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Der Weihnachtsbaum

Sie stehen im Kreise und warten, bis die Mutter die letzten Lichter ausgeblasen hat und sagt: »Jetzt dürft ihr plündern!«

Und die Kinder fahren drauflos, ein jedes nach Verstand und Gaben.

Es sind dumme Kinder darunter: die greifen nach vergoldeten Äpfeln und Knittergold, das in Büscheln dahängt.

Es sind dicke und bequeme Kinder da: die stellen sich ganz ruhig hin und leeren Düten und Netze, und wenn sie Pfeffernüsse darin finden, mogeln sie sie listig in andere Behälter hinüber und behalten selber nur die leckersten Sachen.

Es sind schwache Kinder da: die werden beiseite gepufft und stehen verzagt, das Weinen in der Kehle, hinter den andern, bis einer der Erwachsenen sie entdeckt und ein paar Handvoll für sie sammelt.

Und da sind ehrgeizige Kinder, die auf Stühle klettern und so lange auf den Zehen stehen, bis sie den Stern an der Spitze heruntergezerrt haben. Daneben hängen auch gewöhnlich Marzipanfiguren und saftige Apfelsinen, die mit in den Kauf gehen.

So plündern die Kinder den Tannenbaum, – ein jedes nach Verstand und Gaben.

 

Das Kind schläft ein, die Augen voll von Kerzenglanz, den Magen voll von Süßigkeiten und Leckereien.

Es erwacht früh und besinnt sich, daß Weihnachten ist. Die Geschenke liegen im Wohnzimmer unter dem Tannenbaum. Wie sie wohl bei Tage aussehen? – Vater und Mutter schlafen noch. Leise steigt es aus dem Bett; auf bloßen Füßen und im Nachtkleidchen huscht es hinaus auf den kalten Korridor und durch das Eßzimmer. Dort ist es fast dunkel. Die Gardinen sind vorgezogen. Die Wohnstubentür steht angelehnt – wie schwarz es da drinnen aussieht!

Das Kind bleibt auf der Türschwelle stehen, ein unheimliches Gefühl erfaßt es. Der Baum steht wie ein drohender Schatten da, kalt und kahl streckt er die langen Arme aus. Es ist so grabesstill hier drinnen in dem dunklen Zimmer, daß man es hören kann, wenn die Nadeln von den Zweigen herabfallen. Und dann begegnet der starre Blick dem Bilde einer kleinen weißgekleideten Gestalt im Spiegel, der schräg über dem Sofa hängt.

Das Kind eilt atemlos zurück, es stößt die kleinen Füße an den Tisch- und Stuhlbeinen, hat keine Zeit, die Türen zu schließen, und verkriecht sich zitternd in die Kissen, die noch warm sind. Da drückt es sich hinein, wagt nicht aufzusehen, vor Angst, etwas Schreckliches zu erblicken, ist nahe daran zu weinen, und schläft schließlich wieder ein.

Wenn dann die Mutter aufsteht, schaut sie zu dem Kinde hinüber, das ganz in den Kissen begraben daliegt. Sie beugt sich hinab, küßt die brennende Stirn und lächelt.

 

Der Tannenbaum wird in das Schrankzimmer gestellt. Dort steht er und wirft seine Nadeln von Weihnachten bis Neujahr ab. An den Zweigen kleben lange rote und gelbe Stearinflecke – das ist sein ganzer bunter Schmuck. Die Kinder gucken zu ihm hinein, anfangs ein wenig scheu und feierlich, bald aber verliert sich ihre Befangenheit. Sie kehren jeden einzelnen Zweig um, legen sich wieder und wieder auf den Bauch und durchwühlen den Sand des Kübels, um zu sehen, ob sich nicht doch irgend etwas Gutes verkrümelt haben sollte.

Und dann haben sie in Erfahrung gebracht, daß der Baum am Silvesterabend wieder aufgeputzt werden soll.

Das also war das Ganze! Ein Weihnachtsbaum ist nichts weiter als ein aufgeputzter Tannenbaum – gar nicht etwas apart Feierliches, das das Weihnachtsfest gebracht hatte, sondern etwas, das man haben konnte, so oft man wollte, wenn man nur die Mutter zu bewegen vermochte, ein wenig Naschwerk und Schmuck herauszurücken!

Sie stehen vor der Wohnstubentür und warten. Durch die Ritzen können sie sehen, wie es heller und heller wird. Das ist der Vater, der da drinnen anzündet.

Sie sind fast ein wenig verlegen; sie können mit dem besten Willen nicht so gespannt und erwartungsvoll sein, wie die Mutter es von ihnen voraussetzt.

Und dann geht die Türe auf. Nicht die Kinder des Hauses, sondern nur die kleine Tochter der Waschfrau sagt: »Ah!« Die andern schleichen stille herum, finden den Baum ärmlich, finden, daß viel weniger Lichter da sind als neulich, mustern, was angehängt ist, und sehnen sich nur danach, daß die Lichter ausbrennen sollen.

Nun sehen sie, wie das Ganze gemacht ist. Sie beachten alle Lichthalter, jedes einzelne Band; sie sehen, daß viele von den Düten und Körbchen zerrissen und zerknittert sind.

Und dann geht ein steifröckiges, sechsjähriges Ding hin und sagt in gönnerhaftem Ton zu der kleinen Tochter der Wäscherin:

»Findet Stine nicht, daß der Weihnachtsbaum wunderschön ist?«


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