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5. Die Frau Geheimeräthin.

Vierzehn Jahre sind wieder vorüber, die Welt hat sich sehr verändert, die Gemüthlichkeit scheint daraus verbannt, sie hat wenigstens einen andern Charakter angenommen, und es ist eine Entscheidung eingetreten, der sich niemand leicht entziehen kann, es heißt: Entweder, oder! – Auch in dem lieben alten Hause sieht es anders aus, die Kindlein sind alle ausgeflogen und versorgt, die Eltern einsam geworden, Geburten und Sterbefälle haben in der ausgebreiteten Familie Freud und Leid gebracht. Die Großeltern haben Freud und Leid getheilt, aber doch nur aus der Ferne; ihre Herzen sind ruhiger geworden, selbst die Großmutter, je mehr sie ihr Herz da oben hinauf geschickt, je mehr hat sie Freud und Leid zu würdigen gelernt. Das eine aber erfüllte beide mit Dank und Lob, daß ihre ganze Familie sich für das einzige Heil entschieden, ein Glied mehr als das andere, ein jedes nach seiner Eigenthümlichkeit und seinen Kräften, und eines mehr als das andere – nicht der Sorge, aber der Fürbitte des getreuen Elternpaares bedürftig.

Es war ein trüber Novembertag, der Wind brauste. Regen und Schneeschauer wirbelten durch einander, es war schon dämmerig, obgleich es kaum vier Uhr war. Die Frau Geheimeräthin Kühneman stand am Fenster, sie schaute sinnend nach dem düstern Himmel, nach den grauen Häusern und der schmutzigen Straße. Sie war eine schöne, stattliche Frau, ihre dunkeln Locken waren untadelhaft, ihre Farben noch frisch, nur ihre Züge waren gröber und stärker geworden, ebenso ihre Figur. Sie kehrte von dem Fenster wieder an den Schreibtisch zurück, hier lag ein angefangener Brief und die aufgeschlagene Bibel. Sie hatte geschrieben und hatte gelesen, – gelesen, aber nur mit Seufzen, sie konnte ihre Gedanken nicht zusammenhalten, sie konnte sich nicht erbauen. Ihr Gewissen machte ihr Vorwürfe, daß sie es heute nicht in der frühen Morgenstunde gethan, ehe die Arbeiten und Zerstreuungen des Tages sie in Anspruch nahmen. Sie hatte es so von ihrer Mutter gelernt, hatte es gethan in der Jugend, und suchte das Versprechen, das sie der Mutter gab, dieser Gewohnheit treu zu bleiben, auch zu halten. Daß es nicht immer dazu kam, machte ihr selbst das Herz schwer, aber es gab dann auch Entschuldigungen und Gründe. Eine Hausfrau, eine Mutter wird oft früh schon durch Berufsarbeiten gestört, sie kann sich ihnen nicht entziehen, ja, sie darf es nicht und in manchen Fällen ist die Erfüllung ihrer Pflicht ein besserer Gottesdienst als Bibellesen. Auch ist die Andacht, die der Hausherr vor dem Frühstück hält, eigentlich hinreichend für die Sammlung des Tages. Aber fügte das Gewissen hinzu, wenn du nicht Zeit und Gedanken zu deiner einsamen kurzen Andacht hast, bist du auch gewöhnlich bei der allgemeinen Andacht zerstreut, und dann ist kein Segen im Tage, er bringt kaum später ruhige Zeit, und es fehlt die rechte Freudigkeit zum Gebet. – So ging es ihr heute, ihr Herz war schwer, das ganze Leben lag schwer auf ihr. Sie schrieb weiter an Schwester Julchen:

»Es ist nicht immer gleich, aber zuweilen fühle ich, wie schwer das Stadtleben auf mir lastet, nicht allein auf mir, auf unserm ganzen Familienleben. Ihr könnt thun was Ihr wollt, seid König auf Eurer Oberförsterei, könnt Euer Leben einrichten nach Eurem Gefallen; ich kann das nicht, ich lebe in einem Kreise von Rücksichten, die mich, so kömmt es mir vor, immer enger einschnüren. Ich sehe Dich lächeln, Du meinst, wenn wir diese Rücksichten ignoriren, so sind sie auch nicht vorhanden. Darin irrst Du, liebe Schwester. Deines Mannes Stellung ist eine selbständige, niemand steht über ihm, er ist eben ein kleiner König in seinem Reiche; mein Mann dagegen hat Rücksichten zu nehmen auf seine Collegen, er ist verpflichtet mit ihnen zu verkehren, diese Verpflichtung bringt uns mehr, als wir wünschen, in die Welt hinein, und an dieses Eine knüpfen sich hundert feine Fäden, die das Netz immer enger ziehen. Daß diese Fäden sich mehren mit dem Heranwachsen unserer Kinder, das ist natürlich: es steht mir ein großer Kampf bevor. Elisabeth ist zum ersten Balle eingeladen, wenn wir nicht unartig sein wollen, müssen wir hingehen, mein Mann kann seine Stellung nicht ignoriren, und darum auch nicht die Rücksichten, die sich daran knüpfen. Für Elisabeth wünsche ich es nicht, und doch, glaube ich, darf ich sie nicht mit Gewalt zurückhalten, sie ist noch so unfertig trotz des besten Willens. Und meinst Du, daß ich der Familie meines Mannes keine Rücksichten schuldig bin? Du glaubst nicht wie schwer es ist, den Einfluß dieser beiden Tanten von den Kindern abzuwenden, besonders von Elisabeth. Sie haben Elisabeth so herzlich lieb, sie ist eigentlich der Stolz und die Freude ihres einsamen Lebens, und wenn ich nicht undankbar sein will, darf ich nicht leugnen, daß sie an Elisabeths Bildung Mühe und Zeit gewandt und uns manches erleichtert haben. Du meinst wieder, es ist nicht nöthig, das ein Mädchen so viel weiß, aber liebes Julchen, wir dürfen uns den Anforderungen der Zeit nicht ganz entziehen, ich bin es meinen Kindern schuldig, daß sie ihrem Stande gemäß erzogen werden. – Ich muß Dir gestehen, es geht mir heute wie ein Rad im Kopfe herum. Wenn ich an meine Jugend denke, an unser Leben daheim, welch ein harmloser fröhlicher Sinn lebte in unserm Hause; jetzt erst begreife ich das Glück der Mutter. Liebe Julie, soll das ein Vorwurf sein für meinen Mann? Nein gewiß nicht. Er ist treu und brav, aber er hat keine Zeit, mit mir und den Kindern zu leben, und wenn ihm nach seinen Berufsgeschäften und seinem nothwendigen geselligen Verkehr noch einige Stunden dazu bleiben, so ist er nicht immer in der Laune, um mit den Kindern in der rechten Weise zu verkehren. Eben so geht es mir, ich muß zu meinem Kummer gestehen; ich habe immer zu schaffen und zu sorgen, um den Haushalt in gehöriger Ordnung zu erhalten, den Haushalt eines hochgestellten Beamten ohne Vermögen, – Du kannst nicht ermessen, was das sagen will.«

Hier wurde die Schreiberin unterbrochen. Es klingelte an der Flurthür, ein Wagen war vorgefahren, und zwei Damen folgten dem anmeldenden Mädchen auf dem Fuße.

Nun liebe Elise, da sind wir, sagte die ältere Dame, wir wollen ein Dämmerstündchen mit Euch verleben.

Elise grüßte die Tante Reifenhagen, denn diese war es, und die zwanzigjährige Emilie mit großer Herzlichkeit. Der General, der Gemahl der Tante, war erst seit wenigen Wochen nach Berlin versetzt, und Elise, als ihr die Gewißheit davon wurde, freute sich sehr auf diese gute und auf festem Grunde stehende Tante und hoffte, sie sollte ihr eine Hilfe durch das Labyrinth des Stadtlebens werden. Zugleich aber, das hatte sie sich gleich klar gemacht, wurde ihr Leben auch verwickelter, es entstanden Familien-Rücksichten wieder nach dieser Seite hin, und wenn auch die gute so überaus liebreiche Tante ihr nie unbequem werden konnte, Cousine Emilie mit dem fein geschlossenen Munde, dem festen Willen und der ganz und gar abgeschlossenen Richtung war beinahe zu fürchten.

Wo ist Elisabeth? fragte Emilie dringend.

Sie ist in der englischen Stunde, war Elisens Antwort.

Elisabeth ist Ostern confirmirt, und ich denke, dann hört alles Studieren auf? sagte Emilie scherzend.

Ich möchte, es wäre so! entgegnete Elise mit einem Seufzer. Diese fatalen theuern Stunden! Aber Elisabeth würde ganz aus der Uebung kommen, weil sie außerdem nicht Gelegenheit zum englisch Sprechen hat.

Und wozu lernt sie so eifrig? fragte die gute Tante harmlos.

Weil es doch zu ihrer Ausbildung gehört! entgegnete Elise rasch.

Emilie wollte etwas entgegnen, ihre Mutter aber brach die Unterhaltung ah. Sie erzählte jetzt von ihrer neuen Einrichtung, von der überwundenen Unruhe, und wie es ihnen schon ganz heimlich in der neuen Wohnung sei. Dann sprach sie in recht warmer Liebe den Wunsch aus, mit der Nichte recht eng und mütterlich zu verkehren, und Emilie fügte aufrichtig hinzu, wie sie sich freue, den Verwandten so viel näher gerückt zu sein. – Elise war gerührt von diesem herzlichen Entgegenkommen und, angegriffen und bewegt von der Stimmung des Tages, war sie nahe daran, der guten Tante ihr Herz auszuschütten, ähnlich als sie es Schwester Julchen gethan, als die Flurthür klingelte und bald darauf zwei Damen in das Zimmer traten.

Wie sehr zur unrechten Zeit kamen die beiden Schwestern des Geheimerath Kühneman, Tante Paula und Tante Wina, wie sie hier im Hause genannt wurden. Elise stellte die Schwägerinnen der Tante vor; Emilie hatte bei einem längeren Sommeraufenthalt in Woltheim schon ihre Bekanntschaft gemacht, und beiden Theilen war es damals sehr bald klar geworden, daß ihrer Freundschaft kaum zu überwindende Hindernisse im Wege standen. Die beiden Tanten waren übrigens zu gut erzogen, um nicht dennoch freundlich und höflich zu sein. Ueberdem aber waren sie zu sehr erfüllt mit eignen Angelegenheiten, um sich mit den fremden Eindringlingen in den ihnen so theuren Familienkreis für heute viel einzulassen.

Liebe Elise, begann Tante Wina, wir kommen wegen der Toiletten-Angelegenheiten, Du wirst etwas in Echoque gesetzt sein durch diese plötzliche Einladung, wir wollen uns aber zur Hilfe anbieten.

Es ist durchaus noch nicht bestimmt, ob wir hingehen, entgegnete Elise abwehrend.

Ich bitte Euch, fuhr Wina auf, versucht es doch nicht zu excelliren in absurden Grillen. Was soll denn aus Elisabeth werden? Ihr habt sie lange genug als Kind behandelt, man erwartet allgemein, daß Ihr sie diesen Winter in die Welt einführt.

In die Welt? fragte Elise gereizt.

Ich gebrauche nur diesen herkömmlichen Ausdruck, entschuldigte Wina; ich weiß recht gut, daß Ihr nicht in der Welt lebt, wir wollen es auch nicht. Ja am allerwenigsten möchten wir unsere lieblich blühende Elisabeth in einen Strudel stürzen, der ihr geistig und leiblich gefährlich werden könnte; aber hin und wieder eine Gesellschaft, ein Familienball, was soll ihr das thun?

Man muß auch nicht zu weit gehn, nahm Tante Paula bedächtig das Wort, ein junges Mädchen will ihr Vergnügen haben, und unsere Elisabeth tanzt so gern.

Das liebe unschuldige Ding! fiel Wina wieder ein, laßt sie doch umherspringen und fröhlich sein.

Das kann man alles, auch ohne einen Ball, warf Emilie etwas spöttisch ein.

O ja, der Geschmack ist verschieden, nahm Wina mit einiger Schärfe das Wort; es wird uns auch nicht einfallen, über die Natur oder Unnatur jedes Geschmackes zu richten.

Der natürliche Geschmack der meisten jungen Mädchen ist auf Bälle zu gehen, entgegnete Emilie ruhig, wir danken es aber unserer Erziehung, wenn wir uns nicht natürlichen Neigungen hingeben.

Wina ward feuerroth, die Generalin sah Emilien warnend an, und Elise nahm schnell das Wort. Laß das, liebe Emilie, Du würdest Dich mit meinen Schwägerinnen nicht verständigen. Du weißt aber, daß ich mit Dir einer Meinung bin, und siehst, daß die lieben Tanten (fügte sie scherzend hinzu) hergekommen sind, mich eines Besseren zu belehren. Belehren laß ich mich freilich nicht, sagte sie wieder ernsthaft und in einer gewissen hastigen Verlegenheit: aber ich sehe schon im voraus, daß wir uns nach allen Kämpfen doch für dieses Mal den Wünschen unserer Freunde werden fügen müssen. Die Folgen von auffallender Rücksichtslosigkeit und Unfreundlichkeit würden meinem Manne im Verkehr mit seinen Collegen doch schwer werden, ebenso mir. Ich hoffe aber, es geschieht nur dieses eine Mal. Wir wollen uns gefällig zeigen, für die Zukunft werden wir uns besser vorbereiten, Elisabeth soll um diese Zeit häufig zu den Großeltern reisen.

Ihr werdet aber den armen Sträfling vorher um seine Einwilligung fragen! warf Wina bitter dazwischen.

Elisabeth ist sehr gern in Woltheim, versicherte die Mutter hastig; sie ist ja mehr dort als hier gewesen. Uebrigens, liebe Tante, wandte sie sich wieder zur Generalin, ist dies nur ein Familienball beim Geheimerath von Bauer, meines Mannes nächstem Collegen.

Gehört er zu Eurem näheren Bekanntenkreise? fragte die Tante sanft.

Das gerade nicht – sagte Elise wieder etwas verlegen.

Und nun sind wir hergekommen, unterbrach sie Tante Wina schnell, um von Dir zu hören, wie wir unser liebes Kind kleiden sollen, denn wir lassen es uns nicht nehmen, Elisabeth den ersten Ballanzug zu schenken. Ueber weißen Krepp sind wir beide einig. Das ist so zart und duftig. Welche Farben aber wählen wir dazu? Ich bin für Himmelblau, Elisabeth ist trotz der braunen Augen und der braunen Locken doch mehr blond zu nennen, es ist beides so sehr hell und licht, dazu diese himmlischen zarten Farben.

Piquanter würde jedenfalls Ponceauroth sein, sagte Paula.

Ich überlasse Euch ganz und gar diese Toiletten-Angelegenheiten, versicherte Elise scherzend, mir ist es gleich, ob Ihr Blau oder Ponceau wählt.

Nicht doch, liebe Elise! belehrte Wina, ganz gleichgiltig darf es einer Mutter nicht sein, es ist Elisabeths erstes Auftreten in der Welt und das ist oft wichtig für das ganze Leben.

Meinen Sie im Ernst, daß Sie mit Blau oder Roth auf Elisabeths Geschick Einfluß üben können? fragte Emilie, die bis jetzt geschwiegen, – nicht, wie Tante Wina bestimmt glaubte, aus böser Absicht, nein, nur in der guten Absicht sich von den Damen nicht zur Heftigkeit reizen zu lassen. Das ging ihr aber doch zu weit.

Meine liebe Emilie, ich spreche aus Erfahrung, sagte Wina wieder scharf, und die geht Ihnen noch ab.

Und ich überlasse Euch das Blau oder Roth, nahm Elise vermittelnd das Wort, so ist die Sache abgemacht.

Ja die liebe Elise! wandte sich Tante Paula gutmüthig zur Generalin, sie hat wirklich ihre Noth mit den sechs Kindern. Wir würden gern immer kommen und ihr helfen, aber sie läßt uns nicht. – Elise schwieg und seufzte, sie konnte nicht sagen: Eure Nähe würde mir weit lästiger sein, als meine Arbeit, – und Tante Paula fuhr fort: Sieht sie nicht ganz angegriffen aus? Aber ich weiß, seit drei Nächten ist sie nicht vor ein Uhr zu Bette gekommen, sie hat den kleinen Mädchen Jacken geschneidert.

Warum thust Du das? fragte die Generalin mit freundlichem Vorwurf.

Liebe Tante, entgegnete Elise, weil eine ganz geringe Schneiderin täglich 10 Sgr. kostet. Rechne ich dazu die Verköstigung, so ist dies eine Ausgabe, die ich berücksichtigen muß. Aber ich muß wirklich gestehen, ich fühle mich etwas angegriffen, meine Nerven können dies späte Aufsein nicht vertragen.

Diese Nervenschwäche ist traurig, sagte die Generalin teilnehmend, weil dadurch die Stimmung so leicht bedrückt wird.

Gewiß, entgegnete Elise, man kann mit den Kindern nicht so frisch und vergnügt sein, wie man möchte, und wie man sollte.

Nein liebe Elise, begann Emilie, zwar etwas lebhaft, aber sehr freundlich, ich würde doch Elisabeth allein Englisch studieren lassen, und mir es für das Stundengeld bequem machen und eine Schneiderin nehmen.

Wenn Du einmal Mutterpflichten zu erfüllen hast, entgegnete Elise ziemlich selbstgefällig, so wirst Du anders darüber denken.

Gewiß nicht, – fuhr Emilie auf, ich würde es für Sünde halten, wenn es meine Nerven zerstört und mich untauglich macht zum Frisch- und Fröhlichsein.

Von ein paar Nachtwachen werden die Nerven nicht zerstört, versicherte Wina, es kommt da vieles zusammen und liegt auch in der Anlage.

Meine Mutter muß herrliche Nerven gehabt haben, sagte Elise, ich erinnere mich kaum, daß sie nicht immer frisch und vergnügt mit uns gewesen wäre, ebenso wie der Vater.

Ich muß aber Emilien Recht geben, nahm die Generalin das Wort, Deine Mutter würde auch nicht theure englische Stunden bezahlt haben, um sie durch Nachtwachen wieder einzubringen, und Dein Vater, fügte sie etwas zögernd hinzu, würde das nicht gelitten haben.

Elise schwieg, weil Tante Wina das Reden für sie übernommen. Mit hochrothen Wangen und starkem Eifer setzte sie den Unterschied der Verhältnisse und des ganzen Lebens in Woltheim und Berlin auseinander, – als glücklicher Weise die Thür klingelte und nach wenigen Minuten Elisabeth in das Zimmer trat.

Sie war wirklich sehr hübsch, ihre hellen nußbraunen Augen strahlten von Freude und Güte. Dabei war ihre feine schlanke Gestalt voller Bewegung und Leben und ihr Wesen fröhlich und harmlos wie eines Kindes. Sie begrüßte die Tante Generalin mit herzlicher Umarmung, ebenso Emilien, dann wandte sie sich zu Paula und Wina, ebenso freundlich, nur weniger rücksichtsvoll.

Wir haben eben Deine Balltoilette bestimmt, hub Tante Wina an.

Bitte sehr! entgegnete Elisabeth, die werde ich selbst bestimmen.

Sei vorsichtig, Elisabeth! warnte die Mutter, die Tanten möchten Dir den Anzug schenken.

Ei wie gütig! rief Elisabeth, und die Tanten begannen nun dasselbe Kapitel vom weißen Krepp und von Himmelblau und Ponceau. Mit weißem Krepp bin ich einverstanden, versicherte Elisabeth herablassend, dazu aber nehmen wir Kornblumenblau, das liebe ich so sehr.

Das Kind hat nicht Unrecht, entgegnete Tante Wina lächelnd, Himmelblau ist etwas sentimental und Ponceau anspruchsvoll, dies dunklere Blau hält so schön die Mitte.

Das Gespräch war wieder in Gefahr weitläufig zu werden, die Mutter schickte darum Elisabeth fort, den Thee zu besorgen, und die Tanten, die sich nicht sehr wohl in der Generalin und ihrer Tochter Nähe fühlten, empfahlen sich. Sie hatten in aller Eile vielerlei mit ihrem Liebling, ihrem Verzug, wie sie selbst die Nichte nannten, zu flüstern, und die Mutter warnte ihr Töchterlein, nicht zu bestimmt auf den Ball zu rechnen, da der Vater noch nicht zugesagt.

Elise war darauf mit der Tante und mit Emilien allein. Ihre Nerven waren durch den letzten Besuch nicht gestärkt, ja ihre Stimmung war so bedrückt, daß sie es nicht lassen konnte, der Tante ihr Herz auszuschütten. Die Tante aber saß traurig dabei, sie sagte im Stillen: O daß du kalt oder warm wärest! Wehe über dieses Modechristenthum: gläubige Prediger hören, Bibellesen, Hausandachten halten, von christlichen Erzählungen erfüllt sein, und dabei fortwährend Conflicte mit der Welt und Unfrieden im Haus und im Herzen.

Es ist mir lieb, sagte Elise mit bewegter Stimme, daß Ihr gleich einmal tief hineinschaut in unser Familienleben. Diese Kämpfe währen, so lange ich verheirathet bin, und es ist mir als wären sie mir nicht so schwer geworden, da die Eltern meines Mannes noch lebten, als jetzt, wo die beiden Tanten Elisabeth so sehr in Anspruch nehmen.

Ich glaube das, sagte die Tante theilnehmend.

Obgleich unsere Ansichten so verschieden sind, fuhr Elise fort, Familien-Rücksichten zwingen mich mit ihnen zu verkehren.

Gewiß, entgegnete die Tante, aber –

Aber? fragte Elise dringend.

Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen, schloß die Tante.

Wenn man nur immer entschieden wüßte, was man thun sollte! nahm Elise seufzend das Wort; es giebt Conflicte, wo man wirklich nicht ein und aus weiß.

Wenn Du den Herrn aufrichtig lieb hast und aufrichtig bittest um Rath, wird er Dich nie ohne Rath lassen, sagte die Tante liebreich.

Elise schwieg, ihr Gewissen sagte ihr, daß sie den Rath des Herrn oft deutlich genug hörte, aber nicht die Kraft hatte ihn zu befolgen.

Es kömmt nur auf Treue an, fuhr die Tante fort; wir müssen treu sein im Kleinen. Ist es uns nicht gleich gegeben, daß unser Leben, unser ganzer Haushalt nach dem Worte Gottes geführt wird, so laß uns nur treu haushalten mit dem, was uns gegeben ist. Dir wurden fromme Eltern und eine fromme gottesfürchtige Erziehung, Du hast Erkenntniß in Gottes Wort und Sehnsucht nach etwas Besserem, als was die Welt Dir bietet: was hindert Dich nun, nach dieser Erkenntniß zu leben und dieser Sehnsucht zu folgen? Was hindert Dich daran? Familienrücksichten? Berufsrücksichten? Nein, Du kannst sie nicht vorschieben, würdest Du wagen mit solchen Entschuldigungen vor den Herrn zu treten? – Elise schwieg und forderte dadurch die Tante zum Weiterreden auf. – Denke Dir, liebe Elise, Du wüßtest, daß Du in einem Vierteljahr sterben solltest, würdest Du Dich entschließen können Deine junge Tochter noch vorher in eine Welt voll Gefahren einzuführen, wo Du gewiß weißt, sie kann dort nichts gewinnen? – ich nenne den besten Fall, – die Wahrscheinlichkeit liegt aber auf der anderen Seite, sie wird etwas verlieren. Ja, wenn Du Deinen Tod so nahe vor Dir wüßtest, würdest Du halbe Nächte hindurch schneidern, Dir Kraft und Stimmung dazu rauben, mit der Familie nach Herzenswunsch und Herzenspflicht leben zu können, nur um Elisabeth Gelegenheit zum englisch Sprechen zu geben und zugleich auch den Kindern eine Toilette zu verschaffen, die, genau untersucht, vielleicht auch nur aus äußeren Rücksichten angeschafft würde?

Elise sah die Tante unverwandt an, Thränen füllten ihre Augen. Das unglückliche Stadtleben lastet auf mir, sagte sie bewegt; wenn ich wie Julchen leben könnte, wie glücklich wollte ich sein!

Was hält Dich davon ab?

Unser ganzer Bekanntenkreis.

In welcher Hinsicht zum Beispiel?

Ich muß mich und meine Kinder doch ungefähr so kleiden, wie es in diesem Kreise Sitte ist, mein Mann muß doch mit seinen Collegen verkehren, wir müssen, wenn auch so wenig als möglich, diese Geselligkeit erwiedern. Einigen von unseren Bekannten wird das nicht schwer, weil sie reich sind, – und die anderen thun es aus denselben Rücksichten.

Und Ihr macht Euch gegenseitig das Leben schwer, fiel die Tante ein. Liebe Elise! fuhr sie jetzt dringender fort, das Leben ist gerade so, wie wir es ansehen, die Idee ist es, die unserem Leben Farbe und Charakter verleiht. Wenn Du Deine Kinder elegant und modern angezogen hast, so fühlst Du eine gewisse Befriedigung, Du freust Dich darüber und denkst, die Leute sollen sich auch darüber freuen, sollen sie bewundern, sollen das recht und schön finden. Wenn Du im Gegentheil Deine Kinder so einfach als möglich anziehst, Dich gar nicht nach der Mode, nur nach Deinem guten Geschmack und nach den Sachen richtest, die Du gerade hast, so wirst Du ebenfalls ein Publikum finden, was sich darüber freut und Dich bewundert, und es ist doch keine Frage, welches Publikum uns lieber sein wird. Elise lächelte und seufzte.

Du mußt wissen, liebe Elise, fuhr die Tante wieder fort, ich spreche aus Erfahrung, ich habe mir ebenso eine Welt voll Rücksichten geschaffen, die mir Glück und Frieden raubte. In der ersten kleinen Garnison-Stadt hatten wir nur Umgang mit Offizieren und mit der adligen Nachbarschaft. Daß wir kein Vermögen hatten, war bekannt, und doch wollte ich das Wunder möglich machen und meinen Kindern, meinem ganzen Haushalte einen vornehmen adligen Anstrich geben. Wenn wir allein waren und bei verschlossenen Thüren, that ich die geringste Arbeit, um zu sparen; ich war sehr genau und entzog den Kindern manche unschuldige Freude, nur immer um tüchtig zu sparen. Frisches Obst für die Kinder im Sommer zu kaufen war nicht erlaubt, dagegen kostete das Einmachen von feinen Früchten und Gelees viel Geld, es war aber Nothwendigkeit, wenn ich mit den Damen meiner Bekanntschaft rivalisiren wollte. Daß ich von unserem ganzen Bekannten-Kreise bewundert wurde, als eine geschickte und kluge und gewandte Hausfrau und Mutter, schien mir ein Ersatz. Daß ich aber der wahren Ordnung in hundert Stücken zu nahe trat, um dem äußeren Scheine zu genügen, daß ich, überhäuft von Arbeit und Sorgen, den Kindern auf harmlose, freundliche Fragen eine unfreundliche Antwort gab, und ihnen oft genug eine ungeschickte und unkluge Mutter war, das konnte ich mir nicht verhehlen, ich hatte Erkenntniß genug und hatte eigentlich den besten Willen, gegen meine Fehler zu kämpfen. Meine armen Kinder waren am schlimmsten daran. Mit ihnen fröhlich und harmlos ein Kind zu sein, an ihr inneres Wohlbefinden, an die Verschönerung ihrer kleinen Welt zu denken, hatte ich nicht Zeit. Die Sorgen, was werden wir essen und trinken, womit werden wir uns kleiden, wie werden wir unsere Kinder gut erzogen und gescheit und klug machen, und wie werden wir überhaupt unser Haus in den Ruf eines liebenswürdigen bringen, nahmen meine Gedanken in Anspruch. Diese Sorgen schüttelte ich meistens nur ab in unsern Gesellschaften, da war ich belebt und fröhlich und liebenswürdig, meine Kinder aber hatten davon nichts. Wie ich es Dir hier schildere, sieht es in tausend und aber tausend Familien unserer gebildeten Stände aus; sie leben für diese Welt und ernten den Unfrieden und die Unruhe dieser Welt. Ich habe mich so hingequält, bis eine heftige Krankheit mich zur Besinnung brachte. O liebe Elise, sagte die Tante bewegt, ich fühlte mich am Rande des Grabes, ich sah die Kinder verlassen, bange, trauernd, und die Täuschung meines Lebens lastete auf meiner Seele. Der Herr aber schenkte mir das Leben wieder. Mit welcher heißen Liebe umfaßte ich da meine Kinder, wie erkannte ich so deutlich meinen Beruf, wie erkannte ich mein sündliches Leben, – was mir meine Umgebungen als ein pflichtgetreues vorgeschmeichelt. Mit meiner Genesung begann ein anderes Leben in unserem Hause, und mein lieber Mann war sehr zufrieden damit. Ja ich glaube, in so thörichte eitle Rücksichten verwickeln sich am liebsten die Frauen, wenigstens könnten sie gewiß ihre Männer, die ohnehin in ihrem Berufsleben so manchem Zwange unterworfen sind, bald dazu bewegen, im eigenen Hause die traurigen Zwangsjacken abzuwerfen, wenn sie ihnen statt eines Umgangs, der hauptsächlich nur dem Schein zu genügen sucht, die rechte Behaglichkeit eines ungestörten und erquickenden Familienlebens bereiteten. Elise, obgleich sie sich in dem gezeichneten Bilde vielfach getroffen fühlte, konnte das der Tante doch nicht zugestehen. Sie wollte durchaus schon das Rechte erfaßt haben und ihr ganzes Haus sollte davon zeugen. Liebe Tante, ich versichere Dich, das alles sollte mir gar nicht schwer werden, wir leben doch eigentlich nur in einem christlichen Kreise.

Die Tante nickte, sie sah aber dabei etwas besonders aus.

Aber die Familienrücksichten, fuhr Elise eifrig fort, diese beiden Tanten, – o Du glaubst nicht, wie schwer das ist.

Haben die Tanten eigentlich andern Umgang als Ihr? sagte Emilie, die bis jetzt bescheiden geschwiegen.

Sie haben mehr Umgang als wir, erwiederte Elise, allerdings gehören sie auch zu unserem Kreise.

Giebt es denn in diesem Kreise Bälle? forschte Emilie weiter.

Bauers gehören nicht zu unserem näheren Umgang, entgegnete Elise, wir laden uns nur gegenseitig zu größeren Gesellschaften ein. Uebrigens werdet Ihr doch nicht größere Gesellschaften und Bälle ganz und gar verwerfen wollen? Der Onkel war als Regimentscommandeur doch auch gezwungen Gesellschaften und Bälle zu geben?

Gesellschaften wohl, entgegnete Emilie schnell, aber er war nicht gezwungen seine Töchter zum Tanzen herzugeben.

Ja liebe Elise, nahm die Tante sanfter das Wort, es war mir immer ein schwerer Gedanke, meine lieben Mädchen, die ich auf meiner Seele trug, die ich gern bewahren wollte vor dem Gifthauch, der schon manche Blume verkümmert hat, wenn ich sie mit Männern sollte tanzen sehen, die durch ihre Gesinnung sonst von unserem Familienkreis ausgeschlossen waren. Das aber ist nicht zu vermeiden, wenn wir sie in fremden Kreisen tanzen lassen. Ich will damit nicht sagen, daß es unbedingt jedem Mädchen schaden muß, wenn sie einen Ball besucht, dagegen spricht die Erfahrung. Ich will auch nicht sagen, daß wir unsere Kinder ganz und gar von der sogenannten Gesellschaft ausschließen können und müssen. Ja, ich möchte ernsthaft warnen, – sie schaute dabei unwillkürlich auf Emilien, – alle Menschen in dieser sogenannten Gesellschaft gleich hart zu beurtheilen; aber unser Leben soll dennoch bezeugen, daß wir entschieden nur dem einen Herrn dienen, und unser selbstgewählter Umgang muß mit uns auf gleichem Grunde stehen. Wir sollen wachen und beten, daß die Welt nicht an uns heran kann, und dabei treu sein in der geringsten Kleinigkeit und die Treue in der geringsten Kleinigkeit keine Minute aufschieben. Die Treue eines solchen Sinnes segnet der Herr, und mit diesem Sinn können wir für uns und unsere Kinder desto ruhiger sein, wenn uns der Zufall oder Berufspflichten wider unseren Willen in weltliche Kreise hineinführen. Es ist uns auch dies letztere, obgleich wir uns nicht davor gefürchtet haben, selten begegnet, denn je entschiedener wir bekennen und danach wandeln, je leichter wird uns alles, und auch die Geselligkeit. Es verlangt ja niemand in das Haus, der sich nicht auch wohl fühlt darin, und zwar wohl fühlt darin ohne die gegenseitige Spannung, liebenswürdig und interessant sein zu müssen. Das Urtheil und die Liebe der Freunde hängen nicht von einem Tage ab, und die Hausfrau darf an eingemachte Früchte, Toilette und interessante Unterhaltung gerade so viel denken, als es die Gastfreundschaft verlangt. Die Interessen gehen über so kleine unwichtige Dinge hinaus, und der Größe der Interessen angemessen ist das Vergnügen des Zusammenseins, Freude und Friede und Wohlbehagen.

Liebe Tante, das alles, hoffe ich zum Herrn, werdet Ihr in unserem Kreise auch finden, entgegnete die Nichte etwas gereizt.

Liebe Elise! nahm die Tante jetzt ziemlich feierlich das Wort: einer Mutter, die ihre Tochter auf einen Ball führt, weil sie noch schwankt zwischen dem Herrn und zwischen der Welt, weil sie sich nicht losmachen kann von Eitelkeit, Sorgen und Rücksichten, die allein der Welt angehören, spreche ich das Recht ab für sie zu beten.

Tante, rief Elise ziemlich heftig, wie kannst Du so hart sein!

Wenn eine Mutter bittet: »Herr, führe meine Tochter nicht in Versuchung« ist es nicht fast wie Spott, wenn sie selbst die Tochter hinein führt?

Wie viele unschuldige junge Mädchen tanzen, und es schadet ihnen wirklich nichts! entgegnete Elise wieder.

Damit würdest Du aussprechen, daß für junge unschuldige Mädchen die Fürbitte überhaupt nicht nöthig ist, denn die größte Versuchung, die es für junge unschuldige Mädchen geben kann, sind doch wohl diese Art Bälle.

So hältst Du das Tanzen überhaupt für unerlaubt? unterbrach sie Elise. Und doch erlaubt es selbst Luther, ich kann Dir Stellen sagen, wo er darüber spricht, fast wörtlich weiß ich sie auswendig. – Die Tante wollte sie unterbrechen, aber sie litt es nicht und fuhr eifrig fort. Er sagt: Vom Tanzen muß man das Gleiche wie vom Schmuck sagen: es bringt viel Anregung zur Sünde, wenn es ohne Maaß und Zucht geschieht, aber weil das Tanzen auch der Welt Brauch ist bei jungen Leuten, die zur Ehe greifen, und es eben auch züchtig und nur zur Freude geschieht, so ist es nicht zu verdammen. Daraus sollen die hoffärtigen Heiligen nicht Sünde machen, wenn es nur nicht zum Mißbrauch geschieht. – Er sagt auch: Wo es züchtig zugeht, lasse ich der Hochzeit ihr Recht und tanze immerhin. Der Glaube und die Liebe läßt sich nicht austanzen. Die jungen Kinder tanzen ja ohne Sünde; das thue auch, und werde ein Kind, so schadet dir der Tanz nicht.

Elise hatte das ziemlich triumfirend gesagt und die Tante freundlich zugehört, nicht ohne einige Seitenblicke auf Emilien, die unruhig zu werden schien. Jetzt nahm die Tante das Wort: Ich bin mit Luther ganz einverstanden, auch wir verwerfen das Tanzen nicht geradezu. Vor allen Dingen aber bedenke, ob Dir Luther erlauben würde, mit weltlichen und ungläubigen Leuten denselben Weg zu ziehen und mit ihnen zu tanzen.

Liebe Tante, wir verkehren aber nicht mit weltlichen ungläubigen Leuten! unterbrach sie Elise lebhaft.

Prüfe Dich einmal aufrichtig, fuhr die Tante ruhig fort, was Dich bewegt auf diesen Ball zu gehen. Du mußt es gewiß zugeben, Du führst Deine Tochter geradezu und so ganz ohne Noth in die Welt hinein, und widersprichst mit diesem Acte der christlichen Erziehung, die Du ihr mit Wachen und Beten wolltest angedeihen lassen, ganz und gar. Wenn Luther hier vom Tanzen redet, so denkt er an Hochzeiten und Familienfeste in kleinen befreundeten Kreisen. Zu Deiner Eltern Silberhochzeit haben wir alle fröhlich getanzt, das war eben nur um unserer Freude einen Ausdruck zu geben, und niemand wird sich ein Gewissen daraus gemacht haben. Ebenso ist in unserem Hause und auch bei unseren Freunden zuweilen an festlichen Tagen getanzt worden: die jungen Männer, denen es erlaubt war, mit unseren Töchtern zu tanzen, waren von uns geachtet und wohlgelitten, und mit Vergnügen sahen wir Eltern der Jugend zu, die fröhlich und gewiß in Luthers Sinne getanzt hat. Freilich auch hier mit Unterschied, einer mit mehr Vergnügen als der andere. Emilie hat selbst hier nicht getanzt, fügte sie lächelnd hinzu. Wir können ihr das weder zum Vorwurf noch zur Tugend anrechnen, es ist ebenso, als wenn ein Mädchen mehr Neigung zum Heirathen hat, und ein anderes in ein Kloster zu gehen, oder wie es ja unsere evangelischen Jungfrauen auch thun, ihr Leben ernsten Zwecken zu weihen. Der Apostel spricht sich deutlich genug darüber aus, es kommt auf den inneren Beruf an. Der eine ist ernst schon von Jugend auf, der andere fröhlich; die Hauptsache ist und bleibt doch, daß wir uns von ganzer Seele dem Herrn ergeben, uns streng abwenden und absondern von der Welt Ansichten und Meinungen und Gebräuchen und Freuden, entschieden bekennen nicht nur in Worten, sondern durch unser ganzes Leben, daß wir Kinder Gottes sein und unseren Reichthum, unser Glück und unseren Frieden nicht vertauschen wollen mit einer so armseligen gemachten Scheinwelt. O, setzte die Tante warm hinzu, wem der Herr Kinder geschenkt hat, sollte gar keine andere Freude, Unterhaltung suchen, als mit seinen Kindern, – ich sage suchen, denn es findet sich dann manche liebe Seele, die, von dem warmen Lichtstrahl eines solchen Familienlebens angezogen, gern dazwischen ist. Wenn ein Familienleben mit kleinen Kindern treu und gewissenhaft vor dem Herrn ist, wenn die Kinder aufwachsen in dem Einen, was der Seele Licht und Leben und Freude giebt, dann wird sich auch das Leben mit großen Kindern der Welt gegenüber leicht und natürlich gestalten. Solche Kinder entbehren nicht die Freuden der Welt, sie finden täglich und stündlich etwas weit Besseres im Hause, sie fühlen sich da so heimisch und wohl, daß ihnen der Gedanke, in die sehr thörichte Welt hinausgeführt zu werden, unheimlich oder auch komisch vorkommt, je nachdem die Anlagen sind. Es schließt dies alles nicht aus, daß wir unsere Kinder lehren (und ihnen selbst natürlich mit gutem Beispiel darin vorangehen), den Nächsten dort in der Welt auf dem Herzen zu tragen, ihnen zu dienen und zu helfen, ja von uns soll ihnen liebreicher und bereitwilliger gedient werden als von ihren Freunden in der Welt.

Elise schwieg. Sie fühlte die Wahrheit dieser Schilderung nur zu gut. Es war ja das getreue Bild ihrer Jugend, ihres Lebens im elterlichen Hause selbst. Die Erinnerung daran war auch der schmerzende Stachel, der ihr im Herzen saß und sie keinen Frieden, keine Genugthuung finden ließ, trotz ihres Fleißes, trotz ihrer Hausfrauentreue vom Morgen bis zum Abend. Sie suchte den Grund ihres Unbehagens, ihres Unfriedens, des ganzen Unsegens, der auf ihrem Familienleben ruhte, so gern in den Folgen des Stadtlebens. Als sie im vergangenen Herbst der Mutter ihre Noth darüber klagte, hatte diese gesagt: Meinst Du, daß den armen Städtern die Seligkeit vom Herrn rund abgesprochen und der Weg zur Seligkeit, zum Frieden und zur süßen Gemeinschaft mit Ihm abgesperrt ist? O nein:

Warte nicht auf andere Zeiten, nicht auf andern Ort und Stand,
Denn Gott hätt es schon geändert, hätt er es für gut erkannt.
Hoffe nicht auf dies und das, was noch soll allhie geschehen;
Richte von dem Augenblicke nur dein Herz dem Himmel zu;
Such in Hoffnung jener Freude nur allein die wahre Ruh,
Und verspare deine Lust (mußt du hier mit Thränen säen)
Bis zu jener Ewigkeit. Denn je mehr man sich enthält,
Und sich aller Ding entschlägt; desto süßer wird die Freude
Und die Herrlichkeit dort sein. Drum so kämpfe, meid und leide,
Seufze stets: Mein Licht und Führer, zeuch mich, zeuch mich von der Welt.
Laß mit jedem Tritt und Schritt mich zur Ewigkeit nur eilen,
Und nicht einen Augenblick mich in etwas mehr verweilen.

Wenn Dich dies noch schwer und bitter dünkt, hatte die Mutter gesagt, so glaube nur, daß Dein Herz nicht dem Herrn, sondern der Welt gehört. Der Stachel aber und die Unruhe in Deinem Herzen, ja, das ist der Segen meiner Fürbitten für mein armes liebes Kind. So hatte die Mutter mit Thränen geschlossen. Elise hatte mit ihr geweint, und mit ihr einen Bund des Gebetes gemacht, dem sie ja auch in jeder frühen Morgenstunde nachzuleben suchte. Trotz des Gebetes waren aber ihre Stimmungen verschieden. Zuweilen dachte sie: Die Mutter hat Recht und es ruht der Segen schon auf ihrem irdischen Leben. Dann wieder konnte sie sagen: Wenn die Mutter in einer großen Stadt hätte leben müssen, würde es anders gewesen sein, sie kann es nicht beurtheilen, und es muß sicher möglich sein bei äußerer auch verschiedener Lebensart denselben Kern zu bewahren. Die Tante hatte in ihrem jetzigen Gespräch das ganz und gar bestritten und Elise konnte nicht das Stadtleben als Entschuldigung vorbringen, weil die Tante in ganz ähnlichen, ja vielleicht noch schwierigeren Verhältnissen lebte, als sie selbst. Verlegen und unzufrieden und mit zitternder Stimme sagte sie jetzt:

Der Ball, der unsere Frage jetzt veranlaßte, hat mich und meinen Mann schon Kämpfe gekostet, aber wir haben uns wirklich beide mit Luthers Worten heute beruhigt.

Ihr könnt Luther nicht so mißverstehen, nahm die Tante noch einmal dringend das Wort. Wenn Du seine Schriften bei der Hand hättest, wollte ich Dir auch zeigen, wie mißbilligend er von dem »öffentlichen Tanzen« – und dazu gehören doch Eure Bälle – spricht, wodurch unsäglich viel Sünden entstünden. Und wie er sich überhaupt zu dem Treiben der Welt stellt. Einer Stelle erinnere ich mich deutlich. Die Welt ist die Welt, sagt er da, ja eine Unwelt, ein Feind Gottes. Man darf in der Welt nichts suchen was Gott gefalle, denn da ist eine Sünde über die andere. Man spürt auch den großen Zorn Gottes, doch lacht man und hüpft und springt, ist lustig und guter Dinge, gleich als wenn keine Gefahr vorhanden, sondern alles unser Thun gut und köstlich Ding wäre. – Liebe Elise, ich möchte Dir heute so dringend abrathen, weil Ihr, wenn Ihr Elisabeth einmal beginnen laßt, sie schwer wieder zurückziehen könnt. So wie diese Gelegenheit werden sich eine Menge Gelegenheiten darbieten, und wenn Ihr jetzt nicht den Muth zum Ausschlagen habt, werdet Ihr ihn nie haben dürfen.

Sollte nicht Elisabeth selbst irre werden, fügte Emilie ziemlich bescheiden hinzu, dergleichen mit ihrer christlichen Erziehung zusammen zu reimen?

In dem Augenblick trat Elisabeth selbst herein, sie trug sehr künstliche feine Butterbrode und Theekuchen, und das Mädchen folgte mit dem Theekessel und mit den anderen nöthigen Sachen.

Nun will ich Euch Lieben schön bewirthen, sagte sie fröhlich. Um diese Zeit Thee trinken ist gar so hübsch, wenn ich das einmal haben kann, werde ich es einrichten. Dann gehe ich immer vorher in der Dämmerung spazieren, ich liebe es sehr, wenn es so wie heute stürmt und etwas wüst ist, darauf ist es zu schön in einem gut eingerichteten Wohnzimmer.

Deiner Fantasie wird es nicht schwer werden, den Thee hinzu zu denken, sagte lächelnd die Mutter, und außerdem ist Dir das Vergnügen erlaubt.

Nein, Mama, hier geht das doch nicht recht, entgegnete Elisabeth, die Kleinen lassen mich selten in Ruhe, und dann ist es bei uns zu unruhig überhaupt.

Komm nur recht oft zu mir, sagte Emilie, wir wollen Thee zusammen trinken und lesen und musiziren, ich habe das Reich allein, weil ich das kleinste Kind bin.

Schön, liebe Emilie, ich komme! rief Elisabeth und umarmte dabei die Quasi-Tante so herzlich, als wie sie damals Tische und Stühle umarmt hatte. In den nächsten Tagen freilich kann ich nicht kommen, fügte sie nachdenklich hinzu, morgen und übermorgen bin ich in Pension bei den Tanten, da wird geschneidert, dann kömmt der Ball. – Elisabeth war zu klug, um nicht an den Zügen der Mutter zu merken, daß ihr das Gespräch nicht angenehm sei; ihr Herz aber war zu voll, sie konnte unmöglich schon schweigen. Liebe Tante! begann sie komisch und feierlich, ich bitte Dich, rede der Mama nicht ab nach dem Ball zu gehen, ich freue mich zu sehr darauf.

Ich habe schon abgeredet, entgegnete die Tante sanft.

Und ich verspreche Dir, fiel Emilie ein, den ganzen Winter hindurch die herrlichsten Thee-Abende, wenn Du den Ball aufgiebst.

O herzensliebe Emilie, lachte Elisabeth, erst gehe ich auf den Ball, und dann folgen die herrlichen Thee-Abende. Liebe Tante, wandte sie sich ziemlich altklug zur Generalin, Du weißt vielleicht nicht, daß es hier in Berlin Mode ist, daß auch gläubige Leute Bälle, Conzerte und Theater besuchen.

Elisabeth, Du bist ein albernes Kind, unterbrach sie die Mutter ärgerlich, und die Tante fühlte deutlich, daß dies Gespräch nicht wieder begonnen werden dürfe. Sie fragte nach den kleinen Kindern und verlangte sie hier zu haben. Elisabeth eilte mit Emilien fort, und beide kehrten mit drei Kleinen, einem fünfjährigen Knaben und zwei etwas älteren Mädchen zurück. Einige Minuten später kamen auch Fritz und Karl, die beiden Gymnasiasten, die in des Vaters Zimmer gearbeitet hatten, und die gute Tante und ebenso Emilie hatten bald eine fröhliche und harmlose Unterhaltung in Gang gebracht.


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