschafterin und den alten Friedrich, kommandirte, wo es irgend ging, und fühlte und versicherte nur den zu sehr geliebten und zu sehr verehrten Großeltern gegenüber, daß sie noch etwas unvollkommen sei und sich noch etwas ändern müsse. Der Kürassier-Lieutenant war von den Großeltern bald vergessen, Elisabeth schien auch Besseres zu thun zu haben, als sich mit einer geheimen Neigung umherzutragen.

Den Tag, nachdem Elisabeths Mutter abgereist, war es in der Welt sehr kalt und sehr nebelig; Mittag erst drang die Sonne durch, erst mit einigen Strahlen, dann immer heller und heller glänzend besiegte sie die Nebelmassen und schuf zugleich eine Pracht- und Wunderscene. Sterne und Blüthen waren auf die Welt gesäet und schmückten und umstrahlten die mächtigsten Bäume, wie die kleinsten Blumen und Gräser. Die Großeltern hatten Mittagsruhe gehalten, sie traten an das Fenster und schauten in herzlicher Bewunderung die Schönheit an.

Man braucht gar nicht große Reisen zu machen, sagte die Großmama, um die Wunder der Erde zu sehen.

Ja, liebes Mariechen, entgegnete der Großpapa, man hat nur aus seinem Fenster zu sehen; dies ist doch ein Schöpferwerk, das eine Menschenseele zum Staunen und Preisen zwingt. – Er machte ein Fenster auf und ihre Augen schauten weit hin über diese winterliche Frühlingspracht.

Der kleine Garten, der hinter dem Hause lag, jetzt nicht mehr durch die alte Mauer von der Wiese getrennt, die Wiese aber war mit hübschen Baumgruppen bepflanzt und mit einer Hecke eingefaßt. Es war dies der Großmama erster Wunsch, als sie das Haus bezog. Schwager Karl hatte die Ausführung nicht leicht gefunden, weil einige Wege, die durch die Wiese sich schlängeln mußten, dem Futterbaue Abbruch thaten, aber er hatte sich endlich gutmüthig gefügt. Aus den Fenstern des Wohnzimmers schauten die Großeltern bis zu den Tannenbergen, und es war ihnen Winter und Sommer dieser offene Blick in die schöne weite Welt eine Freude.

Beim Oeffnen des Fensters hatte sich eine ganze Schaar von niedlichen kleinen Haubenlerchen und Goldammern eingefunden, sie hüpften und tanzten auf dem weißen Schnee herum, pickten an den Kristall-Blüthen hier und dort, aber schienen doch noch etwas Besseres zu erwarten. Die Großmutter griff lächelnd nach einem Kästchen mit Futter, sie streute aus und hatte eine kindliche Freude über die kleinen hungrigen Geschöpfe, und ihr Mann stand betrachtend dabei und schaute glücklich auf die lieben hellen Augen, die ihn in der Jugend entzückt und die jetzt noch seines Herzens Lust und Wonne waren.

Das vereinzelte Klingeln eines Schellengeläutes drang jetzt her. Wirklich! sagte der Großpapa lachend, Elisabeth hat sich den alten Schlitten von Friedrich vorholen lassen.

Wenn es ihr nur Vergnügen macht! sagte die Großmama gütig.

Da knarrte der Thorweg, der vom Hofe nach dem Garten führte, und Ypsilanti erschien, ein rothsammetnes Schellengeläute auf dem breiten weißen Rücken, dahinter Elisabeth in einem Schlitten, an dem ein ganzer Sternenhimmel prangte, und sie selbst in feinster Toilette, – man sah es ihr an, daß sie imponiren wollte. Hintenauf aber – nein, da mußten die Großeltern beide herzlich lachen, – da saß Friedrichs schlanker Stalljunge in Stulpenstiefeln, Tressenhut und dem lederfarbenen Reitfrack, mit einer mächtigen Peitsche bewaffnet knallte er pflichtmäßigst, während Elisabeth die Zügel führte und den bedächtigen Trab des Ypsilanti leitete.

Das Ganze sieht übrigens allerliebst aus, versicherte die Großmama.

Elisabeth mit triumfierenden Blicken fuhr bei den Großeltern vor, um sich versichern zu lassen, daß dieses ganze Arrangement schön genug sei, um Oberförsters Kinder in der Stadt herum zu fahren. Der Großpapa war mit dieser Versicherung schnell bei der Hand. Er sagte das Ganze habe einen fürstlichen Anstrich, sie werde Woltheim damit alarmiren. Er fügte noch einige Regeln wegen des rechtzeitigen Hott und Hü dazu, um den entgegenkommenden Wagen nicht in die Räder zu fahren, und Elisabeth, die nicht zum erstenmal den Zügel hielt, verließ durch denselben Thorweg den Garten, um sich auf dem Hofe erst von Onkel Karl und von Charlottchen bewundern zu lassen und dann nach der Oberförsterei zu fahren.

Hier entstand ein völliger Aufstand bei ihrem Erscheinen, Hof- und Hauspersonal versammelte sich um die elegante Schlittenequipage, und die Kinder nahmen mit Staunen und Entzücken die Plätze neben der kühnen und schönen Berliner Cousine ein. Die Frau Oberförsterin schüttelte zwar etwas bedenklich den Kopf zu diesem ganz und gar jugendlichen Inhalt des Schlittens, ihr Mann aber beruhigte sie, daß Ypsilanti Alter und Bedächtigkeit für alle zusammen habe, und selbst das Ausbiegen allein besorgen werde.

So ging es glänzend durch die Stadt. Die kleinen Häuser und die großen Häuser und die Stadtkirche und das alte Rathhaus, mit den alten Linden davor, sahen prächtig aus im winterlichen Schmucke. Elisabeths Herz war sehr frisch. O wie wunderschön ist die Welt, ihr guten Tanten Paula und Wina, ihr wißt gar nicht, daß man keiner anderen Freude bedarf, als die der Herr erlaubt hat, und ich will auch gar nicht nach anderen Dingen fragen. Wenn ich jetzt in Berlin wäre, triebe ich die Kinder zum Thor hinaus und führe sie auf dem Eise und im Schnee, und in Romeo und Julie gehe ich sicher nie wieder, das macht nur confus, ich weiß selbst nicht, wie mir so sonderbar zu Sinne war, und die Mutter hat recht, man hat wirklich keinen Vortheil davon! So waren Elisabeths Gedanken. Dazwischen aber hatte sie allerhand fröhliche Dinge mit den Kindern zu besprechen, bis sie endlich wieder nach der Oberförsterei hinlenkte, um ihre Schutzbefohlenen abzuliefern.

Darauf fuhr sie um die Stadt herum zurück. Als sie schon nahe bei den Großeltern war, fiel ihr ein, daß sie noch ein Stückchen so ganz allein die Kirschenallee hinauffahren könnte, – die Bäume sahen gegen den blauen Himmel gerade aus, als ob sie in Blüthe ständen. Wir fahren dann oben über die Schaafbrücke auf die Wiese, und kommen durch den Garten zurück, wandte sie sich zu ihrem kleinen Kutscher. Ja wohl, gnädig Fräulein! war seine Antwort, und seine Peitsche knallte, und die Schellen klingelten, und lustig ging es die Kirschenallee hinauf. Sie hielten an der Schaafbrücke, Elisabeth sah sich bedächtig um. Die Brücke ist etwas schmaler, als unser Schlitten, bemerkte sie. – Allem Anschein nach, war des Kutschers Antwort. – So steigen wir aus und halten den Schlitten von der Seite, bestimmte Elisabeth. Sie fand keine Gegenrede.

Eben waren beide ausgestiegen, als zwei Reiter über die Wiese daher flogen. Um Gottes Willen, mein gnädigstes Fräulein, sein Sie vorsichtig! rief Herr von Stottenheim. Er war es und Herr von Kadden mit ihm, beide auf einem Ritt zum Besuch bei den Großeltern begriffen.

Herr von Kadden seinerseits schien nicht sehr mit der Gefahr der Fuhrwerks beschäftigt, er lächelte und staunte den Schlitten und den Kutscher und die Dame an. Doch war er schon abgestiegen, um beim Hinüberbringen des Schlittens behilflich zu sein.

Elisabeth nahm alle ihre Würde zusammen. Ich bitte dringend, sich nicht zu bemühen, sagte sie feierlich, ich bedarf keiner Hilfe, ich will nicht in den Verdacht kommen, als hätte ich etwas Unbedachtes unternommen.

Herr von Stottenheim ereiferte sich in vielen Worten von seinem Pferde herab, während Herr von Kadden die Zügel des seinigen um eine Weide warf und hinab auf den gefrorenen Bach stieg, um den Ausgang beobachten zu können. Elisabeth aber war ganz ruhig, sie überließ Ypsilanti sich selbst und hielt mit Hilfe des kräftigen Burschen den Schlitten an der einen Seite in die Höhe, es waren ja nur wenige Schritte und sie waren hinüber. Herr von Kadden war ihr beim Einsteigen behilflich und war ganz mit ihr einverstanden, daß hier gar nichts zu befürchten war, während sein Kamerad sich erbot, voran zu reiten und die Großeltern von der glücklich überstandenen Gefahr zu benachrichtigen.

Sie werden aber bei der Wahrheit bleiben! warnte Elisabeth stolz und fuhr davon.

Ich bitte Dich, Kadden, entscheide Dich bald! sagte Herr von Stottenheim, als sein Freund das Pferd bestieg: ich sage Dir, noch nie hat ein Mädchen so sehr mein Herz bewegt, aber ich handle als Freund. – Der andere entgegnete gar nichts, er lächelte nur, gab seinem Pferde die Sporen und flog davon. So reite doch nicht so unvernünftig! rief Stottenheim ärgerlich.

Die beiden Herren erreichten auf dem geraden Wege weit eher ihr Ziel als Ypsilanti, und als Herr von Stottenheim den Großeltern sehr blühend den gefährlichen Uebergang über die Beresina schilderte, eilte sein junger Freund durch den Gartensaal, um den eben ankommenden Schlitten in Empfang zu nehmen. Elisabeth stieg aus, beide wechselten sehr unbedeutende Worte mit einander, aber zwei Herzen, die sich lieb haben, fragen am allerwenigsten danach, ob sie geistreich reden. Elisabeth trat sehr frisch in das Zimmer und erzählte vergnüglich von ihrer Fahrt. Onkel Karl und Charlottchen waren dazu gekommen, sie gehörten mit zu dem Kreis ihrer Zuhörer und Bewunderer.

Die Gesellschaft hatte sich niedergelassen und nahm nun einen sehr gemüthlichen Charakter an. Eine große gemalte Kaffeekanne und einige Teller gut conservirter Weihnachts-Wecke wurden aufgetragen. Elisabeth ordnete die Tassen, wahrend Charlottchen mit ihrem unzertrennlichen Strickzeug zufrieden im Armstuhl saß. Die beiden alten Herren griffen zu den Pfeifen, den jungen Herren wurden Cigarren überreicht. Als die Großmama, wie ihr ja vom alten Onkel Oberförster schon gelehrt war, dem Großpapa einen Fidibus reichen wollte, kam er ihr mit derselben Zartheit als am Verlobungstage zuvor und bediente sich selbst; ein gegenseitiges Lächeln war die verständliche Erklärung dazu. – Ein allerliebstes altes Paar! dachte Herr von Stottenheim, und seines Nachbars warmes Herz ward mächtig erfüllt von guten Vorsätzen.

Bei aller Gemüthlichkeit ließen die Großeltern aber eine Sache nicht aus den Augen: sie wollten prüfen. Anscheinend harmlos wandte sich der Großvater mit seinen Fragen meistens an Herrn von Kadden, und es war ordentlich ärgerlich, wie dessen älterer Kamerad fast immer die Antwort und in sehr fließender Weise übernahm.

Jetzt machte der Großvater einen Hauptangriff: Sagen Sie mal, Herr von Kadden, begann er, wodurch haben Sie sich den Spitznamen Hitzkopf erworben? Sie sehen doch so ruhig aus.

Das ist eben die Gefährlichkeit bei der Sache, nahm Herr von Stottenheim wieder schnell das Wort, er sieht immer aus, als ob er nicht fünf zählen könne, als ob er der vernünftigste Junge von der Welt sei, und dabei geht man in seiner Gesellschaft wie auf einem schlummernden Krater.

Sehr gut gesagt, entgegnete Herr von Kadden lächelnd, aber auf solchen Angriff müßte es, wenn es mit dem Krater seine Richtigkeit hätte, in mir jetzt im Stillen brausen, und ich spüre noch nichts.

Nun ja, der Wahrheit die Ehre! fuhr Herr von Stottenheim fort, seit einiger Zeit ist eine wunderbare Veränderung mit ihm vorgegangen, wenigstens erzählt sein Bursche mit Erstaunen, daß die kleinen Scenen, die sonst ihr Zusammenleben würzten, ganz weggefallen.

Herr von Kadden wandte sich lächelnd zu Elisabeth, die neben ihm saß, sie lächelte wieder, und er sagte leise: Ich habe ihm aber immer das doppelte geschenkt!

Niemand achtete sehr darauf, weil die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Erzähler gerichtet war. Dagegen hörten Elisabeth und ihr Nachbar nicht, daß Stottenheim fortfuhr: Nur gestern ist der arme Kerl, der Bursche, mit einigen tüchtigen Ohrfeigen regalirt worden, und warum? Sein wunderlicher Herr hat da auf seinen Schatz, auf den alten Erbkoffer, ein Gläschen mit etwas Moos und Tannen gestellt –

Stottenheim! rief jetzt Herr von Kadden kurz und sein Gesicht flammte in heftiger Erregung.

Ich bitte Dich, – ein Scherz! sagte Herr von Stottenheim; aber ich schweige augenblicklich –

Herr von Kadden will es uns gewiß selbst erzählen, scherzte der Großpapa.

Mein Freund versteht das besser als ich, war die sehr kurze Antwort.

Es entstand eine kleine Pause. Der Bursche hat das Glas also umgestoßen? sagte die Großmama freundlich.

Nein, es war eine rechte Eselei von dem Burschen, berichtete Herr von Stottenheim, er hat es beim Ordnen des Zimmers ungefragt in den Kehricht geworfen. Er hatte nun zwar seinem Herrn eine ganze Fuhre von Moos und Tannenzweigen besorgen wollen, aber dem war nicht damit gedient.

Herr von Stottenheim hatte so muthig weiter erzählt, weil er merkte, daß bei dem Freunde die Gefahr schnell vorüber war. Dieser sah vor sich nieder und lächelte, und er lächelte, weil er dachte: so mag sie es denn hören, daß mir der Strauß sehr lieb war.

Die Großmama hatte indessen ihre Gedanken: ein Moos- und Tannensträußchen hatte ja Elisabeth auch auf ihrer Komode stehen.

War es Erziehungs-Grundsatz, daß der Bursche die Ohrfeigen erhielt? fragte der Großpapa mit angenommenem Ernste.

Eigentlich wohl nicht, sagte Herr von Kadden ebenso; aber, setzte er treuherzig hinzu, ich begreife nicht, wie man bei solchen Gelegenheiten ruhig sein kann.

Das glaube ich wohl, sagte der Großpapa nachdenklich.

Uebrigens, begann Herr von Stottenheim, führt Kadden dieser kleinen Privatangelegenheiten wegen den Namen nicht, nein, es sind das ganz andere Gründe, Gründe, die ihm nur zum Ruhm und zur Ehre gereichen, es ist ein Uebermaaß von Geschicklichkeit und Muth und Kraft, das ihn fortwährend den größten Gefahren aussetzt, und sie sind in der That für ihn nicht da. – Stottenheim, um seinen Freund völlig zu versöhnen, wollte in wortreicher Art einige unglaubliche Dinge berichten, doch brachte ihn Herr von Kadden durch fortwährende komische Einwürfe so aus dem Context, daß man nicht recht klug daraus wurde und bald von andern Dingen sprach.

Herr von Stottenheim vertiefte sich eifrig mit Onkel Karl in Landwirthschaft, er erzählte viel von einem herrlichen Gute seines Bruders, während die Großmama freundlich sich nach Herrn von Kaddens Familie erkundigte. Kadden? sagte der Großpapa plötzlich lebhaft: eben fällt mir ein, daß ich mit einem Offizier, einem Herrn von Kadden, nach der Schlacht bei Leipzig mehrere Tage zusammen in einem Bauernhause lag, ich hatte einen Schuß durch den linken Arm bekommen, mein Kamerad aber war schwer verwundet.

Vielleicht mein Großvater! sagte Herr von Kadden freudig.

Hat Ihr Großvater den Feldzug mitgemacht?

Und ich weiß, daß er bei Leipzig verwundet ward, versicherte der junge Offizier.

Wir theilten uns damals unsere Schicksale mit, fuhr der Großpapa fort, ich erzählte ihm von meiner Frau und meinen kleinen Kindern daheim, er war Wittwer und empfahl mir seinen einzigen Sohn, der damals auf einer Militärschule war.

Das war mein Vater! rief Herr von Kadden wieder sehr freudig.

Aber schon als wir uns trennen mußten, war seine Genesung gesichert und ich habe nie wieder von ihm gehört, schloß der Großpapa.

Das ist mein Großvater gewesen, wiederholte Herr von Kadden, und beschrieb nun den alten Herrn und bestätigte, daß gerade in der Zeit sein Vater auf der Militärschule war.

Ja wunderbar kommen die Leute in der Welt zusammen, sagte Herr von Budmar nachdenklich; das ist also der Großvater, der Ihnen den Koffer und die Bibel geschickt hat? Kadden bejahte und sprach mit Liebe von dem Aufenthalt bei dem alten Herrn, seiner einzigen kurzen Heimath.

Wie heißt der Bibelspruch, den er Ihnen zum Geburtstag eingeschrieben hat? fragte die Großmama.

Ich habe es doch vergessen, sagte der junge Mann verlegen.

Man sprach nun weiter von der Kriegszeit. Charlottchen erzählte, wie einmal ihre Mama in Verzweiflung war, weil die Russen ihrer ganzen kleinen Gänseheerde die Köpfe abgerissen, die Federn verstreut und die Thiere gebraten hatten.

Ja, bei mir gebraten! fügte Onkel Karl hinzu, ich weiß den Tag recht gut, ich mußte den sauren Kohl dazu geben. Es war eine schreckliche Zeit, an ein vernünftiges Wirthschaften war gar nicht zu denken, und es ward einem oft ganz verwirrt im Kopfe. Ich wollte damals gerade die Breite an der Lehmkuhle –

Ja ja, unterbrach der Großvater den Bericht: es war eine schlimme Zeit, aber der Herr hat treulich hindurch geholfen.

Charlottchen und die Großmama stimmten ein, und Herr von Stottenheim machte dem Besuche jetzt ein Ende.

Als eben die letzte Abendröthe am Himmel verblühte, standen die Großeltern und Elisabeth am Fenster und sahen die beiden Reiter langsam über die weiße Wiese dahin reiten. Alle drei schwiegen. Elisabeth hatte sich an die Großmama gelehnt. Nach einer Weile begann der Großvater ernsthaft:

Es ist doch sehr wehmüthig zu sehen, wie so viele Menschen ohne Heimath und ohne Heimathszug in der Welt umherziehen. Wenn nach dieser Welt nichts weiter folgte, so wäre es doch wahrlich nicht der Mühe werth zu leben. – Die Großmama nahm seine Hand und sah ihn mit dem feinen schönen Gesichte nachdenklich an. – In der Jugend, fuhr er fort, haben die Menschen meistens den bestimmten Sehnsuchtszug im Herzen, aber sie suchen Erfüllung in der Welt, und wenn die Welt das Sehnen und Hoffen und selig in die Zukunft Schauen abgestumpft, dann meinen sie, sie haben die Jugend genossen, jetzt folgt nun das leidige Alter, es ist der Lauf der Welt und ist nicht zu ändern. Ja der Lauf der Welt ist es, der hinterlistigen und nichtswürdigen Welt, die jugendliche Herzen verführt und verblendet, ihnen Glück und Wonne verheißt, um sie ganz arm und elend zu machen. Die Welt ist voll giftigem Undank, sie lohnt die Liebe ihrer Kinder mit Verderben und Elend, mit entsetzlichem Elend, kaum zu beschreiben, obwohl die Kinder der Welt das einer dem anderen zu verbergen suchen. Sie kommen zusammen, äußerlich ganz angenehm und zufrieden, sie suchen sich gefällig gegenseitig zu zerstreuen, aber die einsamen leeren Stunden, wenn das Gefühl des Alters sich naht, das Abnehmen der Kräfte und der Lust an Vergnügungen und Zerstreuungen der Welt, das Absterben der Freunde, das Herannahen des Todes, die Qualen der Todesfurcht, das verbirgt einer dem andern. Ja sie heucheln sich das Gegentheil vor, sie wagen sich nicht heraus mit ihrem Elend, und gegen solche Qualen hat die vielbewunderte Welt auch keinen Trost. Wer mit der Welt lebt, vergeht und verdirbt mit der Welt, und wer einst im Gottesreiche leben will, muß hier schon darin leben, denn es ist nicht nur dort oben, es ist auch hier mächtig und gewaltig unter uns, die Gläubigen leben schon hier darin und sind selig darin. Für sie giebt es auch keine Furcht mehr, als die Furcht vor der Sünde, für sie giebt es keine Gefahr mehr, sie können nichts verlieren, ihre Güter sind ihnen gesichert, selbst ihre Lieben, ihre Freunde kann der Tod ihnen nicht entreißen, es ist nur ein kurzes Alleinwallen bis der Tod selbst kommt, – kein gefürchteter Feind, nein der Freund, der von einer noch unvollkommenen und unruhigen Welt nach einer seligen Welt führt. Wenn die Kinder der Welt so etwas hören, dann meinen sie, das ist Schwärmerei, das sind Fantasiebilder. Die Thoren! sie sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott, denn der Gott, den sie ganz ehrbar und rechtschaffen anzubeten meinen, das ist ein selbstgeschaffenes Unding, ein grausamer Gott, der seine unglücklichen Kinder arm und elend und ohne Hoffnung, Glauben und Trost läßt. Ja, sie haben Ohren und hören nicht, sie haben Augen und sehen nicht, sie sind verblendet im Hochmuth. Der Hochmuth ist die Sünde, die in der ganzen heiligen Schrift am härtesten gestraft wird, und der Hochmuth führt die Kinder der Welt in das Verderben. Sie bewundern ihre eigene Klugheit, der Hochmuth macht sie verwirrt. Sie gehen in selbstzufriedener Beschränktheit durch die Welt, sind erstaunt über ihre Industrie und Gelehrtheit, mit dem Funken Verstand, den ihnen der Herr gegeben hat, wollen sie den Herrn selbst meistern und verleugnen. Sie ahnen nicht, daß der Herr, der diese unsichtbare Weltordnung geschaffen, auch eine weitere und reichere und freiere Weltordnung schaffen konnte, und die Offenbarungen dieser höheren Weltordnung belachen sie in ihrem kindischen Aberwitz.

Aber, Großvater, begann Elisabeth, viele Menschen haben nicht Gelegenheit vom Reiche Gottes zu hören, sie werden ganz anders erzogen.

Hier in unseren Christenländern, entgegnete der Großvater, hören sie alle von dem Herrn Christus, und der Herr Christus, wenn sie ihn nicht verwerfen, ist für alle da. Diese jungen Offiziere, fuhr er fort, – sie hatten ihn ja eigentlich zu der Rede veranlaßt, – sie haben einen Heiland nicht nöthig. Kann man wohl einen selbstzufriedneren Menschen sehen, als Herr von Stottenheim? Und sein jüngerer Freund sieht die alte Erbbibel gar nicht an, den Bibelvers, den ihm sein Großvater als bestes Erbstück auf den Lebensweg mitgegeben, er kennt ihn gar nicht.

Elisabeth mußte schweigen. Hatte Herr von Kadden ihr nicht selbst gesagt: Der Prediger spricht so wunderlich von Himmel und Hölle, Himmel und Hölle aber schaffe ich mir selbst durch ein gutes Gewissen? – Ein Himmel, der im Bewußtsein der eigenen Gerechtigkeit besteht! Wenn dem so Sicheren einmal die Augen über seinen Zustand aufgehen, wenn er sieht, wie weit seine Gerechtigkeit reicht dem heiligen Herrn gegenüber, was wird dann aus seinem Himmel? Diese Selbstgerechtigkeit, dieses Tugendfantom ist ja der selbstgeschaffene Gott, von dem der Großvater eben gesprochen, der hinterlistig einen sehr tugendlichen Himmel schafft, um dann eine ewige Hölle hinterher zu schicken. Aber mit dem Einen hat der Großpapa doch unrecht, dachte sie weiter; viele Menschen wissen nicht, was sie mit dem Herrn Christus verwerfen, und er, der so sicher auf seine Tugend trotzt: wenn er es wüßte, er würde es auch nicht thun. Die Sehnsucht und das Heimweh ist ihnen unverständlich, und wenn er da vor dem alten Koffer sitzt, darinnen die Bibel liegt, und er meint, sein einsames Herz sehnt sich nach einer Heimath, so ist es Sehnsucht nach Frieden und Seligkeit. Ja, wenn man ihm den Weg dahin zeigte, er würde ihn doch wohl gehen; wenn er nun ordentlich belehrt würde, und wenn er, aus Liebe zu mir – Elisabeth stockte in ihren Gedanken.

Du Thörin! Aus Liebe zu dir soll er gläubig sich zum Herrn wenden? Ach nein, du bist ja selbst so schwach, könntest du dich nicht eher aus Liebe zu ihm zur Welt wenden? Zur Welt, und dann arm und elend mit ihm? O nein Herr, ich kann Dich nie verwerfen, ich will es nie vergessen, daß ich arm und schwach bin, und daß Du an Liebe und Gnade reich mein Erlöser bist. O halte Du mich, wenn ich schwanke; aber Herr, halte Du ihn auch, setzte ihr zitterndes Herz hinzu, denn ich werde ihn doch wohl immer auf meiner Seele tragen müssen.

Es war jetzt tiefe Dämmerung in der Stube, die Großeltern saßen schweigend auf dem Sofa, Elisabeth stand allein. Ihre Gedanken wurden immer unruhiger und banger und sehnsuchtsvoller, sie trat an das Klavier, sie griff einzelne Noten, dann sang sie leise, die Großeltern stimmten ebenso ein:

Aus tiefer Noth schrei ich zu Dir,
Herr Gott, erhör mein Rufen,
Dein gnädig Ohren kehr zu mir
Und meiner Bitt sie öffne.
Denn so Du willst das sehen an,
Was Sünd und Unrecht ist gethan.
Wer kann, Herr, vor Dir bleiben?

Bei Dir gilt nichts denn Gnad und Gunst,
Die Sünde zu vergeben,
Es ist doch unser Thun umsonst
Auch in dem besten Leben,
Vor Dir niemand sich rühmen kann,
Es muß Dich fürchten jederman
Und Deiner Gnade leben.

Liebe Elisabeth, sagte der Großpapa freundlich, wenn Du dies Lied nie vergißt, wenn Du es immer mit recht demüthigem Herzen rufen kannst, so magst Du in sehr tiefer Noth stecken, der Herr wird Dich doch erretten.

Elisabeth war aufgestanden und hatte sich zu den Füßen der Großeltern gesetzt. Wenn ich in einer Herrenhuter Gemeine lebte, so wäre es besser für mich, sagte sie.

Möchtest Du das? fragte der Großvater lächelnd.

Elisabeth schüttelte den Kopf.

Ja, sagte die Großmama, äußerlich würde es vielleicht in einer Herrenhuter Gemeine für Dich nicht so viel Versuchungen geben, aber Dein Herz und den Kampf mit der Sünde würdest Du auch da empfinden, und den Herrn Christus, den treuen Hirten, der Dich sucht und trägt, hast Du ebenso hier als dort. Nachdem die Gefahr ist, hilft er auch, ja dem bangen und verirrten Schäflein geht er am liebsten nach. Ich weiß wohl, fügte sie hinzu, Du wirst überwinden, aber, liebe Elisabeth, ich möchte Dich auch vor Unglück bewahren, vor schweren Kämpfen, darum sei wachsam und treu. – Elisabeth schwieg. – Die Welt ist nicht schwer zu überwinden, fuhr die Großmutter freundlich fort, für uns, die wir darüber stehen, ihre Bande sind uns wie Spinnenweb, wenn es uns anfliegen möchte, lächeln wir und es zergeht uns in den Händen. Die aber, die nicht den Muth haben mit der Welt zu brechen, die da meinen, es lasse sich ein christlich Leben damit vereinen, denen wird das nichtige Gewebe zu Stricken, und wenn sie sich auch gern losmachen könnten, und sich losgemacht haben, so fühlen sie sich doch immer wieder von allen Seiten gebunden, und ihr Leben ist ein fortwährender Kampf, und sie seufzen, wie schwer es doch sei, ein Christ zu sein. Gesunde Sinne können es kaum begreifen, aber freilich, der Teufel ist ein mächtiger Herr, und ein guter Philosoph.

Ich möchte gar nicht anders leben, als Ihr lebt, sagte Elisabeth, ich finde das am allerschönsten.

Dann wünsche ich Dir nur einen so braven Mann, als ich bekommen habe, entgegnete die Großmama.

Mein Mann wird doch leben wollen, wie ich lebe? sagte Elisabeth mit einem Versuch zum Scherze.

Darum muß er eben brav sein, schloß die Großmama.


 << zurück weiter >>