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Eine glückliche Ehe

1

Als der Ministerialrat Dr. jur. Friedrich Jermer eines Morgens eine Verlobungsanzeige mit dem Namen Nancy Schmidt, Christian Mogensen, Postassistent, erhielt, mußte er unwillkürlich lächeln.

Wie in aller Welt war es nur zugegangen, daß sein alter Schulkamerad Mogensen, dieser ruhige Mensch, sich mit der hübschen Nancy Schmidt verlobt hatte?

Jermer kannte sie von der Straße. Er erinnerte sich ihrer, wie sie vor fünf, sechs Jahren als eben konfirmierter Backfisch die Fliesen der Östergade betrat. Sie hatte eine eigenartige Weise, sich zu halten, – man konnte sie nicht so leicht übersehen. In dem sanften Neigen des Kopfes lag etwas ausgeprägt Jungfräuliches. Dann konnte sie aber plötzlich die großen Augen aufschlagen mit einem Blick voll warmer Kühnheit. Jermer hatte hin und wieder, wenn er ihr begegnete, Lust verspürt, ihr zu folgen und sein Glück zu versuchen. Jedesmal aber hatte er es aufgegeben aus Furcht, daß er sich auf den Wink, den diese Augen ihm gaben, nicht verlassen könne. Und Nancy Schmidt gehörte nicht zu den Damen, von denen man im voraus Entgegenkommen erwarten darf. Er kannte in kurzen Zügen ihre Familienverhältnisse. Sie war die Tochter eines vor wenigen Jahren verstorbenen Bankkassierers. Die Mutter war schon lange tot. Jetzt wohnte Nancy Schmidt bei ihrer alten kränklichen Tante, der einzigen, unverehelichten Schwester ihres Vaters.

Mit dieser leichtfüßigen Kopenhagenerin hatte sein Jugendfreund Christian Mogensen sich also verlobt!

Friedrich Jermer und Christian Mogensen stammten aus derselben Stadt. In der seeländischen Provinzstadt, wo Jermers Vater Bürgermeister gewesen war, betrieb der alte Mogensen ein einträgliches Geschäft mit den Landleuten der Umgegend. Die beiden gleichalterigen Knaben wurden gleichzeitig in die Hauptstadt geschickt, um die Lateinschule zu besuchen. Sie wohnten in demselben Pensionat, gingen in dieselbe Schule und waren in derselben Klasse, während aber Jermer immer den Platz eines Primus inne hatte, begnügte sich Mogensen in aller Bescheidenheit damit, eine Durchschnittsstellung einzunehmen. Überhaupt bestand zwischen den beiden Freunden niemals ein Zweifel darüber, daß Jermer der Überlegene war. Er war ein heller Kopf, hatte ein einnehmendes Wesen und verriet schon als Kind ein feines Verständnis dafür, sich das Leben angenehm zu machen. Er war gleichzeitig der Liebling der Lehrer und der Führer der Kameraden. Mogensen dagegen war schwerfällig, brav, solide, fleißig, aber ohne alles Talent, sich in den Vordergrund zu stellen und Aufmerksamkeit zu erregen.

Nach den ersten Studienjahren trennten sich die Wege der beiden Freunde. Mogensen gab das Studieren bald auf, um die Postkarriere einzuschlagen, während Jermer, der mehr Ehrgeiz besaß, einer angesehenen juristischen Laufbahn entgegenstrebte. Er besuchte seine Kollegien ebenso gewissenhaft wie er seine gesellschaftlichen Verbindungen in reichen vornehmen Häusern pflegte. Mit zweiundzwanzig Jahren machte er sein Examen und kam bald darauf in das Finanzministerium, wo er jetzt 7–8 Jahre gearbeitet und sich nach den besten Mustern ausgebildet hatte. Er war korrekt im Wesen wie in der Toilette, stets sehr soigniert und nach der neuesten Mode. Mit seiner graden, gemessenen Haltung war er ganz der Typus eines jungen Ministerialbeamten comme il faut, halb Diplomat, halb Geistlicher.

Hinter seinem korrekten Äußern verbarg er weniger korrekte Anschauungen, und in Gesellschaften machte er durch eine leise Ironie großes Glück bei den Damen. Man sagte von ihm, daß er allerhand leichte erotische Verbindungen gehabt habe, aber er war durchaus diskret in bezug auf diese geheimen Angelegenheiten und vermied mit Erfolg jeglichen Skandal.

Während mehrerer Jahre hatten Jermer und Mogensen wenig miteinander zu tun gehabt. Die freundschaftlichen Beziehungen hatten sich sogar ein wenig gelockert. Zwei-, dreimal des Jahres besuchten sie einander, und wenn sie sich auf der Straße begegneten, knüpften sie eine Unterhaltung an.

Es war ganz selbstverständlich, daß Jermer seinem alten Freund einen Gratulationsbesuch machte. Das erhöhte Interesse, welches der Name der Braut in ihm erregte, bewirkte, daß die Visite sehr bald abgestattet wurde. Schon am nämlichen Tage suchte er Mogensen auf und traf ihn auch zu Hause. Der Freund war freudig überrascht durch diese herzliche Anteilnahme; in seinem überschwenglichen Glück vertraute er Jermer gleich seinen ganzen kleinen Liebesroman an.

Er hatte seine Verlobte beim Zahnarzt kennen gelernt, wo sie sich mehrere Morgen hintereinander getroffen und wo ihr Mogensen den Hof gemacht hatte, indem er es so einzurichten wußte, daß er stets zuerst kam, um der jungen Dame dann galant den Vortritt zu lassen.

»Übrigens mußt du nicht glauben, daß die Zähne meiner Braut schadhaft sind,« beeilte er sich einzuschalten, »sie kam nur dahin, um sie nachsehen zu lassen. Mir dagegen wurden ein paar Backenzähne plombiert.«

Später hatten sie einander auf der Straße getroffen und sich dann bald verlobt. Und in einem Monat oder in zweien sollte die Hochzeit stattfinden, sobald Nancy ihre Aussteuer beschafft habe. Sie hatten ja keinen Grund zu warten. »Du weißt, daß ich ungefähr 3000 Kronen an Zinsen habe, wenn mein Gehalt von 1800 Kronen dazu kommt, können wir ganz gut leben.«

»Ich freue mich schon darauf,« fuhr er fort, »daß du und Nancy miteinander bekannt werdet. Wir haben oft von dir gesprochen, und ich weiß, daß sie sehr gern einmal mit dir zusammentreffen will.«

Schließlich verabredeten sie, daß sie einen Tag dieser Woche in einem Restaurant zu Abend essen wollten.

– – – Jermer war zuerst da und hatte an einem Tisch Platz genommen. Bald darauf öffnete sich die Tür, und Mogensen und seine Braut traten ein, – er breit, groß, den Hut im Nacken, rotwangig mit viereckigem, rotblondem Vollbart, sie schlank und fein, in einem modernen wollenen Frühlingskleid, einer kurzen Jacke und einem Matrosenhut.

Den Arm um ihre Taille gelegt, führte Mogensen sie dem Freund zu, der sich erhoben hatte und stellte vor:

»Hier, Schatzi, siehst du meinen ältesten und besten Freund, Friedrich Jermer. Ich will hoffen, daß ihr mit der Zeit gute Freunde werdet.«

Fräulein Nancy schlug ihre großen Augen auf, und schaute Jermer an, dann reichte sie ihm die Hand und sagte lächelnd:

»Wenn nur die Hälfte von all den Lobreden, die ich über Sie vernommen habe, wahr ist, –«

Jermer unterbrach sie:

»Über Sie war jegliche Lobrede überflüssig. Ich habe Sie lange gekannt und bewundert.«

Sie verbrachten einen lebhaften und angenehmen Abend miteinander. Die junge Dame sagte nicht viel, lächelte aber desto mehr, und ihr Lächeln war entzückend, so kokett und verschämt zugleich. Stets machte sich bei ihr diese Mischung von Vorsicht und Kühnheit, jenes Locken und Zurückweichen bemerkbar, das Jermers Neugier schon das erste Mal, als er sie sah, erregt hatte.

Das Verhältnis zwischen den Brautleuten war liebevoll. Mogensen trat mit verliebtem Eifer auf und ließ keine fünf Minuten vergehen, ohne eine Liebkosung zu fordern. Und ohne damit zu geizen, aber auch ohne Begeisterung, ließ sie ihn küssen und streicheln, bewahrte stets ihr sanftes Lächeln, hielt ihm die Wange hin, sich wohlbehaglich reckend, wenn er sie auf den Nacken küßte.

Jermer und Fräulein Nancy blieben einen Augenblick allein. Sofort verstummte die Unterhaltung, dann aber sagte sie, ihm ruhig in die Augen sehend:

»Wissen Sie wohl, daß bei meiner Verlobung mit Christian beinahe das Amüsanteste für mich die Aussicht war, Sie kennen zu lernen?«

Er erwiderte:

»Und wissen Sie wohl, daß ich Mogensen beneide?«

Als Mogensen im selben Augenblick zurückkam und auf seine Braut zuging, um sie auf das Haar zu küssen, wiederholte Jermer:

»Ich erzählte Fräulein Schmidt soeben, daß ich dich beneidete!«

»Das tut mir leid, deinetwegen,« entgegnete Mogensen, auf den Scherz eingehend, – »aber wir können sie ja nicht gut beide bekommen, nicht wahr, Schatzi?«

II

Die Neuvermählten wohnten in der Gothersgade mit der Aussicht auf den Botanischen Garten.

Es war eine gut eingerichtete und geschmackvoll ausgestattete Wohnung von fünf Zimmern. Die ganze Mitgift der jungen Frau bestand aus 5 bis 6000 Kronen; für dies Geld und mit Hilfe ihres geschickten Arrangementtalents hatte sie sich ein reizendes Heim geschaffen, – wohlhabend, gemütlich und mit einem gewissen altmodischen Komfort, wozu die soliden Mahagonimöbel, die sie von der Tante bekommen hatte, das ihrige beitrugen. Diese alte Dame war nach der Verheiratung der Nichte in das Stift für alte Jungfern gezogen.

Im Mai wurde die Hochzeit in aller Stille gefeiert. Als die Neuvermählten nach einer vierzehntägigen Hochzeitsreise in die sächsische Schweiz zurückgekehrt waren, machte ihnen Jermer seine Aufwartung und wurde schon wenige Tage später zu Mittag eingeladen.

Dann kam der Sommer, und Jermer war teils auf Reisen, teils durch Besuche bei seinen Bekannten in ihren Sommerfrischen in Anspruch genommen, und endlich nahm ihm sein Verhältnis zu einer russischen Schulreiterin, die im Zirkus auftrat, nicht wenig Zeit.

So kam es denn, daß er während des ganzen Sommers nichts von Mogensens sah und auch nur sehr wenig an sie dachte

Aber eines Tages, zu Anfang September, begegnete er der jungen Frau im Örstedpark. Er ging mit einem Bekannten und mußte sich infolgedessen damit begnügen, sie zu begrüßen, sie aber sandte ihm ein so liebenswürdiges, wiedersehensfrohes Lächeln zu, daß ihn eine plötzliche Sehnsucht nach ihr ergriff.

Er ging schon den nächsten Tag zu ihr und traf sie allein. Sie empfing ihn mit freundlichen Vorwürfen, weil er sie so ganz vernachlässigt habe. Er entschuldigte sich damit, daß er sie in dem Idyll ihrer Flitterwochen nicht habe stören wollen. Als er dies sagte, glitt gleichsam ein Schatten von Verstimmung über ihre Züge, und er beeilte sich auf ein anderes Thema überzugehen, unsicher, ob er sie verletzt oder betrübt habe.

Sie ihrerseits neckte ihn mit dem Zirkus. Ob er viel da gewesen sei, ob er sich nicht in eine der Kunstreiterinnen verliebt habe? Er merkte, daß sie scharfen Ausguck mit ihm gehalten hatte, was ihm im geheimen schmeichelte, während er in ernstem Tone ihre Neckereien als unangebracht zurückwies.

Als er ging, forderte sie ihn eindringlich auf, sie doch einen Abend zu besuchen. »Mogensen sehnt sich nach Ihnen, jetzt fangen ja außerdem die langen Abende an, und der Zirkus ist fort. Wir geben keine Gesellschaften, aber wenn ein so verwöhnter Herr wie Sie mit einem einfachen Abendbrot und einem guten Glas Grog fürlieb nehmen will, so sollen Sie uns jederzeit herzlich willkommen sein!«

 

Jermer leistete der Aufforderung gar bald Folge, und es blieb nicht bei diesem einen Besuch.

Das Mogensensche Haus erhielt eine eigene Anziehungskraft für ihn. Er fand hier eine anheimelnde Gemütlichkeit, die er in den Kreisen, wo er hauptsächlich verkehrte, nicht gewöhnt war. Der Ton zwischen den beiden Herren und der jungen Frau war ungezwungen und kameradschaftlich, und Jermer hatte das Gefühl, daß sein Besuch Freude bereite. Ja, es schien ihm zuweilen, als verscheuche sein Kommen eine gedrückte Stimmung zwischen den Ehegatten. Eines Abends hatte er die junge Frau sogar mit Tränen in den Augen überrascht. Sie hatte sich jedoch beeilt, die Spuren des Kummers zu verwischen und war bald wieder in rosigster Laune. Mogensen war nach einer Weile mit finsterem Gesicht aus dem Schlafzimmer gekommen, als er aber seinen Freund erblickte, klärten seine Züge sich auf. Die Ehegatten nickten einander zu, lächelten, und es herrschte wieder eitel Sonnenschein im Hause.

Wie war eigentlich das Verhältnis zwischen Mogensen und seiner Frau? Und wie war eigentlich die kleine Frau Nancy überhaupt?

Darüber grübelte Jermer häufig nach und suchte Beobachtungen zu machen.

Wenn sie des Abends bei ihrem Glase Grog saßen, und die junge Frau sich aufwartend zwischen den beiden Herren bewegte, pflegte Mogensen sie im Vorbeigehen um die Taille zu fassen und ihr einen Kuß zu rauben. Sie bewahrte während dieser Liebkosung ihren sanft lächelnden Ausdruck, entwand sich aber schnell den Armen des Gatten, und dann kam es wohl vor, daß sie, Mogensen den Rücken zuwendend, Jermer einen eigenartig langen Blick zusandte, – einen Blick, den er nicht so recht zu deuten vermochte, – wenigstens war er sich nicht ganz sicher, ob es das zu bedeuten habe, was er darin zu lesen vermeinte.

Im Laufe des Herbstes kam Jermer immer häufiger in das Mogensensche Haus. Ihn zog einerseits das Wohlbefinden dahin, das er als gern gesehener Gast empfand, andererseits der berauschende Duft von Sehnsucht und Verheißungen, den Frau Nancys Wesen ihm gegenüber ausstrahlte.

III

Es war an einem Novembertage in der Dämmerstunde. Jermer kam, um einen Besuch bei Mogensens abzustatten. Das Mädchen, das ihm öffnete, sagte, der Herr sei nicht zu Hause, die gnädige Frau sitze aber im Wohnzimmer, der Herr Ministerialrat möge nur nähertreten.

Jermer klopfte an die Tür, die in Mogensens Zimmer führte. Niemand antwortete, und er ging hinein. Es war dunkel. Die Portieren zum Wohnzimmer waren zurückgezogen, – auch hier herrschte Dunkelheit. Leise – um zu überraschen – ging er über den Teppich, guckte in das Wohnzimmer und entdeckte Frau Nancy, die vor dem Ofen auf der Chaiselongue saß, den Rücken ihm zuwendend. Vornübergebeugt saß sie da, die Ellenbogen auf den Schoß gestützt, das Gesicht in den Händen bergend.

Als er dicht hinter ihr stand, sagte er mit tiefer Baßstimme: »Buh!«

Sie fuhr schreiend in die Höhe, strich sich schnell über die Augen und sagte in traurigem Ton, indem sie sich wieder niederließ: »Ach, Sie sind es, Jermer! Sie haben mich so erschreckt!«

Er ergriff ihre Hand, setzte sich neben sie und sagte mit weicher, teilnahmsvoller Stimme: »Liebe Frau Nancy, Sie weinen – was fehlt Ihnen?«

Sie entzog ihm ihre Hand nicht, lehnte sich zurück, so daß ihr Kopf seine Schulter berührte, und schwieg. Da strich er vorsichtig mit der Linken über ihr Haar und sagte in demselben sanften Ton, in dem man verweinten Kindern zuzureden pflegt: »Ist der lieben kleinen Frau etwas Unangenehmes begegnet?« Sie aber sank ihm krampfhaft weinend an die Brust, und während er sanft, ihre Hand immer noch haltend – vor ihr auf die Knie glitt, schluchzte sie: »Ach, ich bin so unglücklich, Jermer!«

Er antwortete, indem er sie mit heißen Küssen und Liebkosungen überschüttete, und sie leistete keinen Widerstand, sondern weinte unaufhaltsam. Erst als Jermer wieder auf der Chaiselongue saß, ihre Hand in der seinen, hielt sie mit dem Weinen inne und gleichsam sich besinnend, doch ohne Strenge, sagte sie: »Es ist häßlich, was wir getan haben. Was müssen Sie doch nur von mir denken?«

Lachend erwiderte er: »Ich denke, deine üble Laune wird nun wohl verflogen sein!«

Da lächelte sie durch Tränen und mit beiden Armen seinen Hals umschlingend, beugte sie sich zu ihm herab und preßte ihm einen langen heißen Kuß auf den Mund.

Und während sie in der Dämmerung sitzen blieben, selig über einander, und zahllose Liebkosungen austauschend, erzählte sie ihm, welche Enttäuschungen Mogensen als Ehemann ihr bereitet habe, wie gleichgültig er ihr gegenüber sei, wie sie eigentlich immer in ihn, Jermer, verliebt gewesen, und wie unglücklich sie sich in ihrem jungen, lebensfrohen Drang gefühlt habe, – einem Drang, den das Leben an der Seite des kühlen Gatten und das häufige Zusammensein mit Jermer, von dem sie geglaubt, daß er sich nicht das Geringste aus ihr mache, ihr stets zu schmerzlicherem Bewußtsein gebracht habe.

Jermer seinerseits war bemüht, indem er an seine Handlungsweise bei verschiedenen Gelegenheiten während ihrer bisherigen Bekanntschaft erinnerte, – eine Handlungsweise, deren rechte Bedeutung sie erst jetzt verstand, wenn sie sich auch zuweilen voller Entzücken das ihre dabei gedacht hatte, – ihr auf das Klarste zu beweisen, daß er sie gleich von Anfang an geliebt habe, und daß das, was jetzt geschehen war, in Wirklichkeit nichts anderes sei, als wonach er wie sie in gegenseitiger Verliebtheit sich schon längst gesehnt hätten.

IV

Das Verhältnis zwischen Jermer und Frau Nancy wurde bald sehr intim. Sie waren überglücklich. Er war ein sorgsamer, aufmerksamer, phantasievoller Liebhaber, sie die hingebendste, verständnisvollste Geliebte.

Sie hatten viel Gelegenheit zum Alleinsein. Entweder zu Hause bei Mogensens selbst, wenn Jermer das Ministerium eine Stunde früher verließ, als Mogensens Dienst beendet war, oder zu Hause bei Jermer, an den Abenden, an denen Mogensen durch seinen politischen Diskussionsverein in Anspruch genommen war, und die sie angeblich zu Besuchen bei der alten Tante im Stift benutzte. Außerdem fanden sich natürlich noch hier und da allerlei Gelegenheiten.

Während sich Jermer und Frau Nancy immer inniger aneinander anschlossen, wurde auch das Verhältnis zwischen Jermer und Mogensen immer freundschaftlicher.

Jermer bemerkte zu seiner Verwunderung, daß seine Verliebtheit in Frau Nancy erfrischend und verjüngend auf seine Freundschaft für den Mann wirkte. Während er in den letzten Jahren ein wenig ironisch und überlegen auf den naiven und nicht sehr kenntnisreichen Kameraden herabgeschaut hatte, entdeckte er jetzt immer mehr gute, – ja interessante Eigenschaften bei ihm.

Mogensen besaß – das bemerkte er jetzt – sowohl ein gesundes Urteil, als auch einen liebenswürdigen, eigenartigen Humor, der freilich nur im engen, intimen Kreis zur Geltung gelangte. Jermer wurde geradezu ehrgeizig in der Seele des Freundes. Er sprach mit Wärme von ihm, und war eifrig bemüht, andere von seinem guten Verstand und seinem Witz zu überzeugen. Auch Mogensen selbst gegenüber legte er sein Interesse deutlich an den Tag. Er spornte ihn an, sich im Dienste auszuzeichnen, die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten zu erregen und ihre Anerkennung zu gewinnen, voller Interesse lauschte er Mogensens Erklärungen über die Verhältnisse im Postwesen, über seine Pläne und Chancen. Und als er eines Tages einen guten Freund von Jermers Vater, einen der obersten Postbeamten, als denjenigen erwähnt hatte, der den größten Einfluß auf seine Karriere habe, stattete Jermer dem Betreffenden, in dessen Hause er ganz oberflächlich verkehrt hatte, sofort einen Besuch ab und brachte das Gespräch auf Mogensen, über den er sich dann in den höchsten Tönen erging. Auch auf andere Weise machte er sich dem Freunde nützlich. Er war ihm – durch Vermittlung eines ihm befreundeten, tüchtigen Börsenmannes – behilflich, Papiere, die nur niedrige Zinsen gaben, zu verkaufen und das Geld in ausländischen Staatsobligationen unterzubringen, die infolge einer falschen Panik gerade für einen Spottpreis zu erstehen waren.

Alle diese uneigennützigen Freundschaftsbeweise, all diese Fürsorglichkeit und Teilnahme von seiten Jermers, zu dem er immer bewundernd aufgeschaut hatte, riefen bei Mogensen natürlich eine begeisterte Anhänglichkeit wach. Wenn er Jermer jetzt nicht täglich sah, wurde er unruhig und traurig und ließ sofort bei ihm vorfragen, wo er denn eigentlich blieb oder auch er suchte ihn mit Einladungen zu locken, wie z. B.: »Heute abend gibt es dein Leibgericht, Krebse in Curry.«

Jermer wurde der feste Anknüpfungspunkt zwischen Mogensen und seiner Frau. Sie, die früher gar nicht recht wußten, worüber sie sprechen sollten, und die, nachdem die Erotik ihrer Ehe sich verflüchtigt hatte, einhergegangen waren und miteinander geschmollt hatten, fanden jetzt stets Stoff zu anregender Unterhaltung. Sie sprachen immer von Jermer: Was Jermer gesagt und getan hatte, wie unbeschreiblich liebenswürdig und gemütlich er war; von seiner Begabung, seinen glänzenden Aussichten, seinen feinen Beziehungen und seiner Treue gegenüber den alten Freunden. Wenn sich die beiden Ehegatten jetzt einmal uneinig waren, so geschah dies stets nur, weil Mogensen der Ansicht war, daß seine Frau nicht entzückt genug von Jermer sei. Teils aus Vorsicht, teils auch, weil sie zuweilen wirklich fand, daß ihr Gatte zu weit ging in seiner Anbetung, kam sie mit einer milden Kritik: sie hob z. B. gewisse komische Manieren bei dem Freund hervor, oder sie sagte, sie fände ihn reichlich von sich eingenommen und sehr mit sich selbst zufrieden. Eine solche Kritik empörte Mogensen. Jermer sei, gerade so wie er war, der beste Mensch von der Welt, er könne nicht den geringsten Fehler an ihm entdecken.

Es kam wohl auch vor, daß Frau Nancy des Abends, wenn Jermer gegangen war, Schelte bekam, weil sie nicht freundlich genug gegen ihn sei. So war sie z. B. eines Tages ein wenig eifersüchtig auf eine Dame ihrer gemeinsamen Bekanntschaft gewesen und hatte es nicht an Stichelreden fehlen lassen.

Kaum war Jermer aus der Tür, als Mogensen in gereiztem Tone sagte: »Ich finde, du bist durchaus nicht liebenswürdig gegen Jermer.«

»Was willst du damit sagen, mein Freund?«

»Weshalb fuhrst du fort, ihn mit Fräulein Clausen zu necken? Konntest du nicht merken, daß es ihn unangenehm berührte? Ich finde es taktlos von dir, dich in dergleichen Angelegenheiten zu mischen.«

»Aber es geschah ja nur im Scherz.«

»Ich fürchte, Jermer faßte es nicht als Scherz auf. Jedenfalls war es ein sehr unpassender Scherz, und ich finde überhaupt, daß du in der letzten Zeit nicht so gegen Jermer gewesen bist wie früher. Habt ihr euch erzürnt?«

 

Am nächsten Abend, als Jermer wieder an seinem gewöhnlichen Platz in dem kleinen Kreise saß, und Frau Nancy ihm sein Glas Grog brachte, sagte sie, indem sie neben ihm stehen blieb und ihm zulächelte:

»Wissen Sie, daß ich gestern abend Ihretwegen Schelte bekommen habe?«

»So – o?«

»Wozu mußt du Jermer das jetzt erzählen?« fiel ihr Mogensen in die Rede.

»Ja, das soll er gerade wissen. Ich bekam Schelte, weil ich nicht liebenswürdig genug gegen Sie sei. Mogensen behauptete, ich hätte in der letzten Zeit einen unangenehmen, neckischen Ton Ihnen gegenüber angeschlagen. Sind Sie mir böse?«

Jermer tat ein paar lange Züge aus der Zigarre, dann sagte er:

»Natürlich bin ich nicht im geringsten böse auf Sie. Übrigens aber stimme ich ganz mit Mogensen darin überein, daß Sie so liebenswürdig wie möglich gegen mich sein müssen!«

»Da kannst du hören, Nancy! Jermer hat es dir übel genommen!«

Frau Nancy nahm ihres Mannes Glas, stieß es gegen Jermers und sagte, ihn mit einem langen Blick anschauend:

»Da ich unartig gewesen bin, bitte ich Sie um Verzeihung. Ich beuge mich unter die Zucht meines strengen Herrn Gemahls, und werde in Zukunft stets liebenswürdig gegen Sie sein!«

Sie tranken, und Jermer küßte ihre Hand, während Mogensen sich behaglich ins Sofa zurücklehnte, ihnen zunickte und sagte:

»Das ist recht, Kinder. Und nun wollen wir einen gemütlichen Abend miteinander verleben.«

V

Wenn Frau Nancy und Jermer einen Abend allein zubrachten und sie glückselig im Sofa zusammensaßen und an einem Glase Wein nippten, sie eine Zigarette und er eine feine Havanna-Zigarre rauchend, sprachen sie oft über Mogensen.

»Er hat Unrecht an mir getan,« sagte sie dann wohl. »Es ist seine eigene Schuld, daß alles gekommen ist, wie es ist.«

Wenn dann Jermer fragte: »Falls er nun ein pflichtgetreuer Ehemann gewesen wäre, würdest du mich dann nicht lieb gehabt haben?« so antwortete sie mit einem unsicheren Lächeln: »Dann würde ich jedenfalls keine Entschuldigung gehabt haben.«

Jermer verteidigte seinen Freund und redete Frau Nancy in seinem Interesse zu. Er sprach seine feste Überzeugung aus, daß die Ehe in Wirklichkeit niemals auf Erotik begründet sein könne. Sollte man ewig miteinander leben, aneinander gefesselt sein, so verliere das Verhältnis schnell seinen Reiz. Es werde banal, ermüdend. Es erfordere eine beständige, gegenseitige Lust und träfe bald den einen, bald den andern unaufgelegt. Sei dies aber erst ein paarmal der Fall gewesen, so wirke das Verhältnis demoralisierend auf die Eheleute und mache sie schlecht und gehässig gegeneinander. Das Unglück sei, daß das, was sich in fröhlicher Freiwilligkeit vollziehen müsse, in der Ehe als Pflicht aufträte. Er, Jermer, verstehe nur zu gut, daß allein dies Pflichtgefühl Überdruß erzeugen könne. Und er sei auch davon überzeugt, daß nur die Ehen, wo beide Teile zur Ruhe gekommen seien und in der Hinsicht gegenseitig nicht zu große Ansprüche machten, die glücklichsten wären.

– – – Im übrigen sprach auch sie nur gut von Mogensen. Es gäbe keinen besseren Menschen, – sagte sie eines Abends. »Ich glaube, es gibt kein Opfer, das er mir nicht bringen würde. Und du ahnst nicht, wie sehr er dich liebt.«

Jermer antwortete: »Ich schätze ihn ebenfalls sehr. Mogensen ist ein ausgezeichneter Mensch.«

Sie saßen einen Augenblick schweigend nebeneinander. Dann sagte sie, die Hände im Schoß gefaltet, traurig vor sich hinstarrend:

»Ich fürchte, es rächt sich eines Tages doch, daß ich so gegen ihn gehandelt habe.«

Es war dies das erstemal, daß er ernste Worte der Reue aus ihrem Munde hörte, und er wußte nicht sogleich, wie er die Situation angreifen sollte. Dann aber nahm er ihre Hände, zwang sie, den Kopf zu erheben, und ihr fest in die Augen sehend, sagte er mit mildem Vorwurf: »Du bist ein großes Kind! Sei jetzt vernünftig und antworte mir aufrichtig: Gegen wen begehen wir ein Unrecht? – Wenn du ehrlich sein willst: ist das Verhältnis zwischen dir und deinem Mann besser oder schlechter geworden seitdem? Wart ihr vorher glücklich?«

Sie schüttelte den Kopf und er fuhr in heiterem Tone fort:

»Aber jetzt? Bist du etwa jetzt nicht glücklich?« Sie nickte lächelnd und drückte ihm die Hand. »Und er? Hast du ihn jemals so zufrieden gesehen? Ist es nicht, als sei eine Last von ihm genommen? Ist er nicht in jeder Hinsicht gleichsam verjüngt? Er ist fröhlich bei seiner Arbeit, er ist entzückt von dir, und in mir hat er einen treuen Freund, auf den er große Stücke hält. Überhaupt: Wo in der ganzen Welt findet man wohl drei Menschen, die gemütlicher und besser zusammen leben und sich unbedingter aufeinander verlassen können, als dein Mann und wir beide? Deswegen, wenn du aufrichtig und natürlich sein willst, ist es in Wirklichkeit gar nicht deine Ansicht, daß du dir etwas vorzuwerfen hast. Aber die Sache ist die: du bist von der allgemeinen Ziererei dieser Zeit angesteckt. Wir haben heutzutage eine ganz untergeordnete Sache aufgeschroben, als sei sie das eigentlich Entscheidende im Leben. Glaub' nicht an das, was unsere modernen Moralisten verkünden. Sie weinen offiziell über das, was privatim ihr wie der ganzen Welt schönstes Vergnügen ist. Wie unwahrscheinlich auch im Grunde, daß der moralische Wert eines Menschen von etwas so Nebensächlichem abhängig sein sollte, nämlich davon, ob sie oder er etwas mehr oder weniger, etwas häufiger oder seltener küßt. Das, worauf es ankommt, ist, ob man schlecht gegen jemand handelt oder nicht. Aber heutzutage kann ja selbst ein zwanzigjähriger Dichter nicht von einer kleinen Nähterin schreiben, die einen Geliebten hat, ohne eine wehmütige Tragödie aus diesem nichts weniger als betrüblichen Umstand zu machen, – es ist vielleicht das einzige, was einem so armen Mädchen das Leben ein wenig versüßt. – – Und nicht wahr, wir haben alle das Bedürfnis, geliebt zu werden?«

Sichtlich beruhigt durch seine Rede erwiderte sie:

»Und, weißt du, – ja, es klingt vielleicht ein wenig merkwürdig, aber wahr ist es trotzdem: ich habe das Gefühl, als sei ich in der letzten Zeit ein besserer Mensch geworden. Früher war ich stets schlechter Laune. Ich war unglücklich und verbittert; ich fühlte mich enttäuscht und beleidigt. Vor allem hatte natürlich mein Mann unter meiner schlechten Laune zu leiden. Du ahnst nicht, wie häßlich ich oft gegen ihn gewesen bin. Es gab Tage, an denen wir nicht miteinander sprachen, außer wenn Besuch da war, oder das Mädchen ins Zimmer kam. Es war so weit mit uns gekommen, daß ich ihn, wenn er sich mir einmal in Zärtlichkeit näherte, zurückwies, und empfand ich hinterher Reue und das Bedürfnis, es wieder gut zu machen, so war er unzugänglich. Jetzt dagegen ist unser Verhältnis ein vorzügliches. Ich bin in rosigster Laune vom frühen Morgen an, und den ganzen Tag ist es wie Sonnenschein in mir. Ich springe früh aus dem Bett, um Mogensen selber den Tee zu machen, und ich begleite ihn jeden Tag auf die Post. Stets habe ich etwas, worauf ich mich freuen kann, – entweder die Aussicht, mit dir allein zusammen zu sein, oder unsere gemütlichen Abende, – und selbst wenn Mogensen und ich allein sind, langweilen wir uns nie. Er ist auch wie verwandelt, darin hast du recht. Ja, ich bin sehr glücklich und ich will, daß alle um mich her es sein sollen. – Nein du, es kann kein Unrecht sein, daß ich dich lieb habe!«

Sie wandte sich nach ihm um, warf sich ihm an die Brust und sagte:

»Ich liebe dich!«

Er erhob sich und nahm sie in seine Arme. Er trug sie durch die Stube nach dem Schlafzimmer. Auf dem Wege dahin fiel sein Blick auf den Schreibtisch, wo ein Bild von Mogensen einem Bilde von Frau Nancy gegenüberstand. Er hielt einen Augenblick inne und sagte zu ihr: »Sieh da!«

Sie lag in seinen Armen wie ein kleines Kind, nickte lächelnd zu dem Bilde ihres Mannes hinüber und warf ihm eine Kußhand zu, dann küßte sie Jermer.

Und er trug sie weiter.

VI

Auf Mogensens Schreibtisch stand in der einen Ecke ein Bild von Jermer, in der andern ein Bild von Frau Nancy.

Eines Tages nach Tische, als sie mit dem Kaffee hereinkam, traf sie ihren Mann versunken in Beschauung der beiden Bilder.

Sie setzte das Kaffeebrett auf den Tisch vor dem Sofa, trat an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Woran denkst du, lieber Mann?«

Er faßte sie um die Taille, setzte sie auf seinen Schoß und sagte:

»Ich denke an dich und Jermer. Sag' mir einmal, ob ich recht habe! Ich dachte, daß ihr im Grunde gar nicht zusammen paßtet, ihr könntet nicht miteinander verheiratet sein.«

»Das sind ja ganz sonderbare Gedanken!«

»Und weswegen? Die Annahme, daß ihr zueinander passen würdet, liegt, meiner Ansicht nach, sehr nahe. Das tut ihr natürlich auch gewissermaßen. Ich weiß ja, daß du ihn sehr gern hast, und ich bin ebenso fest davon überzeugt, daß du ihm ausgezeichnet gefällst. Aber trotzdem, ihr würdet nicht glücklich werden, wenn ihr euch verheiratetet. Und ich glaube, ich habe ausfindig gemacht, weswegen. – Siehst du, zwischen Jermer und mir ist nämlich der Unterschied, daß ich mich für feste, ruhige Verhältnisse eigne, also dazu, Ehemann zu sein. Er dagegen ist eine zu anspruchsvolle Natur, um ein dauerndes Glück in der Ehe finden zu können. Du kennst ihn ja nicht so gut wie ich. Ich kann ihn auf Grund langjähriger Erfahrungen beurteilen. Sobald ein Verhältnis anfängt als Pflicht auf ihm zu ruhen, wird er ungemütlich. Er würde die Ehe gar bald als Fessel empfinden, und ich bin überzeugt, daß er sie abstreifen würde.«

»Ich glaube, mein Mann wird am Ende noch Philosoph. Du redest wirklich wie ein Weiser.«

»Meinst du, daß das, was ich von Jermer sage, verkehrt ist?«

»Bewahre! Du hast sicher recht. Ich glaube außerdem, daß er einmal etwas Ähnliches über sich zu mir gesagt hat.«

»Und siehst du, deswegen stimmt es auch so gut mit seinem Charakter überein, daß er sich so wohl bei uns fühlt. Er hat dich gern, und er hat mich gern, und er weiß, daß wir uns freuen, je öfter er kommt. Unser Haus ersetzt ihm die Ehe. Hier hat er sein Heim. Du bist fürsorglich und gut gegen ihn, und er kommt hierher ohne jeglichen Zwang.«

Sie saß einen Augenblick in Gedanken versunken da. Dann sagte sie:

»Soll ich dir etwas anvertrauen?«

»Nun und das wäre?«

»Als ich ganz jung war, ehe ich dich kennen lernte, schwärmte ich sehr für Jermer. Ich hatte niemals mit ihm gesprochen, aber ich fand, daß er so fein und schön war und so klug aussah. Denk nur, ich ging geradezu auf der Straße und lauerte ihm auf. Ich glaube übrigens auch, daß er mich bemerkte, und daß ich ihm gefiel, aber dabei blieb es ja auch. – Damals war es mein Ideal, mich mit einem Mann wie Jermer zu verheiraten, und im Grunde hast du es ihm zu verdanken, daß du mich bekamst. – Ich hatte dich ja hin und wieder einmal mit ihm zusammen gesehen, deshalb interessierte ich mich gleich für dich und freute mich mit dir zu sprechen, – das war doch immer etwas von ihm!«

»Aber jetzt, –« fuhr sie fort und küßte Mogensen, auf dessen Stirn eine Wolke lag, – »jetzt weiß ich auch, daß Jermer nicht der rechte Mann für mich gewesen wäre, und daß ich den besten, entzückendsten Ehemann von der Welt bekommen habe.«

Mogensens Antlitz strahlte wieder und er sagte, seine Frau auf dem Schoße hin und her wiegend:

»Ja, ja, ja! es ist gut, so, wie es ist. Ich passe zum Ehemann und Jermer paßt zum Freund. Du würdest es bei weitem nicht so gut haben, wenn er und ich die Rollen vertauschten.«

Frau Nancy legte den Arm um den Hals ihres Mannes und sagte:

»Jetzt wollen wir aber Kaffee trinken! Trage mich!«

Und er trug sie aufs Sofa. Sie tat Zucker in seinen Kaffee und schenkte ihm Sahne ein, zündete ihm seine Zigarre an und legte ihm ein Kissen in den Nacken, so daß er sich recht gemütlich ausruhen konnte.

Als er so dalag, in das Sofa zurückgelehnt, abwechselnd rauchend, Kaffee schlürfend und seine Frau liebkosend, sagte er plötzlich:

»Ich möchte diesen modernen Herren Schriftstellern wohl gönnen, einen kleinen Einblick in unser Heim zu tun. Dann könnten sie doch vielleicht einmal eine Wirklichkeitserzählung schreiben, die von einer glücklichen Ehe handelte.«

VII

Mogensens waren anderthalb Jahre verheiratet gewesen, aber es waren immer noch keine Aussichten auf einen Erben vorhanden.

Eines Abends, als ein junges Ehepaar mit ihrem zweijährigen Töchterchen bei ihnen zu Besuch gewesen war, sagte Frau Nancy, als sie nachher mit Jermer allein saßen:

»Ich würde unbeschreiblich glücklich sein, wenn ich so ein kleines Wesen mein eigen nennen könnte.«

Diese Bemerkung versetzte Mogensen in heitere Laune. Er lachte laut und sagte:

»Nun, Schatzi, das kann mit Gottes Hilfe ja noch kommen!«

Sie seufzte:

»Ich fürchte nein!«

Mogensen lachte noch immer und sagte, indem er Jermer in die Seite puffte:

»Na, und wie sollte denn dein Kind aussehen? Sollte es ein Knabe oder ein Mädchen, blond oder brünett sein?«

Frau Nancy ließ ihre Stickerei sinken, prickelte nachdenklich mit der Nadel in den Tisch und sagte:

»Es soll ein Knabe sein. Ein schöner Knabe. Hört jetzt, wie er aussehen sollte: Mir sollte er gar nicht ähnlich sein, denn an mir ist nichts, was einen Mann kleiden würde. – Er müßte deine Augen haben, Mogensen, du hast so schöne, gute Augen, er müßte auch dein braunes, welliges Haar haben. Aber die Nase und der Mund und die Hände müßten am liebsten Jermer gleichen.«

»Hör' einmal!« lachte Mogensen, »jetzt wirst du aber wirklich zu anspruchsvoll. Ich fürchte, ein so eklektisches Kind werden wir nicht prästieren können! Was sagst du dazu, Jermer?«

– – – Am nächsten Tage aber, als Jermer nach beendeter Sitzung zu Frau Nancy kam, sagte er:

»Wie leichtsinnig und unvorsichtig du doch bist!«

Sie zupfte ihn am Bart und erwiderte:

»Kehr' dich nur gar nicht daran, Mogensen ist in bezug auf dich nun einmal zu einem Resultat gekommen, das dich vor jedem Verdacht bewahrt. – Komm, setz' dich, dann sollst du es hören, es ist zu amüsant!«

Sie faßte ihn unter den Arm und führte ihn zu einem Lehnstuhl, indem sie fortfuhr:

»Es war vorgestern abend, als du gegangen warst und wir uns auskleideten. Mogensen saß, mit Erlaubnis zu sagen, in Unterbeinkleidern auf seinem Bett und zog seine Strümpfe aus. Da sagte er plötzlich: »Hat Jermer nie den Versuch gemacht, dich zu küssen?« – Ich kann nicht leugnen, daß ich im ersten Augenblick ein wenig verlegen wurde; es kam so wie aus der Pistole geschossen, während ich, nichts Böses ahnend, vor dem Spiegel stand und mein Haar für die Nacht aufsteckte. Na, glücklicherweise konnte ich ihn im Spiegel sehen, und weil er ganz gemütlich dasaß, den einen Strumpf in der Hand, so antwortete ich mit der größten Gemütsruhe: »Wie kannst du nur so etwas glauben! So ist Jermer wirklich nicht.« – »Nein,« – sagte er dann, – »das dachte ich mir auch. Jermer ist in der letzten Zeit den Damen gegenüber merkwürdig kühl geworden. Ich habe bemerkt, daß es ihn förmlich geniert, wenn du ihm hin und wieder einmal ein wenig zu nahe kommst.« Und dann erinnerte er mich u. a. an deinen Geburtstag, als wir bei dir waren, und so viel Champagner tranken, und ich mich schließlich auf deinen Schoß setzte. Mogensen versicherte, du habest geradezu entsetzt ausgesehen. »Nein,« – sagte er, – »wäre mir das passiert, daß sich eine junge, hübsche Frau auf meinen Schoß gesetzt hätte, weiß Gott, ich hätte sie umgefaßt und geküßt. Und es wäre mir im Leben nicht eingefallen, böse auf Jermer zu werden, wenn er dir bei einer solchen Gelegenheit einen Kuß gegeben hätte.« Dann sagte ich: »Würdest du es auch natürlich finden, wenn mir Jermer sonst dergleichen Freundlichkeiten erwiese?« Und nun sollst du hören, was mein leichtsinniger Gemahl antwortete: »Offen gestanden, es würde mich nicht anfechten. Es liegt uns Männern nun einmal im Blute, den Hof zu machen, und wir sind in dieser Beziehung nicht so genau wie ihr. Vor ein paar Jahren, – darauf will ich Gift nehmen, – hätte Jermer es sich auch nicht entgehen lassen. Damals war er ein großer Damenfreund, wenn ich auch nicht glaube, daß sein Ruf schlimmer war als er selbst. Jetzt aber macht er mir völlig den Eindruck eines ausgebrannten Kraters.« Und dann endete er damit, etwas zu sagen, was im Grunde abscheulich unartig gegen dich war.«

»Was war das denn?«

»Er sagte: Ich glaube, jetzt könnte ihn der Sultan ohne Risiko in seinen Harem einsperren.«

»Für diese Beleidigung muß ich mich rächen!« sagte Jermer pathetisch und schloß Frau Nancy in seine Arme.

VIII

Der Winter und der Frühling waren vergangen. Man war im Juni, und die Zeit nahte heran, wo Mogensen und Jermer Urlaub haben sollten. Sie hatten sich verabredet, gleichzeitig Ferien zu machen, und wollten dann alle drei einige Wochen in einem Nordseebad zubringen. Da aber kam, Mitte Juni, wenige Tage vor den Ferien eine Hiobspost für Frau Nancy. Ein Brief aus einer kleinen jütischen Provinzstadt meldete, daß ihre Schwester, die dort mit einem wohlhabenden Kaufmann verheiratet war, gefährlich erkrankt sei, und nun fragte der Schwager an, ob nicht Frau Nancy auf einige Wochen hinüberkommen könne, um den großen Haushalt zu leiten und für die vier Kinder zu sorgen. Auch sehne die kranke Schwester sich sehr nach ihr.

Jermer wurde durch ein Billet von Mogensen herbeigerufen: »Komme zu Mittag, wir haben etwas Wichtiges mit dir zu bereden.«

Jermer traf die Ehegatten in großer Erregung.

Frau Nancy war verzweifelt über die traurigen Nachrichten von der Schwester und meinte, daß sie unbedingt sofort abreisen müsse.

Mogensen hatte die Fassung völlig verloren, welch einen Strich würde die Abreise seiner Frau nicht durch die Ferienpläne machen und wie sollte er sie nur so lange entbehren! Er war der Ansicht, daß man die Sache auf alle Fälle noch einige Tage mit ansehen müsse. »Denn offen gestanden, daß du da hinüber sollst, um die Kinder zu hüten, das finde ich ganz überflüssig. Dein Schwager ist in der Lage, sich so viel Hilfe zu verschaffen, wie er nur will, und für dich ist hier auch genügend zu tun. Du hast deinen Mann und du hast Jermer. Ich bin fest überzeugt, daß Jermer dich ebensowenig entbehren kann wie ich, hab' ich nicht recht, Friedrich?«

»Freilich,« – erwiderte Jermer – »ich würde Sie sehr vermissen, Frau Nancy, das wissen Sie, aber natürlich habe ich kein Recht, zu verlangen, daß Sie um meiner Gemütlichkeit wegen anders handeln sollten, als Ihr Gefühl es Ihnen eingibt.«

Frau Nancy war kurz vor dem Weinen.

»Glaubt ihr vielleicht, daß ich gerne fort will? Glaubt ihr, daß ich gern die Ferienreise aufgebe, auf die wir uns nun schon so lange gefreut haben? Aber dabei ist nichts zu machen, – wenn Sophie so krank ist und mich bittet zu kommen, so muß ich reisen.«

»Nun, das mit dem Urlaub ließe sich wohl ebenfalls arrangieren,« sagte Jermer nach einigem Überlegen. »Wir können ihn sicher vierzehn Tage hinausschieben lassen, und länger brauchen Sie wohl nicht bei Ihrer Schwester zu sein?«

»Das denke ich nicht.«

»Aber wie soll ich es nur aushalten, hier so lange allein zu leben!« stöhnte Mogensen. »Das wird schrecklich! Wenn Nancy fort ist, kommst du natürlich auch nicht, Friedrich.«

»Ja, dann kommt Jermer erst recht,« fiel Frau Nancy ein. »Nicht wahr, das tun Sie?« Sie ergriff seine Hand und sah ihn bittend an. »Denn ich möchte gern, daß Sie und Christian während meiner Abwesenheit zusammenhalten. Es wird mir eine Beruhigung sein, an euch beide, liebe Menschen im Verein zu denken, und dann werdet ihr auch zuweilen von mir sprechen, nicht wahr?«

Jermer nickte, – die Situation war so eigentümlich feierlich, – und während Frau Nancy noch immer Jermers Hand in ihrer Rechten hielt, ergriff sie Mogensens Hand mit der Linken und sagte:

»Ich habe einen guten Einfall. Während ich fort bin, soll Jermer hier wohnen.«

Mogensen war ganz entzückt.

»Ach ja, tu das! Friedrich! Du weißt nicht, wie sehr du mich dadurch beglücken würdest.«

»Entweder können Sie in meinem Bett bei Christian liegen, oder wenn Sie lieber allein schlafen mögen, lasse ich Ihnen das kleine Fremdenzimmer zurecht machen.«

Jermer machte einige Einwendungen, er wußte nicht so recht, ob er mit dem Einfall zufrieden war oder nicht. Aber Frau Nancy war so eifrig und ordnete alles so schnell, daß gar nicht daran zu denken war, ihr zu widersprechen, um so mehr, als Mogensen ganz begeistert war.

Mit feinem Takt parierte Frau Nancy auch eine seiner Hauptskrupeln:

»Sie brauchen nicht unser Gast zu sein. Sie können gern eine Summe bezahlen und sich als Pensionär betrachten. Wir rechnen es ganz genau aus, so daß Sie keinen Heller dabei verdienen!«

– – Damit war die Sache abgemacht. Und man ging in der heitersten Laune zu Tische, trotz der Trauer über den Abschied und die nichts weniger als erfreuliche Veranlassung zu Frau Nancys Reise.

Frau Nancy war unermüdlich darin, auszumalen, wie gemütlich die beiden Herren ihre Menage einrichten sollten. Sie wollte dem Mädchen einen Speisezettel für die vierzehn Tage machen, und sie fragte Jermer nach all seinen kleinen Angewohnheiten. Wann er des Morgens Rasierwasser wünsche, ob er Tee oder Kaffee haben wollte usw. usw.

»Ich fürchte nur,« sagte sie plötzlich, »daß ihr es zu gut haben werdet und euch gar nicht nach mir sehnt. Aber das erlaube ich nicht! Ihr müßt euch ein klein wenig auf unser Wiedersehen freuen!« Und sie stieß mit ihnen auf eine frohe Wiedervereinigung an.

Am nächsten Abend reiste Frau Nancy. Beim Abschied sagte sie:

»Jermer, Sie stehen mir für Mogensen ein. Und du, Mann, mußt auch darauf acht geben, daß Jermer nicht leichtsinnig ist. Ihr dürft mir keinen Kummer machen.«

Als Mogensen den Auftrag erhielt, acht auf Jermer zu geben, lachte er, seine Gattin verständnisvoll ansehend, und Jermer, der es bemerkte, sagte in ernstem Ton:

»Ach ja, Frau Nancy, es wird wohl leichter für ihn sein, mich zu bewachen als umgekehrt. Denn Mogensen ist von Natur ein Durchgänger.«

 

Die beiden Freunde waren allein. Am ersten Tage wurde es ihnen schwer, sich zurecht zu finden. Sie gingen umher wie in einem fremden Haus, sich rastlos von einem Zimmer in das andere begebend, bald auf diesem, bald auf jenem Stuhle sitzend, ohne doch die gewohnte Gemütlichkeit und Ruhe zu finden. Es war, als suchten sie fortwährend nach etwas. Auch die Unterhaltung wollte nicht so recht in Schwung kommen. Des Abends war Mogensen bemüht, die Stimmung künstlich in die Höhe zu treiben. »Jetzt wollen wir uns einen guten Grog brauen und eine Pfeife dazu rauchen!« Aber der Grog schmeckte ihnen nicht, und Mogensens Pfeife war nicht gut gestopft.

»Nein, Jermer,« sagte er, durch die Pfeife saugend, »es hilft alles nichts. Es ist hier nicht so, wie sonst, – das Beste fehlt!«

»Ja,« erwiderte Jermer in halb ironischem Tone, – »ich dachte eben darüber nach, daß es so in einem Hause sein müsse, wo jemand gestorben ist. Man wartet immer darauf, daß der Heimgegangene eintreten, seinen gewöhnlichen Platz einnehmen und geschäftig umhergehen solle wie immer, – und dann kommt niemand. Ach, Christian, wir sitzen hier wie zwei Hinterbliebene.«

Mogensen gab die Pfeife auf, er hängte sie an die Stuhllehne und sagte:

»Ich freue mich, daß du so fühlst, – denn ich bin fest überzeugt, daß du es wirklich fühlst, sonst hättest du das, was ich gerade in diesem Augenblick dachte, dem ich aber keine Worte zu verleihen vermochte, nicht so ausdrücken können. Nicht wahr, du hast meine Frau doch allmählich auch liebgewonnen? (Jermer nickte.) Ja, das verdient sie auch. Aber wenn du ganz ehrlich sein willst, – und das kannst du gern sein, – so mußt du gestehen, daß es eine Zeit gab, da du weniger freundlich von Nancy dachtest. Du glaubtest, sie sei ein wenig unbedeutend – geradezu ein wenig oberflächlich?«

»Ich kannte sie ja gar nicht.«

»Nein, ich will dir ja auch keinen Vorwurf damit machen. Aber ich merkte sehr wohl, daß du der Ansicht warst, ich mache eine schlechte Partie!«

»Ich glaubte, offen gestanden, nach dem flüchtigen Eindruck, den ich von ihr hatte, daß ihr die Eigenschaft abginge, die man »häuslichen Sinn« nennt und die so wichtig für eine Frau ist.«

»Aber die hat sie ja gerade! Sie hatte ja gewissermaßen gar keine Vorbildung zur Hausfrau. Sie verstand nichts vom Kochen und all dergleichen. Als junges Mädchen fehlte es ihr auch früher an Ernst, ein richtiges Heim hatte sie ja seit dem Tode der Mutter nicht gehabt. Aber es ist ganz merkwürdig, wie sie sich entwickelt hat, – – und dazu hast du dein Teil beigetragen, – freilich hast du das, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß du einen großen und wohltuenden Einfluß auf sie ausgeübt hast. Das Interesse, das du für unser Haus an den Tag gelegt hast, die Freude, die es dir machte, hierher zu kommen, hat, ich weiß das sehr wohl, ihren Ehrgeiz, eine gute Hausfrau zu sein, entfacht. Du machtest ihre Aufgabe umfassender, gleichsam idealer. Ich habe oft darüber nachgedacht, deswegen kann ich mich jetzt so klar darüber äußern. Du wurdest für sie, für unseren kleinen Hausstand das, was das Publikum dem Schauspieler ist. Schon allein, daß du Wert auf gutes Essen legtest, – gab ihr erhöhtes Interesse für die Wirtschaft, sie setzte ihre Ehre darein, daß du ihre Gerichte loben solltest.«

»Du findest also nicht, daß ich eurem Hause zur Last gewesen bin? Oft habe ich darüber nachgedacht, ob ich eure Gastfreundschaft nicht mißbrauchte, ob du wohl lieber allein mit deiner Frau sein wolltest, – es wäre doch ganz natürlich gewesen – –«

»So etwas mußt du nicht sagen. Das beleidigt mich. Ich meine, du hättest merken können, daß du uns beiden ein gleich lieber Gast warst. Mit andern Worten, wir können dich geradezu gar nicht mehr entbehren. – Na, alter Freund. Prost! – Frau Nancys Wohl!«

»Ja, Frau Nancys Wohl!« Sie stießen miteinander an und tranken.

Darauf sagte Mogensen:

»Findest du nicht im Grunde auch, daß es jetzt anfängt ganz gemütlich zu werden?«

»Das haben wir deiner Frau zu verdanken. Es half, daß wir von ihr sprachen. Was meinst du, wenn wir es so machten, wie der Kriegerverein, nachdem die Gesundheit des Königs getrunken ist? – Wollen wir ihr ein Telegramm senden?«

»Das ist eine brillante Idee! Wieviel Uhr ist es eigentlich?«

»Es ist neun Uhr!«

»Dann müssen wir es »mit Eilboten« schicken, damit sie es noch vor dem Zubettgehen hat.«

In fliegender Eile setzte Jermer folgendes Telegramm auf: »Die Kriegskameraden Mogensen und Jermer, die beim gewöhnlichen Abendtrunk versammelt sind, haben mit Begeisterung das Wohl ihrer abwesenden, schmerzlich vermißten Königin ausgebracht und senden einen untertänigen Gruß.«

Darauf liefen sie in rosigster Laune nach dem Telegraphenamt und freuten sich nach ihrer Rückkehr bei dem Gedanken an die Überraschung, die sie ihr bereitet hatten.

 

Das erste, was Jermer sagte, als sie am nächsten Morgen am Teetisch saßen, war: »Heute muß ein Brief von ihr kommen.«

»Ja, heute mit dem Eilzug. Der wird aber erst morgen früh ausgetragen.«

»Das ist doch ärgerlich.«

»Ja, weißt du, was wir tun können? Ich gehe heute abend auf die Post und lasse ihn mir geben.«

Den ganzen Nachmittag sprachen sie darüber, wie lange es noch währen würde, bis sie den Brief bekommen konnten. »Aber wir öffnen ihn nicht, bis wir zu Hause sind und unsern Grog gebraut haben,« sagte Mogensen.

Endlich saßen sie auf ihren gewohnten Plätzen, den Brief auf dem Tisch mitten zwischen sich. Derselbe lautete:

»Süßer Mann, lieber Jermer!

Wenn ich hier sitze und einen Gruß nach Hause senden soll, so habe ich Euch beide in meinen Gedanken, Ihr gemeinsam seid mein ganzes Heim, und es wird mir am leichtesten, Euch beiden im Verein zu schreiben. Teilt den Brief, als Freunde; Ihr wißt, daß ich Euch lieb habe, jeden für sich und Euch beide zusammen.

Wie es Euch wohl ergehen mag? Ob alles im Hause nach Wunsch gegangen ist? Sorgt Marie gut für Euch und ist das Essen genießbar? Liegt Jermer gut, so wie das Bett gemacht ist? Wenn er es ein wenig höher unterm Kopf haben will, so muß Marie noch einen Kopfkeil aus der Bodenkammer holen.

Wenn ich doch einen Augenblick bei Euch eingucken könnte. Jetzt sitzt ihr vermutlich in Mogensens Zimmer bei Eurem Grog, – ich fürchte, Ihr braut ihn Euch zu stark! Aber worüber redet Ihr nur? Ich hoffe, Ihr seid nicht so verderbt, daß Ihr Euch mit alten Junggesellengeschichten delektiert? Davon will ich nichts wissen, hört Ihr! Ihr habt die arme Nancy wohl noch nicht ganz vergessen, so daß Ihr weder Gedanken noch Worte für sie übrig habt? Legt mir gefälligst genaue Rechenschaft von allem ab, was Ihr an den Tag gebt! Ich will Tag für Tag, Stunde für Stunde mit Euch leben können. Übrigens finde ich, Ihr solltet, falls sich das Wetter hält, Euren Abendgrog ins Tivoli verlegen. In dem Falle bitte ich Jermer aber, ein wenig Rücksicht auf meinen Herrn Gemahl zu nehmen. Der Junggeselle darf den Ehemann nicht auf Abwege führen und ich halte es nicht für ratsam, daß Ihr Eure Jugendtorheiten auffrischt und in den Tingeltangel geht. Ich habe in den Zeitungen gelesen, daß dort eine englische Tanzchansonettensängerin (das ist gewiß etwas sehr Unmoralisches) auftritt und höchst gefährlich sein soll.

Über mich und meine Reise ist nur sehr wenig und gar nichts von Interesse zu berichten. Ich hatte ein gutes Coupé, in dem sich außer mir nur noch eine alte Dame befand, die mich mit Judenkuchen und Kirschlikör traktierte. Infolgedessen schliefen wir herrlich über den Belt und weiter bis nach Odense. In Fredericia verzehrte ich um 3 Uhr des Nachts – ein großes Beefsteak (gräßlich).

Hier fand ich eitel Jammer vor. Sophie ist entsetzlich elend, der Arzt – Jermer kennt ihn gewiß, Dr. Knudsen, Paul Knudsen – glaubt jedoch nicht, daß Gefahr vorhanden ist. Sie war sehr erfreut, als sie mich sah. Den Schwager hat die Krankheit auch sehr mitgenommen, und zwei von den Kindern haben Keuchhusten. Lessy, die jüngste, der nichts fehlt, ist das entzückendste Geschöpf. Ach ja! In Ermangelung eines Jungen wäre so ein kleines Mädchen auch ein Schatz!

Ich muß mich beeilen mit dem Schluß meines Briefes. Er soll noch zur Post, ehe die Mädchen zu Bett gehen. – – – So! Wißt Ihr, was nun geschah? Gerade, als ich mich von Euch verabschieden will, klingelt es, und herein stürzt Maren, das Stubenmädchen, ganz verwirrt. »Ein Telegramm für Frau Mogensen!« Ich wurde im ersten Augenblick ja auch ein wenig beengt! Aber Ihr wißt ja, was für ein Telegramm es war. Ach, wie ich mich freute! Tausend – 1000 – Dank. Ihr seid entzückend gegen mich. Dafür sende ich nun auch dem Gatten einen richtig süßen Kuß zur guten Nacht, und wenn ich nicht wüßte, daß Sie ein Weiberfeind sind, so hätte ich beinahe Lust, auch Ihnen, lieber Jermer, einen kleinen Kuß zu schicken.

Eure
Nancy.«

Als sie an den letzten Satz des Briefes kamen, rief Jermer aus:

»Was zum Teufel ist denn das, Mogensen? Weshalb hast du deiner Frau eingebildet, daß ich ein Weiberfeind bin?«

Mogensen lachte, so daß es in ihm gluckste und erwiderte:

»Ja, du, – zum Kuckuck auch! Man muß wahrhaftig darauf bedacht sein, seine Freunde unschädlich zu machen!«

Der Brief gab ihnen Stoff zu der lebhaftesten Unterhaltung während des ganzen Abends. Mogensen war stürmisch begeistert, Jermer hatte die Begeisterung mehr in sich – gepaart mit einer gewissen ästhetischen Bewunderung. Ihm imponierte die Sicherheit, mit der diese kleine Dame sich auf der Wippe zwischen Gatten und Liebhaber bewegte. Gleich einer Nachtwandlerin – dachte er – die keine Erkenntnis von der Gefahr hat.

Sie beschlossen den Abend mit der Abfassung einer detaillierten Beschreibung alles dessen, was seit Frau Nancys Abreise im Hause vorgefallen war. Fast in jeder zweiten Reihe dieses Bekenntnisses kam ihr Name vor.

Darunter schrieb Mogensen privatim einige liebevolle Zeilen an seine Gattin. Jermer begnügte sich mit einem kleinen Scherz: »Einen Gruß von dem Weiberfeind an die einzige Frau, die er gern küssen würde!«

 

Von nun an verging der Witwerstand der beiden Freunde, – wie Mogensen sich ausdrückte – schnell.

Jeden Abend holten sie einen Brief von Frau Nancy von der Post, und diese Briefe waren ganz merkwürdig mitlebend, gingen völlig in dem Leben daheim auf, so wie sie wußte, daß es verlief und wie sie es durch kleine Winke und Ratschläge eigentlich selber anordnete. Es war beinahe, als lebe sie durch diese Briefe wirklich mitten zwischen ihnen. Für alles, was sie im Laufe des Tages vornahmen, hatte sie in den Briefen ein ernstes oder ein scherzendes Wort gehabt, und da sie nie versäumten, diese Bemerkungen zu zitieren, war es, als habe sie Teil an ihrer Unterhaltung.

Sie war stets das Zentrum der Gesprächsunterhaltung, der überall gegenwärtige Genius des Hauses.

So kam der erste Juli heran und mit ihm die Urlaubszeit der Freunde. Am Morgen reisten sie von Kopenhagen ab und sollten in Fredericia mit Frau Nancy zusammentreffen.

IX

Unterwegs sprachen sie nur wenig. Sie saßen jeder in einer Ecke des Coupés und starrten vor sich hin oder versuchten zu schlummern. Jedesmal aber, wenn sie bei einer Station hielten, richteten sie sich auf und tauschten wieder und wieder dieselben Bemerkungen aus. Sie nannten die Namen der Stationen und bemerkten, wie viele Meilen sie nun gefahren waren.

Als sie auf der Fähre standen, die über den kleinen Belt führte, sagte Mogensen:

»Natürlich war es eine ganz angenehme Zeit. Aber dasselbe ist es doch nicht.« Und als Jermer schwieg, fügte er hinzu: »Du kannst es ja nicht so fühlen wie ich. Denn ich habe Nancy ja,« – er lachte still vor sich hin, – »in mehr als einer Beziehung entbehrt.«

Jermer klopfte ihn gemütlich auf die Schulter: »Ja, ein jeder hat es ja so auf seine Weise!« Darüber lachten sie beide herzlich und verständnisvoll.

– – – Sie erreichten Fredericia anderthalb Stunden vor dem Zuge, mit dem Frau Nancy kommen sollte. Sie benutzten die Wartezeit, um ein kleines feines Diner im Restaurant zu bestellen und Blumen von einem Gärtner in der Stadt zu holen.

Der von Norden kommende Zug brauste heran. Schon in der Ferne erblickten sie einen Damenkopf, der sich aus dem Fenster herauslehnte, in einen großen Blumenhut eingerahmt. Als der Kopf näher kam, fing er an zu nicken und eine gelbbehandschuhte Hand fächelte mit dem Taschentuche.

»Das ist sie!« Und sie stürzten auf das Coupé zu, wo sie stand, glühend von Sommer-Gesundheit und erwartungsvoller Freude, schöner denn je zuvor. Und sie sprang den beiden förmlich in die Arme, sobald die Coupétür geöffnet wurde. Sie gab Mogensen einen Kuß, wandte sich dann an Jermer und gab ihm einen festen Händedruck und einen liebevollen Blick, während er sich herabbeugte und ihr die Hand küßte.

Dann faßte sie sie beide kameradschaftlich unter den Arm, und so, – sie in der Mitte, mit ihrem Blumenhut, ihrem hellen Sommerkleide, ein Bukett in jeder Hand – gingen sie lachend und schwatzend wie drei junge Studenten auf der Ferienreise, sorglos entzückt über einander, den Kofferträgern und Schaffnern guten Tag zurufend, den Ärger nervöser oder müder Reisender erregend, durch deren geschäftiges Gewimmel sie sich, gemütlich puffend, Bahn brachen.

– – – Sie nahmen Platz in dem großen Speisesaal an einem Tisch in einer der Fensternischen. Außer ihnen wartete nur ein schläfriger Handlungsreisender, der in dem andern Ende des Saales saß, auf den nach Westen gehenden Güterzug.

Beim Nachtisch wurde eine Flasche Champagner aufgeknallt. Sie hatten im Laufe der Mahlzeit bereits reichlich getrunken, und der Champagner machte Frau Nancy ganz ausgelassen. Mogensen war nicht weniger heiter. Die zweiwöchentliche Trennung hatte die schlummernden Rittergelüste geweckt, und er war seiner jungen Frau gegenüber galant und kurtisierend wie ein Neuvermählter. Jermer fühlte sich allmählich ein wenig überflüssig; für jeden Kuß, den Mogensen bekam oder nahm, mußte er sich mit einem Blick oder einem heimlichen Händedruck unter dem Tisch begnügen.

Frau Nancy bemerkte seine Verstimmtheit; plötzlich beugte sie sich zu ihrem Mann hinüber und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr, worauf er sich erhob und ging.

Als Frau Nancy und Jermer allein waren, fragte er: »Weswegen ging dein Mann?«

»Ich bat ihn, etwas für mich zu besorgen. Ich wollte hören, was dir fehlt. Weshalb ist mein treuer Freund so stumm? Freust du dich nicht, mich wieder zu sehen?«

Er antwortete:

»Nancy, ich bin eifersüchtig. Ich kann es nicht ertragen, wenn du deinen Mann küßt. Ich sehne mich nach dir!«

Sie sah ihn mit einem Blick an, aus dem aufrichtige Verliebtheit und Freude über den Eifer des Liebenden sprach, und sagte:

»Meinst du wirklich, daß du Grund hast, eifersüchtig auf meinen Mann zu sein? Nein, mein Freund, du darfst dich nicht mit dergleichen Torheiten quälen! Du kannst dich nicht so sehr nach mir sehnen, wie ich mich nach dir. Jeden Abend während dieser ganzen Zeit, wenn ich zu Bett gekommen war, lag ich noch lange und weinte vor Sehnsucht nach dir. Ja, – nun mußt du aber nicht über mein kindisches Benehmen lachen, – ich schloß das Kopfkissen in meine Arme, als seiest du es, den ich bei mir habe.«

Der Handlungsreisende am Tische in dem andern Ende des Saales war eingeschlafen, und die beiden Kellner standen am Büfett und scherzten mit der Mamsell.

Jermer ergriff Frau Nancys Hand und zog sie dicht an sich heran. Sie neigte verliebt den Kopf und er küßte sie auf den Hals.

»Wann werden wir uns denn nur allein sehen?«

»Ich will versuchen, ob es sich schon morgen machen läßt. Aber dann mußt du auch vergnügt sein! Ich habe mich so unbeschreiblich auf das Zusammensein mit dir gefreut. Verleide es mir jetzt nicht!«

Er sah sie glückselig an und drückte ihr die Hand. Sie lächelte ihm zu, sagte aber in ernstem Ton:

»Ob ich mich nun aber auch auf dich verlassen kann? Bist du, wie du versprachst, artig gewesen, während ich fort war?«

»Und du? Bist du ganz artig gewesen? Hast du mit keinem der jungen Herren kokettiert?

»Ich glaube gar, du willst, – ich? – Ich hab' an andere Dinge zu denken gehabt! Aber du willst nicht so recht mit der Sprache heraus. Ich will doch Mogensen einmal nach dir ausforschen; dann werd' ich schon erfahren, ob du leichtsinnig gewesen bist.«

Im selben Augenblick kehrte Mogensen zurück.

»Es wird Zeit, daß wir mit dem Kellner abrechnen. In zehn Minuten geht der Zug.«

 

Das kleine Nordseebad lag im Schutze der Dünen. Ein viertelstündiger Weg führte über einen hügeligen, gewundenen Sandweg durch die Dünen an den Strand, wo die Bäder in einem Badekarren genommen wurden, den zwei Fischer ins Meer hinausschoben. Es war nur ein solcher Karren vorhanden, aber das war ganz ausreichend.

Noch hatte das Örtchen keinen Weltruf erlangt. Das Wasser war dort ebenso salzhaltig und frisch wie an der übrigen Westküste Jütlands, bisher aber hatte noch kein Arzt oder gerissener Hotelwirt dasselbe ausgebeutet.

Der ganze Badeort bestand im Grunde nur aus einem Krug an der Nordsee, einem Krug, in welchem jeden Sommer 20–30 Menschen wohnten, die billig und ruhig zu leben wünschten.

Jermer, der das Örtchen von einer Fußwanderung aus seiner Studentenzeit her kannte, hatte den Vorschlag gemacht, hierher zu gehen. Hier habe man gerade das, was er und seine Freunde wünschten. Hier waren sie so ganz für sich.

Mogensen und Jermer saßen am Vormittag nach ihrer Ankunft auf der Veranda, die nach dem sogenannten Garten, – einem Rasenplatz mit einem Kiesweg rings umher – hinaus lag, und warteten auf Frau Nancy, um sie zum Baden zu begleiten.

Da sahen sie sie mit einem fremden jungen Herrn des Weges daherkommen, einer eleganten Erscheinung, übertrieben sorgfältig gekleidet, in einer Landtoilette aus dem Modejournal, die in diesem anspruchslosen kleinen Badeort ein wenig unangebracht, allenfalls überflüssig erschien. Er trug ein bordeauxrotes seidnes Hemd, einen weißen Flanellanzug und eine ebensolche Mütze. Sein Pincenez fiel jeden Augenblick von seiner kleinen, breiten Nase herab. Es lag etwas sehr Soigniertes über seinem ganzen Wesen und seiner Person, und über seinem mopsähnlichen, lebhaften Gesicht etwas Unverschämtes und Feines, etwas Irritierendes und Gewinnendes.

Die beiden Freunde bemerkten mit Staunen Frau Nancy und ihren Kavalier, die in lebhafter Unterhaltung vor der Gartenpforte stehen blieben. Der Herr schien außerordentlich amüsant zu sein, denn Frau Nancy lachte jeden Augenblick laut auf, während er darauf los redete und mit seinem Stock in der Luft herumfuchtelte.

Endlich reichte ihm Frau Nancy die Hand zum Abschied und kam in den Garten. Er rief ihr »Au revoir« nach und schlenderte von dannen.

Als sie auf die Veranda kam, wurde sie mit Fragen überschüttet, wer der Herr sei, mit dem sie gesprochen, woher sie ihn kenne, ob er hier wohne usw. Sie erzählte.

Er sei ein Herr Martin, der Sohn des bekannten reichen verstorbenen Etatsrat Martin. Sie hatte ihn während ihres Aufenthalts beim Schwager kennen gelernt, – eigentlich »auf kollegialischem Wege«. Der junge Herr Martin sühne nämlich seinen hauptstädtischen Leichtsinn durch ein mildes Exil in dem kleinen Städtchen als Volontär beim Postmeister, Major von Stauche, einem Freund der Familie. Der junge Mann habe Jura studiert, ohne jedoch Geschmack daran zu finden. Fünf Jahre lang habe er seine Mutter, die Etatsrätin, in dem Glauben gehalten, daß er sich zum Examen vorbereite, während er sich in Wirklichkeit nur darauf vorbereitete, das ihn erwartende Vermögen zu verzehren. Endlich sei die alte Dame hinter die Schliche des Sohnes gekommen und habe das Verlangen gestellt, daß er »das Studieren aufgeben« und etwas Nützliches anfangen solle. Er hatte eingesehen, daß es aus pekuniären Gründen ratsam war, sich zu fügen, und hatte sich ohne Murren in das Postkontor des alten jovialen Majors einsperren lassen. Er hatte obendrein noch Geschmack an dem regelmäßigen, wenig anstrengenden Dienst auf einem königlich dänischen Bureau gefunden und jetzt hatte man beschlossen, daß er zum Herbst seine Residenz nach dem Posthof der Hauptstadt verlegen solle, um dort in aller Ruhe und Gemächlichkeit mit der nötigen Protektion eine bescheidene Karriere zu machen. Frau Nancy hatte ihn eines Tages auf der Post getroffen, als sie selber einen Brief abholen wollte, um ihn schneller zu bekommen, und bei dieser Gelegenheit war Herr Martin sehr galant gewesen, indem er erklärte, daß es ihm ein Vergnügen sei, der Gattin eines »Herrn Kollegen« in jeder Hinsicht gefällig sein zu können. Später war sie, – in gleicher Veranlassung – mehrmals auf der Post gewesen, und jedesmal mit ausgesuchter Aufmerksamkeit von Herrn Martin behandelt worden. Zu ihrer großen Überraschung war sie ihm jetzt hier vor dem Krug begegnet. Er sei am Morgen angekommen und gedenke ebenfalls seine Ferien hier zu verleben. Er sehne sich sehr danach, Mogensens und Jermers Bekanntschaft zu machen, habe aber jetzt nicht mit ihr gehen wollen, da er noch bis zur Zwölf Uhr-Post einige notwendige Geschäftsbriefe zu schreiben gehabt habe.

»Es ist ein herzensguter Mensch,« schloß sie ihren Bericht. »Er ist zwar nicht besonders begabt, und von Ernst hat er keine Ahnung, dafür ist er aber steinreich, oder wird es wenigstens, und hat vorzügliche Beziehungen, – insofern kann es eine ganz nützliche Bekanntschaft für dich sein, Mogensen.«

Trotzdem war Mogensen durchaus nicht begeistert.

»Es ist wirklich abscheulich! Ich hatte mich so darauf gefreut, daß wir allein sein sollten! Und nun rennt dieser Laffe natürlich den ganzen Tag hinter uns her.«

Auch Jermer sah nicht gerade sehr entzückt aus. Herrn Martins plötzliches Auftauchen hier gleich nach ihrer Ankunft erschien ihm höchst sonderbar und er sagte:

»Es wundert mich, daß Sie in ihren Briefen die Bekanntschaft mit Herrn Martin gar nicht erwähnt haben.«

Sie spannte ihren Sonnenschirm auf und erwiderte:

»Ja, das ist im Grunde auch wunderbar. Aber offen gestanden interessierte er mich nicht sonderlich. Und ich hatte so viel anderes zu schreiben. Da vergaß ich es.«


Als die beiden Freunde unten am Strande lagen, während Frau Nancy zum Baden hinausgefahren war, kam das Gespräch wieder auf Herrn Martin.

»Es ist im Grunde merkwürdig, daß der Mensch seine Ferien hier verbringen will, findest du nicht auch?« sagte Mogensen.

»Ach, weshalb eigentlich?«

»Ja, ich meine, es könnte ja sein, daß es Nancys wegen geschieht.«

»Das ist wohl möglich. Aber was dann?«

»Ach nein! Es wird aber langweilig für ihn werden. Wir brauchen uns wohl keine Sorge zu machen.« Mogensen lachte. »Er sollte nur wissen, daß sie es gar nicht der Mühe wert gefunden hat, ihn in ihren Briefen zu erwähnen!«

Jermer antwortete nicht und die Unterhaltung erstarb. Da ertönte plötzlich ein Ruf von dem Wasser her: »Guten Tag, meine Herren!« Es war Frau Nancy in blau- und weißgestreiftem Badekostüm. Sie stand bis an die Knie im Wasser, das Gesicht dem Lande zugewendet und fing mit dem Rücken die Wellen auf, die sie in die Höhe hoben. »Großartig!« rief sie, nach Luft schnappend, dann kam eine neue Welle, die sie beinahe umwarf.

Die Herren erhoben sich und gingen ganz an das Wasser hinab.

»Nein, bleibt fort,« rief sie. »Ich will euch nicht in der Nähe haben.«

Mogensen erwiderte, indem er die Hände gleich einem Schallrohr vor den Mund hielt:

»Kannst du Jermer denn nicht gönnen, etwas Hübsches zu sehen?«

Nachher badeten die Herren, während Frau Nancy im Sande lag und sich sonnte.

 

An der Table d'hôte, die aus etwa zehn Personen bestand, wurde Martin vorgestellt. Er erhielt seinen Platz neben Mogensen, während Jermer und Frau Nancy gegenüber saßen.

Martin besaß ein ungewöhnliches Konversationstalent. Er redete ununterbrochen und war in einem Entzücken. Man konnte mit dem besten Willen ihm gegenüber nicht zurückhaltend sein. Mit seiner übersprudelnden Liebenswürdigkeit ging er unverzagt auf alle Menschen los, und es fiel ihm auch nicht einen Augenblick ein, an seiner Unwiderstehlichkeit zu zweifeln: »Ich bin verteufelt froh, daß ich Sie getroffen habe! Sie sind, weiß Gott, ein paar großartige Menschen!« Und er sagte das mit einem Ausdruck, als sei er sicher, daß seine Worte die beiden Herren vollkommen glücklich machen würden.

Mogensen und Jermer konnten ihm denn auch wirklich nicht widerstehen. Sie wurden angesteckt von Martins unbändiger Lebenslust, und die Stimmung in dem kleinen Kreise wurde sehr munter. Die andern Gäste – drei Volksschullehrerinnen, eine Witwe mit zwei halberwachsenen Söhnen und ein pensionierter Probst mit seiner vierzigjährigen Tochter – saßen steif und ernsthaft da, und sahen voller Entrüstung, wie die Neuangekommenen eine Flasche sauren Gasthofwein nach der andern heruntergossen.

Beim Kaffee draußen im Garten vertraute Mogensen Jermer und seiner Frau an, daß ihm Martin ganz brillant gefiele. »Ich kann wirklich nicht begreifen, Nancy, daß du meintest, es sei nichts an ihm. Er ist ein verteufelt gerissener Kerl – übrigens bin ich von all dem Amüsement geradezu matt, ich glaube, ich ziehe mich eine Stunde zurück.«

»Tu' du das, mein Freund! Inzwischen machen Jermer und ich einen kleinen Spaziergang. Wenn Sie nicht auch müde sind?«

Jermer, der heiß war von dem vielen Wein und von verliebter Sehnsucht, sah sie dankbar an und sagte:

»Ich will Sie an einen herrlichen Aussichtspunkt zwischen den Dünen am Nordstrande führen.«

Mogensen wünschte ihnen viel Vergnügen und ging auf sein Zimmer. Kaum war er verschwunden, als Frau Nancy sagte:

»Jetzt schnell von dannen, ehe Martin kommt. Wir wollen sehen, wer zuerst ans Ziel gelangt!« Und sie lief durch den Garten, zur Pforte hinaus, den Weg hinab. Er hinterdrein. Endlich hielten sie ganz außer Atem inne, er reichte ihr den Arm und sagte: »Hab' Dank, daß du dein Versprechen hieltest. – Jetzt biegen wir hier links ab.«

»Aber wir wollten ja an den Nordstrand!«

»Das sagte ich nur, um Mogensen irre zu leiten, falls er auf den Einfall kommen sollte, uns zu suchen. Nein, wir wollen hierhin. Hier drinnen zwischen den Dünen ist der entzückendste Schlupfwinkel – wenn er nicht zugeweht ist, seit ich zuletzt hier war.«

»Mit wem warst du damals dort?« fragte sie, ihn in den Arm kneifend.

»Ach was! Ich war leider nur mit einem männlichen Wesen hier!«

– – Sie fanden den Fleck unberührt, eine Vertiefung auf dem Gipfel einer hohen Düne, die von einem Kranz noch höherer Dünen umgeben war. Er nahm Frau Nancy in die Arme, hob sie in die Höhe und küßte sie: »Endlich – endlich hab' ich dich wieder!« Und sie legten sich in den Sand, der ganz warm von der Sonne war. Sie saßen aufrecht, Hand in Hand da. Sie guckte ihn verschmitzt an und sagte: »Du bist ein guter Junge. Ich habe Mogensen ausgeforscht und er hat mir die eidliche Versicherung gegeben, daß du dich ordentlich benommen hast. Ich würde auch sehr traurig gewesen sein, wenn du nicht auf mich gewartet hättest.«

Jermer faßte sie an den Ohrzipfel und sagte in strengem Ton: »Gut, daß du mich daran erinnerst. Ich möchte dich auch ein wenig ins Verhör nehmen. – Sag' mir einmal ganz offen und ehrlich, wie sich die Sache mit Herrn Martin verhält.«

»Es ist gar nichts – wenigstens nicht von meiner Seite.«

»Folglich also von der seinen? Ich will alles wissen, was er gesagt und getan hat. Hat er dich geküßt?«

Sie spitzte den Mund, als wollte sie pfeifen und lachte.

»Er hat es versucht, aber es ging nicht. – – Willst du gern das Ganze wissen?«

»Nur heraus damit.«

Sie erzählte.

»Eines Abends kam ich auf die Post, um nach Briefen zu fragen. Martin war allein. Er nahm den Brief, hielt ihn hinter seinen Rücken und sagte: »Sie sind ja außerordentlich erpicht auf diese Briefe! Sind sie wirklich von Ihrem Mann?« »Ja, natürlich sind sie von meinem Mann!« erwiderte ich, aber es kann gern sein, daß ich ein wenig errötete. Dann sagte er: »Ich glaube eigentlich, ich werde Ihnen den Brief heute abend nicht mehr geben.«

»Sie geben ihn mir sofort!« »Nein, Sie bekommen ihn nicht!« – Ich versuche ihm den Brief zu entreißen, er aber zog sich schnell in eine Ecke zwischen zwei Borten zurück. Ich stand vor ihm und streckte die Hand aus, da sagte er: »Sie sehen so entzückend aus, wenn sie dies ernste Gesicht aufsetzen. Sie sollen den Brief haben, wenn Sie mir einen Kuß geben wollen!«

»Dieser freche Mensch!« sagte Jermer.

Frau Nancy fuhr fort:

»Ich wurde ernstlich böse. Aber er war ganz außer Rand und Band. Er wollte mich um die Taille fassen, im Eifer des Gefechts vergaß er, daß er den Brief in der Hand hielt, schnell riß ich ihn an mich, gab ihm eine tüchtige Ohrfeige und lief davon.«

»Das war gut gemacht! Und dann gingst du wohl nie wieder auf die Post, um deine Briefe abzuholen?«

»Nein, am nächsten Tage blieb ich zu Hause. Aber denk nur – als die Uhr zehn war, kam Herr Martin selbst angestiegen. Er brachte mir den Brief, bat mich hübsch artig um Verzeihung und versprach, daß er nie wieder unartig sein wolle. – Und er hat sein Versprechen wirklich gehalten. Nicht eine einzige Annäherung hat er sich wieder erlaubt. An einem der letzten Abende aber sagte er: ›Ich habe die Absicht, während der Ferien in dasselbe Seebad zu gehen wie Sie. Würden Sie etwas dagegen einzuwenden haben?‹ Darauf antwortete ich: ›Ich kann Ihnen natürlich nicht vorschreiben, wo Sie Ihren Urlaub verbringen sollen!‹ Weiter sprachen wir nicht über diese Angelegenheit, und ich glaubte im Grunde nicht, daß es sein Ernst gewesen sei. Als ich ihn hier heute morgen traf, war ich nicht wenig überrascht.«

»Hast du mir nun auch nichts verschwiegen?«

»Ich hätte dir ja gar nichts zu sagen brauchen! Ich meine, du kannst mir immerhin Glauben schenken!«

»Und du versprichst mir, es mir sofort zu erzählen, wenn Martin neue Annäherungsversuche macht?«

»Ich will mir wie ein artiges kleines Mädchen gleich meine Schelte von dem Herrn Lehrer holen.«

»Dann komm und hole dir deine Strafe für heute.«

Er fing wieder an, sie zu küssen.

– – Sie sprang auf, schüttelte den Sand ab und ordnete ihre Toilette. »Jetzt wird es aber Zeit, daß wir nach Hause kommen. Auf mit dir, du Faulenzer!«

Sie zog ihn in die Höhe und nahm ihn unter den Arm. Und sie traten den Heimweg über die Dünen an, deren Riedgras sie an den Beinen kitzelte.

»Wann sehe ich Nancy wieder?« fragte Jermer.

»Wann du willst. Wenn ich nur kann, komme ich, sobald du mir nur einen Wink gibst.«

Im selben Augenblick drückte er ihren Arm heftig. »Zum Teufel auch!«

Einen Photographieapparat an einem Riemen über dem Rücken kam ihnen Martin entgegen.

»Wo zum Kuckuck sind Sie denn nur so lange gewesen? Sie verschwanden plötzlich alle zusammen.«

»Mein Mann hat sich schlafen gelegt, und Jermer und ich haben einen Spaziergang gemacht. Jermer wollte mir gern eine Aussicht zeigen.«

»Und ich habe mir die Zeit mit Photographieren vertrieben. Ich habe ebenfalls mehrere schöne Aussichten gefunden.«

Er sagte das mit einem Lächeln, das sowohl Jermer als auch Frau Nancy merkwürdig fanden.

»Er sollte doch nicht etwa –!« flüsterte sie.

Sie gingen dann alle drei miteinander nach dem Krug hinab, Jermer ein wenig verstimmt, Frau Nancy überaus liebenswürdig; Martin wie immer in übersprudelnder Laune.

Einige Tage später standen Jermer und Frau Nancy einen Augenblick allein auf der Veranda.

»Wann sehen wir uns?« fragte er schnell.

»Ich weiß nicht. Ich bin bange. Du mußt warten.«

»Mir ist die Sache wirklich über, Nancy. Nie sind wir allein. Wir können nicht einmal einen Augenblick miteinander sprechen. Entweder ist Mogensen oder Martin da.«

»Glaubst du nicht, daß es mir ebenso unangenehm ist? Aber ich habe wirklich keinen Mut dazu. Martin paßt uns auf. Und er macht fortwährend Anspielungen, daß ich in dich verliebt bin.«

»Hol' ihn der Teufel! Was will er hier eigentlich?«

»Fängst du nun wieder an? Du mußt nicht häßlich gegen mich sein. Ich kann ja nichts dafür!«

Sie sah ihn so flehentlich an, daß er seine Heftigkeit bereute und sie mit einem zärtlichen Händedruck um Verzeihung bat.

Dann kamen Mogensen und Martin.

Ähnliche kurze, mißvergnügte Unterhaltungen fanden in der nun folgenden Zeit häufiger zwischen Jermer und Frau Nancy statt. Aber sie hatte ganz recht, – es war unmöglich, sich Rendezvous zu geben. Sie waren den ganzen Tag alle vier zusammen.

Im übrigen verlief die Ferienzeit, dank dem geselligen Talent Martins, in Saus und Braus und eitel Lustbarkeit.

Er ließ sich von seinem Weinhändler mehrere Kisten Wein senden, und er mietete jeden Tag den großen Wagen des Gastwirts, womit sie lange Ausflüge in die Umgegend machten, reichlich versehen mit guten Speisen und Getränken.

Mogensen befand sich höchst wohl. Nur eins beunruhigte ihn.

Eines Abends sprach er sich hierüber mit seiner Frau aus:

»Hast du nicht bemerkt, daß Jermer in der letzten Zeit so verstimmt gewesen ist?«

»Ich weiß nicht so recht. Er ist vielleicht ein wenig stiller als sonst.«

»Ich glaube, er fühlt sich enttäuscht. Er hatte sich darauf gefreut, daß wir allein sein sollten, und ich glaube, es gefällt ihm nicht, daß sich Martin uns angeschlossen hat. Ich habe das Gefühl, als wenn er gleichsam ein wenig eifersüchtig ist. Er findet wohl, daß ihm Martin etwas von uns entzieht. Es ist unrecht gegen ihn, wenn er den Eindruck von uns haben sollte, als vernachlässigten wir ihn um unserer neuen Bekanntschaft willen.«

Frau Nancy erwiderte:

»Du bist reichlich zartfühlend in Jermers Seele. Es wäre doch sonderbar von ihm, wenn er sich beleidigt fühlte, weil uns Martin gut gefällt. So anspruchsvoll darf doch ein Freund nicht sein!«

»Ja, Jermer hat uns gegenüber das Recht, anspruchsvoll zu sein!«

– – Schließlich aber fand Jermer auch seine gute Laune wieder. Vor allen Dingen trug Frau Nancy hierzu bei; sie war unermüdlich in ihren Bestrebungen, ihm ihre Liebe in Blicken und schnell geflüsterten Worten auszudrücken; von nicht geringem Einfluß aber war auch eine Unterhaltung, die er eines Abends mit Martin hatte.

Mogensen und seine Frau waren zu Bett gegangen; Martin und Jermer gingen unten im Garten und rauchten eine Zigarre.

»Brillante Menschen, diese Mogensens!« sagte Martin.

»Ja, selten liebenswürdige Leute!«

»Und eine verteufelt süße kleine Frau!«

»Ja, allerliebst.«

»Im Grunde ist es merkwürdig mit ihr, denn bei flüchtiger Bekanntschaft könnte man sie für etwas leicht halten.«

»So? Finden Sie?«

»Ja, sie ist entgegenkommender als die meisten Damen. Sie könnte leicht einen Herrn, der sie nicht kennt, in Versuchung führen, Annäherungsversuche zu machen.«

»Sie sollten doch nicht selber –?«

»Nein, glücklicherweise nahm ich mich in acht. Denn ich glaube, sie gehört zu denen, die einen tüchtig an der Nase herumführen.«

»Das kann wohl sein.«

»Wissen Sie, – ja, Sie müssen es mir aber nicht übelnehmen, – im Anfang glaubte ich, daß sie Sie gern hätte.«

»Ja, das hat sie auch.«

»Ja, aber ich meinte ein wenig mehr, als gut ist.«

»Jetzt glauben Sie es also nicht mehr?«

»Nein, jetzt bin ich fest überzeugt, daß sie völlig glücklich mit ihrem Mann lebt.«

»Das können Sie auch wirklich sein.«

X

Das Leben im Mogensenschen Hause ging wieder seinen gewohnten Gang. Jermer besuchte wie gewöhnlich seine Freunde, und sie waren alle drei glücklich, nach der lustigen Ferienzeit in die Ruhe des häuslichen Lebens zurückgekehrt zu sein. Martin war bald vergessen. Wenige Tage nach ihrer Abreise erhielt Mogensen einen begeisterten Brief von ihm, in welchem er seinem Dank für die angenehme Zeit Ausdruck verlieh. Mogensen antwortete, und damit schien Martin aus dem Gesichtskreis verschwunden zu sein.

An einem der ersten Oktobertage kam Jermer verabredetermaßen nach Schluß seiner Sitzung zu Frau Nancy. Er fand sie vor einem enormen Blumenkorb stehen, der mit den schönsten Rosen angefüllt war. Er fühlte sich sofort unangenehm berührt, denn er war sonst der einzige, der Frau Nancy Blumen schenkte, und es schien ihm wie ein Eingriff in seine Privilegien, daß sie Blumen von einem andern empfing. Er fragte, von wem doch diese Herrlichkeit stamme; sie reichte ihm eine Karte, auf der in flotten Zügen »Eduard Karl Martin« stand. »Nicht wahr, er ist verrückt,« sagte sie lachend. »Die Geschichte hat ihn mindestens fünfzig Kronen gekostet!«

»Seine Mittel erlauben es ihm ja!« antwortete Jermer. »Und du freust dich im Grunde doch darüber!«

»Ja, ich liebe Blumen und besonders in einem solchen Überfluß! So daß man sie gleichsam mit beiden Armen nehmen kann!«

Ihre Worte kränkten ihn. Es schien ihm, als habe sie gänzlich seine Blumen vergessen, die er doch mit einer solchen Sorgfalt und dem auserlesensten Geschmack gewählt hatte. Instinktmäßig ahnte sie seine Gedanken und beeilte sich hinzuzufügen:

»Aber so schön wie die, welche du mir von der Rosenausstellung mitbrachtest, sind sie doch nicht. Erinnerst du dich noch, es war ein ganzer großer Marktkorb voll, und weißt du noch, wie entzückt ich war?«

 

Jermer blieb, bis Mogensen kam.

Das erste, was Mogensen sagte, war: »Ich soll von Martin grüßen. Er ist zur Stadt gekommen.«

Jermer zeigte auf die Blumen: »Wie du siehst, hat er sich schon gemeldet.«

»Tod und Teufel! Wie schön die sind! Dann war es ja ein Glück, daß ich ihn zu heute abend einlud! – Du kommst doch auch, Friedrich?«

»Ich weiß nicht recht, – – ich fürchte, ich bin behindert.«

Frau Nancy drohte ihm mit dem Finger:

»Was soll das nur heißen? Vorhin sagten Sie ja gar nicht, daß Sie behindert seien?«

Jermer erwiderte:

»Wenn ich aufrichtig sein soll, – es macht mir keine Freude, mit Martin zusammen zu sein. – Mein Gott ja, – er ist sehr liebenswürdig, aber ich weiß nicht, – er ist mir zu lärmend, er geniert meine Nerven.«

Mogensen ging im Zimmer auf und nieder:

»Es tut mir leid, daß ich ihn aufgefordert habe zu kommen,« sagte er. »Wenn du ihn nicht leiden kannst, soll er nicht zu uns kommen. Aber heut abend läßt sich ja nichts mehr dabei machen.«

»Nein, und es war ja auch nur eine Sache der Höflichkeit, daß wir ihn einmal einluden,« sagte Frau Nancy. »Aber wenn Sie nicht mit ihm zusammentreffen mögen, so bleiben Sie lieber heute abend fort.«

 

Dabei blieb es dann. Als Jermer aber am Abend allein saß, ergriff ihn ein erdrückendes Gefühl des Verlassenseins. Er versuchte, sich die Zeit durch einen Roman zu vertreiben, als er aber einige zwanzig Seiten gelesen hatte, entdeckte er, daß er keine Ahnung von dem Inhalt hatte. Er warf das Buch fort und setzte sich an den Schreibtisch. Dort saß er und starrte Frau Nancys Bild an, und das Bild starrte ihn an. Das sanfte Lächeln erschien ihm jetzt, wo er sich darin vertiefte, merkwürdig spöttisch und neckisch. Es lag etwas in diesen Augen, worüber er sich nicht so recht klar werden konnte, etwas Ausweichendes, Verheimlichendes.

Er erhob sich und ging unruhig hin und her. Seine Gedanken wollten nicht von Frau Nancy lassen. Er sah sie vor sich, daheim in Mogensens Zimmer zwischen dem Gatten und Martin sitzen, er sah sie dem einen zulächeln, den andern liebkosen; er sah sie still und fein, mit schmiegsamer Anmut für die beiden Herren sorgen, er sah sie mit gebogenem Nacken dastehen und Wasser in die Groggläser schenken, sah die weiße, schmale Hand, die das Glas umfaßte, den langen, zögernden Blick, während sie fragte: »Wieviel?« Er sah das Ganze so klar, er selber war so oft auf diesem Bild gewesen. – – Aber auf seinem Platz saß nun Martin und freute sich von Herzen, daß er, Jermer, nicht da war.

Plötzlich hielt er inne. Nein, dachte er, ich lasse mich nicht von ihm vertreiben. Ich weiche ihm nicht.

Und ruhig ging er ins Schlafzimmer, frisierte sich sorgfältig, wechselte Manschetten, Hemd und Schlips, zog einen andern Rock an, parfümierte sein Taschentuch und seinen Schnurrbart, zog einen Überrock an, setzte seinen Zylinder auf und wanderte fröhlich von dannen. Erst als er sich bei Mogensen auf der Treppe befand, fiel es ihm ein, daß es peinlich für ihn sei, zu kommen, nachdem er erklärt hatte, daß er nicht kommen wolle und nachdem diese Erklärung ohne viele Einwände angenommen war. Den Fall gesetzt, daß er obendrein noch störte! Daß sie am liebsten ohne ihn war! Ach, Unsinn: welch eine Torheit von ihm.

Er schellte und Frau Nancy öffnete. Sie empfing ihn, als sei es die natürlichste Sache von der Welt, daß er kam. Im Innersten seines Herzens fühlte er sich sehr enttäuscht, er hatte mindestens einen Dank erwartet, und er bereute, daß er hingegangen war.

XI

Mogensen und Frau Nancy kamen überein, daß Martin nicht wieder eingeladen werden solle. Trotzdem war er täglich da. Er war nicht abzuschütteln. Er überhäufte das Haus mit Aufmerksamkeiten, die nur durch Gastfreundschaft vergolten werden konnten. Bald waren es kleine, galante Geschenke für Frau Nancy, – nicht anspruchsvoller, als daß sie angenommen werden mußten, – bald Einladungen zum Theater und zu Konzerten, die sich nicht gut ablehnen ließen, – zuweilen auch Einladungen zu einem kleinen Souper in seiner elegant eingerichteten Junggesellenwohnung oder in einer Restauration: höchst verlockend für Frau Nancy, die nicht an eine so verschwenderische Üppigkeit gewöhnt war, wie er sie bei solchen Gelegenheiten entfaltete.

Für Jermer war diese Zeit voll von Enttäuschungen und Demütigungen. An den Abenden, wo Mogensen zu Hause war, konnte er sicher darauf rechnen, Martin dort zu treffen. Und oft, wenn er des Vormittags zu Frau Nancy kam, sagte sie im Laufe des Gesprächs:

»Ach, das ist wahr, du, – es ist recht langweilig, aber heute abend sind wir nicht zu Hause. Wir sollen mit Herrn Martin ausgehen, – wir konnten nicht gut nein sagen.«

Die ersten Male knurrte er ein wenig, da sie es aber ins Scherzhafte zog und sich lustig über ihn machte, und da es allmählich immer häufiger geschah, machte er keine Bemerkungen mehr, sondern sah sie nur mit einem ernsthaften Blick an, den sie zu vermeiden suchte.

Es kam auch vor, daß er erst, wenn er des Abends kam, von dem Mädchen erfuhr, daß sie aus seien. Das Mädchen solle den Herrn Ministerialrat schönstens grüßen, – die Herrschaft sei mit Herrn Martin ausgegangen. – Und das Mädchen sagte das in einem Ton, der Jermer mitleidig vorkam, und der ihn rasend machte.

In Wirklichkeit waren die Abende, die er jetzt bei Mogensens verbrachte, nicht angenehm für ihn.

Martin war ganz selbstverständlich der Ehrengast; Martin beherrschte die Unterhaltung und sorgte dafür, daß sie nicht ins Stocken geriet. Jermers schlechte Laune ließ ihn außerhalb der Sache stehen. Schweigend und ungesellig, beleidigt und unliebenswürdig saß er da. Außerdem waren jetzt zwischen den drei anderen so viele gemeinsame Erlebnisse, an denen er nicht teil hatte. Sie sprachen von den Theatervorstellungen, denen sie zusammen beigewohnt, von den Personen, die sie bei Martin und in den Cafés getroffen.

Jermer beschloß jeden Tag, ernstlich mit Frau Nancy zu reden, Klarheit in die Sache zu bringen, sie zu bitten, zwischen ihm und dem andern zu wählen. Wenn er aber zu ihr kam – oder wenn sie zu ihm kam, was jetzt jedoch nur noch selten geschah, da sie stets so in Anspruch genommen war –, so fehlte ihm der Mut. Sie war so voller Frohsinn, so liebkosend, so gesprächig, daß er niemals in der Stimmung war, mit ihr abzurechnen.

 

Als dieser Zustand einen guten Monat gewährt hatte, faßte er einen ernsten Entschluß: Er wollte nicht mehr zu Mogensens gehen.

Fünf Tage war er nicht dagewesen. Oft peinigte ihn die Lust, sie zu sehen, aber er bezwang sich.

Am Abend des sechsten Tages wollte er sich gerade auf den Weg machen, um eine der Familien zu besuchen, bei denen er früher viel verkehrt, die er aber in den letzten Jahren trotz wiederholter Einladungen ganz vernachlässigt hatte.

Da klopfte es an seine Tür. Es war Mogensen.

»Guten Abend, lieber Jermer. Wie gut, daß ich dich zu Hause traf. Darf ich mich ein wenig setzen?«

Er nahm in dem Lehnstuhl Platz, den Jermer ihm bot. Er sah ganz elend aus, war verlegen und verwirrt.

»Fehlt dir etwas?« fragte Jermer. »Du bist doch nicht krank?«

»Nein, mir fehlt nichts. Es geht mir vorzüglich. Ich kam eigentlich nur, um zu hören, ob dir etwas fehle.«

»Mir? Wie kommst du auf diesen Gedanken?«

»Ja, – ich, wir, Nancy und ich waren ganz besorgt. – Es ist so lange her, seit du bei uns gewesen bist.«

»Ach, ihr seid in der letzten Zeit so viel ausgewesen.«

In betrübtem Tone antwortete Mogensen: »Ja, du hast recht, wir sind in der letzten Zeit sehr viel ausgewesen.«

Sie sahen einander eine Weile verlegen an. Dann sagte Jermer:

»Darf ich dir nicht eine Zigarre anbieten? – Und willst du nicht etwas zu trinken haben? Kognak oder Sherry?«

»Nein, ich danke, ich will nichts haben, – freilich, eine Zigarre –«

Er nahm die angebotene Zigarre, schnitt die Spitze ab, legte sie aber gleich wieder hin, ohne sie anzuzünden.

»Da ist übrigens etwas, wonach ich dich fragen wollte – – «

»Und zwar?«

Mogensen senkte den Kopf und spielte mit dem Messer.

»Was denkst du über Martin und – Nancy? Hältst du es für möglich, daß sie in ihn verliebt sein könnte?«

»Darüber kann ich schwerlich eine Ansicht haben. Hast du aber Grund, das zu vermuten?«

»Du antwortest mir nicht aufrichtig. – Weshalb magst du nicht mehr zu uns kommen? Glaubst du etwa, ich hätte es nicht bemerkt, daß du in der letzten Zeit so still und schweigsam gewesen bist?«

»Das ist sicher nur ein Zufall gewesen.«

»Nein, es war kein Zufall. Du täuschst mich nicht. Du bist eifersüchtig auf Martin.«

»Ich!«

»Ja, und mit Grund. Ich verstehe so gut, daß es dich geschmerzt hat zu sehen, wie eingenommen von ihm Nancy war. Mich hat es in deiner Seele gekränkt, – ich habe es ihr auch gesagt, es sei eine Schande, daß sie dir so treulos geworden, – – aber du weißt, wie sie ist. Man kann sie nicht fassen, wenn sie selbst es nicht will. Sie zieht das Ganze ins Lächerliche und sagt, du selber seist übellaunig und verstimmt geworden.«

»Das bin ich vielleicht auch. Deine Frau hat ja keine Verpflichtungen gegen mich und sie kann ja andere Freunde halten, wenn sie Lust hat. Martin ist ja außerdem auch dein Freund.«

»Du kannst doch aber sein Verhältnis zu mir nicht mit dem deinen vergleichen. Auf dich hätte ich nie eifersüchtig werden können.«

»Das ist ja sehr freundlich von dir. Aber ist es im Grunde auch schmeichelhaft für mich?« – Jermer suchte einen scherzhaften Ton anzuschlagen.

»Du weißt sehr gut, was ich meine. Du bist ursprünglich mein Freund; wir haben einander von Kindesbeinen an gekannt, und es gibt niemand, auf dessen Freundschaft ich solchen Wert gelegt habe und mit dem ich so gern zusammengewesen wäre, – ja, das hast du gewiß oft genug gemerkt. Daß du und Nancy auch so gute Freunde geworden, das war meine größte Freude. Eure Freundschaft ist mir eine Bürgschaft gewesen, daß in meiner Ehe alles in Ordnung war. Du hast uns in Wirklichkeit als Barometer gedient. Deshalb hat es auch einen solchen Eindruck auf mich gemacht, daß du dich ganz von uns zurückzogst. Was ist da los? fragte ich mich. Und ich brauchte nicht lange zu fragen; – – Martin hat sich zwischen uns gedrängt, nicht allein zwischen Nancy und dich, sondern auch zwischen dich und mich, – wer weiß, ob nicht auch zwischen mich und sie. Diese Tage, wo du nicht bei uns gewesen bist, sind bitter für mich gewesen. – – Aber weshalb sagst du denn nichts? Ich ging ja heute abend hierher, weil ich hoffte, daß du mich nicht im Stiche lassen würdest, wenn du sähest, wie notwendig du für uns bist. Ich bin sicher, daß wir beide, wenn wir uns nur einig sind, Nancy schon wieder zur Vernunft bringen könnten.«

»Ich fürchte, daß meine Hilfe nicht viel nützen wird. Deine Frau findet mich schon jetzt übellaunig und verstimmt, – sie würde mich gar bald unerzogen und aufdringlich finden, – – – ich denke, wir rühren nicht weiter an die Sache.«

»Das kannst du wohl sagen. Aber ich? Den Fall gesetzt, daß Nancy – «

Jermer sah ihn an und er hielt inne.

»Es war häßlich, was ich eben sagte,« fuhr er nach einer Weile fort. »Nein, du hast recht. So etwas darf ich nicht von Nancy denken. – – – Überhaupt, – bist du nicht auch der Ansicht, daß es hier bei uns zu Lande selten ist, daß verheiratete Frauen es so weit kommen lassen? – – Sie können kokett sein und mögen sich gern den Hof machen lassen, aber geradezu untreu – «

»Das mag gern sein.«

Mogensen erhob sich langsam.

»Ja, dann ist es wohl am besten, daß ich nach Hause gehe.«

Jermer bat ihn nicht, zu bleiben. Er fragte nur, um doch etwas zu sagen:

»Was hast du heute abend mit deiner Frau angefangen? Ist sie zu Hause?«

»Nein, sie ist bei ihrer Tante im Stift. Du weißt, das alte Fräulein Schmidt, das sie zuweilen besucht – – Es ist so lange her, seit sie dort gewesen ist.«

Eine satanische Munterkeit überkam Jermer plötzlich. Er klopfte Mogensen auf die Schulter und sagte:

»Das ist doch zum Kuckuck, wie diese alten Tanten verzogen werden. Glaubst du, daß die jungen Damen uns auch besuchen werden, wenn wir erst im Rollstuhl sitzen?«

Mogensen sah Jermer verwundert und mißbilligend an:

»Du mußt bedenken,« sagte er, »daß Fräulein Schmidt die einzige Schwester von Nancys verstorbenem Vater ist.«

»Mein Gott ja!« erwiderte Jermer lachend, – »ich will ja deiner Frau keine Vorwürfe machen, weil sie freundlich gegen das alte Fräulein Schmidt ist!«

Als Mogensen die Treppe halb hinuntergekommen war, wandte er sich um und rief dem Freund zu:

»Du kommst doch auf alle Fälle bald einmal zu uns?«

»Ja, ich werde in den nächsten Tagen bei euch einsehen.«

»Und ich würde dir wirklich dankbar sein, wenn du einmal ernsthaft mit Nancy reden wolltest. Nicht wahr, das tust du.«

»Vielleicht.«

– – – Jermer blieb stehen und lauschte Mogensens Schritten, die schwer und müde klangen. »Als trüge er etwas Totes mit sich herum,« dachte er bei sich. Dann verlor der Schall sich mehr und mehr und erstarb endlich ganz.

XII

Um dieselbe Zeit, als Mogensen Jermer seinen Besuch ablegte, schlich eine dicht verschleierte Dame die Treppe hinauf, die zu Martins Wohnung in der Kronprinzenstraße führte.

Ein wenig echauffiert infolge der Angst und des hastigen Treppensteigens blieb sie vor der Tür stehen, die im selben Augenblick von Martin geöffnet wurde.

»Tausend Dank, daß Sie kamen, gnädige Frau!«

»Ich muß wohl lieber gleich wieder gehen.«

»Davon kann keine Rede sein! Jetzt, wo Sie einmal hier sind, entkommen Sie nicht sobald wieder,« – und er ergriff ihre beiden Hände und zog sie herein.

Es war dunkel im Entree, und er machte den Versuch, sie zu küssen.

»Nein, nein. Sie müssen artig sein. Sonst gehe ich gleich wieder. Ich kann übrigens nur einen Augenblick bleiben.«

»Ich will ganz artig sein. Kommen Sie nur herein!«

Er öffnete die Tür, die zu seinem Wohnzimmer führte. Alles war festlich erleuchtet, zwei Kronleuchter und mehrere Lampen brannten dort.

»Es ist hier viel zu hell. Ich schäme mich in all dem Licht.«

Sie blieb an der Türe stehen und zeigte auf die Lichter.

»Sie müssen das alles auslöschen, mit Ausnahme der Lampe dort auf dem Schreibtische.«

Und sie rührte sich nicht vom Fleck, bis er getan hatte, wie sie befohlen.

»Nun, Frau Lichtscheu, nun können Sie wohl näher treten. Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«

»Ich danke, den behalte ich lieber an.«

»Aber Sie wollen doch in der Emballage nicht soupieren? Die Tafel steht, wie Sie sehen, bereit.«

Er schlug die Flügeltüren nach dem Eßzimmer auf. Dort standen die verlockendsten Gerichte: Austern, wildes Geflügel, eine mächtige Fruchtschale mit blauen Trauben und sammetroten Pfirsichen, goldhalsiger Champagner in einem silbernen Kühler, bleichgoldiger Sherry und rubinroter Bordeaux in geschliffenen Karaffen.

Die Dame schlug den dichten Schleier in die Höhe. Und Frau Nancy sagte:

»Nein, Martin, das ist wirklich zu arg. Das geht gegen die Verabredung. – Ich versprach Ihnen, weil Sie mich so lange gequält hatten, Ihnen einen kleinen Besuch ohne meinen Mann zu machen. – Jetzt habe ich mein Versprechen gehalten, und nun laufe ich wieder. Ich bereue, daß ich überhaupt gekommen bin, denn ich sehe, daß Sie mich ganz mißverstanden haben. Ich bin Ihnen wirklich böse!«

Martin sah einen Augenblick ganz betroffen aus. Dann schlug er sich mit komischer Feierlichkeit vor die Brust, fiel vor ihr aufs Knie und flehte:

»Sehen Sie, hier liege ich armseliger Sünder zu Ihren schönen Füßen und bitte Sie um Vergebung. Gnädige Frau, Sie, die Sie die Macht der Schönheit erhalten haben, gebrauchen Sie dieselbe mit Milde und Barmherzigkeit. Seien Sie etwas weniger zornig, als Sie zu sein berechtigt sind, weil ich, Ihr Sklave, es wagte, Ihnen eine Erfrischung anzubieten.«

Er guckte verschmitzt zu ihr auf, als sie aber noch immer ihren strengen Ernst bewahrte, sprang er in die Höhe, stürzte ins Eßzimmer und kehrte mit Windesgeschwindigkeit zurück. Schwänzelnd, eine Serviette über dem Arm, sich in den Hüften wiegend, trat er ihr entgegen:

»Wünschen die gnädige Frau das halbe Rebhuhn hier oder im Kabinett serviert zu haben?«

Er sah so komisch aus, daß sie sich nicht mehr halten konnte. Lächelnd sagte sie:

»Sie sind doch ein großes Kind, Martin! Niemand würde glauben, daß Sie bereits fünfundzwanzig Jahre zählen!«

»Und Sie wagen es doch nicht, mit mir zu soupieren? Fürchten Sie sich vor einem Kinde?«

»Bilden Sie sich nur ja nicht ein, daß ich mich vor Ihnen fürchte. – – Aber Sie haben mich beleidigt. Ich bin keine kleine Ladenmamsell, die sich zum Souper einladen läßt. Aber ich bin natürlich schuld daran. Ich hätte bedenken sollen, daß alle Herren einander gleichen. Von Ihrem Standpunkt aus würde es sicher sehr ungalant gewesen sein, wenn Sie nicht Austern und Champagner für eine Dame in Bereitschaft gehabt hätten, die Ihnen einen Abendbesuch macht. Glücklicherweise ist es ja eine Konsequenz, die sehr angenehm aussieht. Helfen Sie mir, bitte, meinen Mantel ab, und dann können Sie immerhin servieren.«

»Aber« – sagte sie ernsthaft und eindringlich, als sie an Martins Arm ins Eßzimmer ging – »Sie müssen mir versprechen, daß Sie nicht den Versuch machen wollen, mich anders zu behandeln, als wenn Sie zu Hause bei uns wären.«

»Auf Ehre,« antwortete er, ihre Hand küssend. Und als er eine Wolke des Mißmuts auf ihrer Stirn bemerkte, fügte er hinzu: »Ein Handkuß gehört zu den kleinen unschuldigen Freuden, die auch innerhalb der vier Wände des Hauses gedeihen.«

Nein, nein! Jetzt dürfen Sie mir nicht mehr einschenken. Ich kann doch nicht taumelnd nach Hause kommen!« Dunkelrot im Gesicht, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, saß sie da, den kühlen Saft der großen Trauben einsaugend.

Martin lehnte sich in den Stuhl zurück, erhob das Champagnerglas und sagte:

»Jetzt ist meiner Meinung nach der Zeitpunkt gekommen, wo wir der Abwesenden gedenken müssen. Darf ich die gnädige Frau bitten, Ihrem lieben Herrn Gemahl meinen ehrfurchtsvollsten Gruß zu überbringen.«

Sie drohte ihm lächelnd.

»Ach Gott! Wenn ich bedenke, daß er mich jetzt bei der alten Tante Lene im Stift glaubt! Und welch einen Begriff er von dem Leben bekommen muß, das die alten, gebrechlichen Menschen dort führen! Denn ich muß ja natürlich beichten, daß ich Wein getrunken habe!«

»Ja, das merkt er natürlich am Gute-Nachtkuß!«

»Hi, hi, hi!«

»Worüber lachen Sie?«

»Sie glauben gewiß, daß mein Mann und ich so sehr – sehr küsserig sind?«

»Ich glaubte, daß Ihr Mann sehr in Sie verliebt sei.«

»Und daß ich – «

»Ein wenig in Jermer verliebt wäre.«

Frau Nancy antwortete nicht. Ihr Gesicht war ernsthaft geworden, sie saß da und sah aus, als überlege sie.

»Sie sind doch nicht böse, gnädige Frau? Es war dumm von mir, das zu sagen; aber es entfuhr mir so.«

»Es ist nicht das erstemal, daß Sie Anspielungen auf Jermer und mich gemacht haben. – – Wir sind ja fertig mit dem Essen? Wollen wir nicht in das andere Zimmer gehen, dann will ich Ihnen von Jermer und mir erzählen. Es schmerzt mich, daß Sie etwas glauben, was sich nicht so verhält.«

Er erhob sich und verneigte sich vor ihr; dann reichte er ihr den Arm und führte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich vor den großen Majolikaofen setzte.

»Kaffee kann ich Ihnen leider nicht anbieten, da ich meine Wirtschafterin ins Theater geschickt habe, damit sie Sie nicht sehen sollte. Aber vielleicht eine Zigarette?«

»Ich danke! Aber genieren Sie sich nicht. Zünden Sie nur Ihre Zigarre an und setzen Sie sich neben mich. Wie hübsch und gemütlich es hier bei Ihnen ist!«

»Heute abend finde ich es auch!« Er schob einen Stuhl neben den ihren und setzte sich.

»Sie werfen gleichsam einen Glanz über alles. Haben Sie Dank, daß Sie heute abend bei mir blieben.« Er ergriff ihre Hand, und sie ließ sie ihm einige Augenblicke.

Dann sagte sie, sie ihm sanft entziehend –

»Ich wollte Ihnen ja von Jermer und mir erzählen – – «

»Jermer und ich sind gute Freunde gewesen, von der Zeit an, daß ich mich mit Mogensen verheiratete. Er ist täglich zu uns gekommen, und er hat durch seine Freundschaft meinem Mann und mir über die kleinen Schwierigkeiten hinweggeholfen, die so leicht in einem jungen Haushalt entstehen. Ich kannte Jermer nicht, ehe ich mich verlobte, aber ich weiß, daß er eine Zeitlang, als ich noch unverheiratet war, für mich geschwärmt hat. Ich weiß es von Mogensen, und er selber sagte es mir einmal bei einer Gelegenheit, von der ich Ihnen nun erzählen werde. – – Es mag wohl ein gutes Jahr her sein. Ich hatte sehr wohl bemerkt, daß Jermer in der letzten Zeit ganz verändert war. Er war schweigsam und still und sah mich oft mit sentimentalen Blicken an. Ich machte mir jedoch keine weiteren Gedanken darüber, aber ich glaube, ich erwähnte es eines Abends, als er bei uns gewesen war, Mogensen gegenüber, – ich sprach meine Vermutung aus, daß er wohl in irgend jemand verliebt sein müsse. Dann, eines Nachmittags, war ich allein zu Hause, – mein Mann war an jenem Tage aus, und Jermer wußte das. Plötzlich – stand er im Zimmer – ich hatte gar nicht gehört, daß geschellt wurde, – und er sah so erregt aus. Unruhig ging er im Zimmer auf und nieder, antwortete zerstreut auf meine Fragen und lag plötzlich vor mir auf den Knien. Er sagte, er liebe mich, er umfaßte mich so gewaltsam, daß mir ganz angst und bange wurde. Allmählich gelang es mir jedoch, ihn zur Vernunft zu bringen, und er setzte sich hübsch artig neben mich, – so wie wir nun sitzen. Ich erklärte ihm, daß das, was er getan, unrecht sei; daß ich ihn sehr gern habe, daß es aber, falls er Gefühle für mich nähre, die ich nicht erwidern könne, unmöglich für uns sei, mit ihm zu verkehren wie bisher. – Er verließ mich ruhig, aber betrübt, und sagte, daß er nicht mehr zu uns kommen könne. Er blieb auch wirklich ein paar Tage fort, kam dann aber wieder und war scheinbar ganz wie sonst. Als Mogensen einen Augenblick das Zimmer verließ, nickte er mir zu und sagte, ich dürfe ihm nicht zürnen, er wolle in Zukunft schon vernünftig sein. Das war alles, was zwischen uns über jenen merkwürdigen Abend gesprochen wurde. Und er hat sein Versprechen treulich gehalten, bis jetzt. Wir sind seither oft allein zusammen gewesen, aber er hat niemals ein Wort gesagt, das nicht jeder hätte hören können. – – Ja, da haben Sie die ganze wahrheitsgetreue Geschichte von Jermer und mir, die ich Ihnen erzählt habe, weil ich mich auf Ihre Diskretion verlasse, und weil ich nicht will, daß Sie etwas Schlechtes von mir denken sollen.«

Nach einer Pause sagte Martin:

»Was meinten Sie damit, daß Jermer sein Versprechen ›bis jetzt‹ gehalten habe? Sie sagten das mit einer so eigenartigen Betonung.«

»Ich meinte, daß Jermer in der letzten Zeit wieder so sonderbar gewesen ist. Vielleicht ist er eifersüchtig.«

»Auf wen?«

Frau Nancy erhob sich und tat, als habe sie die Frage überhört.

»Jetzt muß ich aber gehen!« sagte sie. »Es ist bereits spät geworden. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit!«

Martin half ihr in den Mantel.

»Sie antworteten mir nicht. Auf wen meinten Sie, könnte Jermer eifersüchtig sein?« Er fragte in flüsterndem Ton und legte seinen Arm um ihre Taille.

»Das erzähle ich Ihnen vielleicht ein andermal. – Nein, jetzt dürfen Sie nicht wieder mit den Dummheiten anfangen! Adieu! Und nochmals vielen Dank! Es war ein reizend gemütlicher Abend.«

XIII

Den 5. Dezember.

Liebster!

Weshalb sehe ich Dich nie mehr? Du hattest M. versprochen zu kommen, aber Du bist fortgeblieben. Denn die Visite, die Du vorgestern abend machtest, rechne ich nicht, Du konntest sehr gut wissen, daß wir zur Premiere im königl. Theater waren. (Ein gräßlich flaues Stück, das reine Zuckerwasser. Nichts für uns beide!) Wenn Du nicht hierher kommen willst, Herr Despot, so heiß' mich, zu Dir kommen. Ich gehorche Dir jetzt wie immer, – und bin trotz all Deiner Unliebenswürdigkeit

Deine Cici.
Den 6. Dezember.

 

Liebe Nancy!

Weshalb ich nicht mehr zu Euch komme? Weshalb fragst Du nach etwas, worüber Du keinen Augenblick im Zweifel bist?

Weshalb ich Dich nicht auffordere, zu mir zu kommen? – – Weil ich es nicht übers Herz bringen kann, Dich Deiner kranken Tante Lene zu entziehen.

Dein
J.

 

Den 9. Dezember.

Ich habe ein paar Tage vergehen lassen, um Dir nicht im Zorn zu antworten. Dein Brief machte mich weinen. Du bist schlechter, als ich glaubte, daß Du sein könntest. Jetzt will ich aber mit Dir reden. Ich komme morgen abend um acht Uhr, und Du wirst es doch wohl nicht fertig bringen, mich die Treppe hinab zu werfen. Obwohl, – Gott weiß!

N.

 

Den 10. Dezember. Abends.

Liebe kleine Nancy!

Du hast Deinen Willen durchgesetzt, Du bist bei mir gewesen und ich gebe gern zu, daß Du im Kampf die Stärkere warst. Ich schäme mich nicht, meine Schwäche einzugestehen. Es ging, wie ich im voraus wußte, daß es gehen würde. Wir versuchten, die alten Tage wieder aufzufrischen. Bist Du zufrieden?

Oder gibst Du mir im stillen recht: man soll nicht auf Gräbern tanzen? –

Wie in aller Welt kann man vernünftig mit einer schönen, jungen Dame reden, die auf unserm Schoß sitzt? Kann man in einem Kampf gegen eine Freundin siegen, deren Argumente Küsse sind, und die in eigentlichstem Verstände ad hominem spricht?

Und doch, als Du vor zehn Minuten aus meiner Tür gingst, war es nicht der Blick der siegenden Venus, den Du zum Abschied diesem Zimmer zusandtest, in welchem Du so viele Siege erfochten hast.

Die Sache ist nämlich die: Das Leben erfordert Resignation; es geht nicht, alles zu wollen. Man muß wählen.

Und in Wirklichkeit hast Du gewählt. Mich hast Du nicht gewählt. Aber eine gewisse alte Anhänglichkeit, eine gewisse Eitelkeit, vielleicht auch, vielleicht sogar hauptsächlich ein übermütiger Frauentrotz verbieten Dir, mich loszulassen. Am liebsten behieltest Du mich als Stangenpferd in Deinem Gespann.

Kleine Nancy, Du bist sicherlich eine ungemein behende kleine Person; wir kennen einander so gut, daß ich offen mit Dir reden kann: Du fährst bewunderungswürdiger als jede andere mit zweien. Um mit dreien zu fahren, fehlt es Dir an der nötigen Seelenelastizität und moralischen Überlegenheit.

Du weißt, daß ich nicht engherzig bin oder nach dem uns eingepaukten Moralrezepte urteile. Daher weißt Du auch, daß ich an und für sich keinen Anstoß daran nehmen würde, wenn Du Deine Domäne erweiterst.

Aber Dir fehlt das Talent dazu.

Ob man hier im Leben recht oder unrecht handelt, das mißt man einzig und allein nach den Wirkungen ab, welche unsere Handlungsweise hat. Entsinnst Du Dich, daß Du einstmals die Furcht äußertest, daß Du Unrecht daran tätest, meine gute Freundin zu sein? Deine Furcht war töricht, weil die Tatsachen dagegen sprachen. Dein Mann war glücklich und Du selber warst es auch.

Dein Herz wurde ohne Eifersucht zwischen Deinem Gatten und mir geteilt; wir konnten nicht eifersüchtig aufeinander werden, weil Du niemals einem von uns Gelegenheit gabst, sich zurückgesetzt zu fühlen. Du warst gerade das für jeden von uns, was wir wünschten und schätzten.

Du weißt sehr wohl, daß es jetzt anders ist. Unser stilles Glück ist gestört, ein fremdes Element hat sich eingedrängt und hat den sicher arbeitenden Mechanismus aus dem Gleichgewicht gebracht. Vor allen Dingen ist das unrecht gegen Deinen Gatten. Er weiß nicht, was eigentlich vor sich geht, aber er ist aus seiner Ruhe aufgescheucht worden und ahnt eine Gefahr. Ich, der ich es verstehe, fühle mich ungemütlich; ich fühle mich gestoßen und gedrängt, zuweilen merke ich, daß ich lästig bin, nie habe ich ein Gefühl der Sicherheit. Und Du selbst mußt, wenn Du ehrlich sein willst, gestehen, das auch Dein Wohlsein untergraben ist. Du bist der Situation nicht mächtig. Du bist unsicher und nervös.

Laß mich deswegen meinen Weg in Frieden gehen. Gib die Versuche, mich festzuhalten, auf. Es gab nur ein Mittel dazu, und das willst Du nicht anwenden, – worüber ich Dir keineswegs Vorwürfe mache.

Außerdem fürchte ich, daß es zur Anwendung dieses Mittels bereits zu spät ist. Das Gewebe von Fäden, das mich an die kleine Welt knüpfte, deren Herrscherin Du bist, scheint mir in diesen vierzehn Tagen so merkwürdig zerrissen zu sein. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder daran festwachsen könnte; ich fühle das Bedürfnis in mir, mich noch eine Zeitlang im offenen Wasser treiben zu lassen, – bis ich mich einst wieder an einem neuen Schneckenhaus zur Ruhe lege.

»Auf Wiedersehen!« sagten wir zueinander, als Du vorhin von mir gingst. Wären wir der geheimen Stimme unseres Herzens gefolgt – nicht wahr? – dann hätten wir »Leb wohl« gesagt.

Dein ergebener J.

 

Den 11. Dezember.

Dein Brief, lieber Jermer, ist sehr geistreich konstruiert. Du weisest klar und deutlich nach, daß die Schuld an mir liegt. Und doch, mein lieber Freund, guckt am Schluß des Briefes der Pferdefuß heraus. Du bist doch nicht so ganz sicher, daß Du ohne mich fertig werden kannst, da Du mich sehr eindringlich ersuchst, keine weiteren Anstrengungen zu machen, sintemal es vergebliche Mühe sein würde. Hab Dank für Deine Fürsorglichkeit!

Insofern war sie überflüssig, als ich mir schon bei meinem gestrigen Besuch bei Dir völlig darüber klar geworden war, wie wenig Du Dir aus mir machst.

Ich will keinen Versuch machen, mich gleich Dir in geistreichem Philosophieren über unser Verhältnis zu ergehen. Nur das Folgende möchte ich Dir einfach und natürlich sagen: Du irrst sehr, wenn Du meinst, daß zwischen mir und Herrn M. ein intimeres Verhältnis besteht. Und dann noch eins: als ich gestern abend zu Dir kam, geschah es aus dem wirklichen Bedürfnis, daß wieder alles so zwischen uns werden möge wie früher. Wenn Du gewollt hättest, würdest Du mich gestern abend ganz zurück erobert haben können. Du wolltest es nicht.

Und ganz zufällig habe ich heute allerlei gehört, was sowohl dies erklärt, als auch mir einen Wink gibt in bezug auf Deine Freischwimmübungen nach einem andern Schneckenhaus hin.

Ich wünsche Dir aufrichtig Glück zur Erfüllung Deiner Hoffnungen. Wie man mir sagt, ist das Schneckenhaus ja solide genug und die Schnecke außerordentlich appetitlich.

Und laß mich Dir noch eins gestehen: Dein Brief machte mich nicht allein böse, weil ich fand, daß es völlig überflüssig sei, auf Stelzen zu gehen, sondern er machte mich auch traurig. Ich hatte gedacht, daß, wenn es einmal so weit käme, daß wir einander Lebewohl sagten, dies mit dem gegenseitigen Gefühl geschehen müsse, daß wir Abschied von etwas Schönem und Gutem nähmen, von etwas, wofür wir einander Dank schuldeten.

Ich jedenfalls, lieber Freund, ich reiche Dir die Hand und den Mund zum Lebewohl. Und ich schäme mich nicht zu gestehen, daß ich beim Schreiben dieser Zeilen laut schluchze.

Nancy

 

Den 12. Dezember.

Liebe kleine Nancy!

Ja, wir Menschen sind kaltblütige Juristenseelen! Ich schäme mich über mich selber. Wie gleichgültig im Grunde, ob Du drei Viertel und ich ein Viertel Schuld an dem Bruche trage oder umgekehrt. Wie plump und wie roh, darüber prozessieren zu wollen. Zwischen zwei Menschen wie wir, die einander ohne alle Berechnung geliebt haben, sollte der Abschied nicht durch dergleichen spitzfindige Entschuldigungen und Anklagen besudelt werden. Wir haben eine schöne Zeit miteinander verlebt. Niemand von uns beiden hat geglaubt, daß es ewig währen würde. Wohlan! Der Augenblick ist gekommen, wo wir beide fühlen: es ist an der Zeit, vom Festmahl aufzubrechen. Wir reichen einander die Hand: wir küssen einander zum letztenmal. Freilich, – kannst Du oder kann ich dafür einstehen, daß es das letztemal ist? – Auf alle Fälle scheiden wir ohne Bitterkeit, ohne Vorwürfe, mit dem aufrichtigen Gefühl, daß wir einander eine Reihe froher Stunden, schöner Erinnerungen zu verdanken haben. Hab' Dank, daß Du mit den süßen Worten, mit denen Du Deinen Brief endest, den häßlichen Bann gehoben hast!

Hab' Dank, teure Freundin, liebreizende Geliebte! Werde glücklich, wie Du es zu werden verdienst, denn Du besitzest das Talent, andere zu beglücken.

Zwischen uns ist die gewöhnliche Redensart der sich Trennenden: »Laß uns Freunde bleiben,« überflüssig. Weshalb sollten wir beide, zwischen denen nie ein böses Wort gefallen ist, aufhören, Freunde zu sein?

Dein J.

 

Den 12. Dezember. Abends.

Hab' Dank für Deinen Brief, mein Freund!

N.

 

Den 18. Dezember.

Lieber J.!

Ich habe eine Bitte an Dich, die Du nicht abschlagen darfst. Willst Du nicht Deinen Weihnachtsabend bei uns zubringen? M. kommt in den nächsten Tagen zu Dir, um Dich zu bitten. Ich wollte Dich durch diese Zeilen nur auf seinen Besuch vorbereiten und Dich wissen lassen, daß ich sehr traurig sein werde, wenn Du Nein sagst. Du sollst unser einziger Gast sein, das verspreche ich Dir. Und es ist voraussichtlich das letztemal, daß wir Weihnachten miteinander feiern können. Ich erwarte ganz bestimmt, daß Du kommst.

Deine N.

XIV

Die Stimmung bei dem Mogensenschen Weihnachtsschmaus war ein wenig gedrückt gewesen. Als Jermer kam, war er sowohl von Mogensen als auch von Frau Nancy mit herzlichen Äußerungen der Freude empfangen worden. Frau Nancy hatte ihm außerdem verstohlen einen langen Händedruck gegeben und ihm ein »Danke« zugeflüstert.

Aber die Unterhaltung zwischen ihnen wollte nicht so recht in Fluß kommen. Es war so lange her, daß Jermer und Mogensen zusammengewesen waren, – abgesehen von flüchtigen Begegnungen und hastigen Visiten, – folglich konnten sie sich nicht wie in alten Tagen mit Leichtigkeit über alle die kleinen, alltäglichen Begebenheiten aussprechen.

Sie redeten von Wind und Wetter, von der Überbürdung der Postbeamten vor Weihnachten, von dem, was in den Zeitungen gestanden hatte. Oft geriet das Gespräch ins Stocken. Dann nickte Mogensen Jermer zu und erhob sein Glas: »Prost, alter Freund, du trinkst ja gar nichts!« Und auch Frau Nancy nickte zu Jermer hinüber: »Ihr Wohl!«

Während sie bei Tische saßen, schellte es mehrmals. Das erstemal sagte Jermer: »Es ist möglich, daß etwas für mich kommt. Ich habe Bescheid gegeben, daß alle Briefe für mich hier abgeliefert werden.« Es war das Eis vom Konditor. Als es bald darauf wieder schellte, sagte Jermer: »Das ist sicher für mich!« Frau Nancy erhob sich:

»Ich werde einmal nachsehen. Was in aller Welt erwarten denn Sie so sehnsuchtsvoll? Natürlich von einer teuren Persönlichkeit!«

Nach einer Weile kehrte sie zurück. »Armer Jermer! Auch diesmal nicht! Es war nur jemand, der bettelte.«

Während des übrigen Teils der Mahlzeit war Jermer in fieberhafter Erregung und antwortete nur zerstreut auf Frau Nancys Neckereien.

Mogensen erheiterte sich unterdessen durch Trinken, und als man sich vom Tische erhob, strahlte er vor Wohlsein. Er schloß gleichzeitig seine Frau und Jermer in die Arme und sagte: »Nun, ihr beiden alten Kriegskameraden, jetzt wollen wir einen recht gemütlichen Weihnachtsabend feiern. Jetzt gehe ich hinein und zünde den Baum an. Marie kann ja mit dem Abdecken so lange warten.«

Während Mogensen den Baum anzündete, standen Jermer und Nancy am Fenster und sahen den Schnee fallen und lauschten dem fernen Klingeln der Pferdebahnen, die am Boulevard um die Ecke bogen.

»Woran denkst du?« fragte er.

»Erinnerst du dich noch des letzten Weihnachtsabends, als du mit einem ganz großen Fliederbaum angefahren kamst? Wie kurze Zeit ist seitdem vergangen, und wie liegt das alles doch weit zurück! Wie glücklich waren wir miteinander! Und jetzt? Es ist wie der Schnee, der schmilzt, ehe er die Erde erreicht hat! Ja, mein Freund, es ist doch etwas Wehmütiges ums Scheiden.«

Er drückte ihr die Hand.

»Ja, wir haben einander sehr lieb gehabt.«

Ihr Haupt war auf seine Schulter herabgesunken; dann sah sie plötzlich zu ihm auf und sagte: »Gib mir einen Abschiedskuß.« Und ihre Lippen begegneten sich in einem langen Kuß.

– – Drinnen im Wohnzimmer klatschte Mogensen in die Hände. »Kommt jetzt! Nun fängt das Weihnachtsfest an.« Und er schlug die Türen zurück.

 

Das Mädchen hatte den Baum bewundert und ihre Geschenke in Empfang genommen. Die drei waren allein. Da führte Frau Nancy Jermer an den Weihnachtstisch, wo ein kleiner Blumenstrauß mit einem zierlich daran befestigten Billett lag.

»Jetzt sollen Sie auch nicht länger gefoltert werden. – Sehen Sie, was der Bettler vorhin für Sie gebracht hat.«

Jermer erbrach hastig den Brief, und eine lebhafte Röte färbte sein bleiches Antlitz, während er ihn las. Nach beendeter Lektüre steckte er ihn in die Brusttasche, holte ihn aber gleich darauf wieder heraus und durchflog ihn nochmals, als fürchte er, etwas übersehen zu haben.

Frau Nancy und Mogensen standen Arm in Arm da und lächelten ihm zu. Als Jermer aber die Blumen nehmen wollte, die er auf dem Tisch hatte liegen sehen, fiel sein Blick auf ein langes Paket, das daneben lag.

»Für Sie, Frau Nancy,« sagte er, es ihr reichend.

»Von wem kann das nur sein?«

»Ja, sieh nur nach!« sagte Mogensen, Jermer zublinzelnd.

Sie zerschnitt den Bindfaden, wickelte mehrere Schichten Papier ab und gelangte zu einer feinen, weißen Pappschachtel, in der ein Schildpattfächer mit ihrem Namenzug in Gold lag.

»Wie entzückend!« rief sie aus, ihn öffnend, um seine Pracht so recht genießen zu können.

»Und von wem ist er denn?« fragte Jermer.

»Von Martin.«

»Ja, Geschmack hat er, das muß man ihm lassen,« sagte Mogensen. »Schreibt er sonst noch was?«

»Er wünscht uns beiden ein fröhliches Weihnachtsfest und – « sie hielt ein wenig verlegen inne.

»Und was weiter?«

»Da, lies selber!« Sie reichte Mogensen die Karte, die er las; dann wechselte er einen besorgten Blick mit seiner Frau.

Sie saßen da, ein wenig müde von der Mahlzeit, dem Besichtigen der Geschenke und dem schweren, würzigen Duft verbrannter Tannenzweige.

Dann erhob Frau Nancy sich, ging ans Klavier und schlug die ersten Töne eines Weihnachtsliedes an.

»Ja, sing ein wenig,« bat Mogensen. »Eins der schönen alten Weihnachtslieder.«

»Aber Jermer fragt sicher nichts danach!«

»Ich bitte, – ganz im Gegenteil.«

»Ja, nicht wahr,« sagte Mogensen zu ihm gewendet, – »es ist doch nicht so recht Weihnachten ohne die alten Melodien!«

Frau Nancy saß da und präludierte. Dann hub sie an:

»Stille Nacht, heilige Nacht.«

Mogensen hatte den letzten Vers mitgesungen. Frau Nancy ließ die Hände auf den Tasten ruhen, und langsam erstarben die Töne. Eine Weile saßen sie alle schweigend da, gleichsam den dahinziehenden Tönen auf ihrer Bahn folgend.

»Es ist doch sonderbar,« sagte darauf Jermer in gedämpftem Ton, »welch eine Stimmung in dem einfachen Gesang liegt. Alle Kindheitserinnerungen werden wieder in einem wach.«

»Man wird gleichsam ein besserer Mensch,« sagte Mogensen.

»Ihr hättet heute abend mit mir in der Frauenkirche sein sollen,« – sprach Nancy. »Ich versäume den Weihnachtsgottesdienst nie. Die Kirche ist so schön, und der Gesang klingt so feierlich. Aber Sie gehen ja nie zur Kirche, Jermer. Das ist verkehrt von Ihnen. Ich meine, man bedarf dessen von Zeit zu Zeit.«

»Ich ahnte nicht, daß Sie religiös veranlagt seien.«

»Ja, wenn wir hierzulande Katholiken wären, glaubte ich sogar, daß ich Fanatikerin werden würde!«

»Sie können ja übertreten! Ich bin fest überzeugt, daß Sie mit Begeisterung aufgenommen werden!«

»Nein, das möcht' ich mir denn doch sehr verbeten haben,« fiel jetzt Mogensen munter ein. »Ich bedanke mich bestens für eine katholische Frau, die jede Woche einmal Verzeihung für all ihren Leichtsinn bekommen kann. Als Ehemann bin ich entschieden für den Protestantismus.«

»Du mußt nicht ungezogen gegen deine Frau sein!« Frau Nancy erhob sich vom Klavier und ging auf ihren Mann zu, um ihn ins Haar zu zupfen. »Du würdest nichts dabei riskieren, wenn ich zum Katholizismus übertrete!«

»Aber nein,« sagte Jermer, »in der Beziehung sind gewiß alle Glaubensbekenntnisse gleich sicher und gleich unsicher.«

»Wollen Sie sich wohl gleich schicken! Daß doch die Männer stets zusammenhalten müssen.«

 

Die Lichter am Tannenbaum waren herabgebrannt, und die kleine Gesellschaft siedelte in Mogensens Zimmer über. Jermer saß im Sofa und Mogensen in seinem großen lederbezogenen Lehnstuhl, ganz nach alter Gewohnheit, während Frau Nancy, nachdem sie die Herren mit Grog und Tabak versehen hatte, sich zwischen sie auf einen Sessel setzte und ihre Stickerei zur Hand nahm.

»Du, Mutter,« sagte Mogensen, »wollen wir beide einmal mit Jermer anstoßen und ihm danken, daß er heute zu uns gekommen ist? Ich finde, es war ein sehr gemütlicher Abend, und meine Frau und ich haben uns gefreut, dich bei uns zu sehen. Prost!«

»Hab' Dank, Mogensen! Danke, Frau Nancy!«

»Wenn du doch nur wieder so zu uns kommen wolltest wie in alten Tagen.«

»Es nützt wohl nichts, daß wir Jermer darum bitten.«

»Und weshalb sollte es nichts nützen?« fragte Jermer.

»Glauben Sie etwa selber daran?«

– – – Und als er nicht antwortete, fuhr Frau Nancy fort:

»Ach nein, lieber Jermer, Sie wandeln jetzt andere Wege, die Ihnen mehr zusagen.«

»Ja, Nancy hat recht. Wir haben einen kleinen Vogel singen hören.«

»Wovon?«

»Von einer Schnecke,« sagte Frau Nancy, – »die bisher auf Besuch gelebt hat, die jetzt aber im Begriffe ist, sich ein eigenes Haus zu suchen.«

»Wenn dem so wäre, so ist es auch wohl an der Zeit. War man nicht etwa der aufdringlichen Schnecke schon ein wenig überdrüssig geworden?«

»Das darfst du nicht sagen,« erwiderte Mogensen. »Es ist ganz natürlich, daß du dich nach etwas anderem sehnst. Für uns aber wird es ein großer Verlust sein. Ich weiß auch recht gut, was du denkst. Du denkst, daß wir schon einen Ersatz gefunden haben. Aber aufrichtig gesagt, Martin kann uns nie das werden, was du uns gewesen bist. Nicht wahr, Nancy?«

Im selben Augenblick wurde heftig an der Haustürglocke gezogen. Mogensen und seine Frau sahen einander an.

»Das ist für euch!« sagte Jermer.

»Ja, du,« – Mogensen stotterte ein wenig, – »du mußt es nicht übelnehmen. Aber es ist gewiß Martin. Er schrieb, er wollte gern noch einen Augenblick bei uns vorsehen, wenn er von seiner Mutter käme.«

Jermer erhob sich.

»Mein Gott, das ist ja so natürlich! – – Aber du weißt, daß Martin und ich nicht sonderlich miteinander harmonieren. Werde deshalb nicht böse, wenn ich gehe. Überdies ist es schon spät, und ich bin müde.«

Es schellte nochmals. Frau Nancy öffnete das Fenster. »Es wird sogleich geöffnet werden.«

Jermer war bereits im Entree und hatte seinen Überrock angezogen. Mogensen bemühte sich, ihn zum Bleiben zu überreden, aber Frau Nancy gab ihm recht, daß er lieber gehen solle, wenn er so ungern mit Martin zusammentraf.

Und dann bekam Jermer den Haustürschlüssel, worauf er sich verabschiedete. Mogensen und seine Frau leuchteten ihm, als er, seinen Blumenstrauß in der Hand, hinabging. Sie hörten, wie er den Schlüssel ins Schloß steckte, sie hörten, wie die Tür aufging und ein »fröhliche Weihnachten« erklang, das mit einem ruhigen »Danke, gleichfalls« beantwortet wurde.

Dann wurde die Haustür ins Schloß geworfen, der Schlüssel rasselte abermals, und nun kamen Martins schnelle Schritte die Treppe herauf.

XV

Einige Wochen nach Neujahr verlobte Jermer sich, und damit hörte natürlich sein Verkehr im Mogensenschen Hause auf. Er machte seinen Freunden Anzeige von dem Ereignis, und er und seine Braut statteten eines Tages eine Visite dort ab, zu einer Zeit, wo Jermer vermuten konnte, daß niemand zu Hause sei.

In der darauffolgenden Zeit hatten Mogensen und er hin und wieder einmal auf der Straße miteinander gesprochen, und eines Abends im Theater saß das Brautpaar zufällig in einer Loge neben Mogensens, in deren Gesellschaft sich Martin befand. Während der Aufführung hatten Jermer und Frau Nancy ein Lächeln ausgetauscht, in einem Zwischenakt hatte er seine Braut vorgestellt.

Seither hatte er nichts von seinem Freunde und dessen Frau gesehen. Er verheiratete sich bald darauf und machte eine dreimonatliche Hochzeitsreise nach dem Süden. In den nun folgenden Sommermonaten hielten sich die Neuvermählten auf dem Lande auf, und Jermer kam nur zur Stadt, um ins Ministerium zu gehen. Jetzt, Anfang Oktober, waren sie nach Kopenhagen gezogen.

 

Es war an einem Nachmittag gegen vier Uhr auf dem Königs-Neumarkt.

Jermer ging langsam um das Rondel in der Mitte des Marktplatzes herum, ängstlich nach allen Seiten spähend, jeden Augenblick auf die große Uhr an der Ecke schauend.

Plötzlich stand er Mogensen gegenüber. »Ah, guten Tag, Friedrich! Das ist ein Ereignis! Was gehst du hier umher und grübelst bei dem schönen Wetter?«

»Guten Tag, – ach, ich warte auf meine Frau. Aber sie muß sich verspätet haben. Sie hätte schon vor einer halben Stunde hier sein müssen.«

Die Begegnung mit Mogensen berührte Jermer unangenehm. Das unveränderte, von Gesundheit und sicherem Glück strahlende Antlitz des Freundes und seine gemütliche Anrede, die so ohne weiteres den alten vertraulichen Ton anschlug, reizte ihn in diesem Augenblick.

Aber Mogensen gab ihn nicht frei. Er war entzückt, Jermer einmal wieder zu sehen und wollte ihn durchaus bereden, ein Glas Bier mit ihm vor dem Hotel d'Angleterre zu trinken. »Deine Frau kommt natürlich nicht mehr, und wir können ja von dort aus auch Ausschau halten.«

Jermer fand keine passende Ausrede, außerdem überkam ihn eine unwiderstehliche Lust, von seiner alten Freundin, Frau Nancy, zu hören.

Als sie glücklich saßen, sagte er:

»Nun, so erzähl' mir doch, wie es bei euch geht und steht! Ja, daß es dir gut geht, kann ich sehen. Du bist nicht magerer geworden! Was macht denn aber deine Frau?«

»Danke, der geht's vorzüglich. Sie ist schön und liebenswürdig wie immer. Ja, wir sind – laß mich lieber unter den Tisch klopfen – immer noch gleich glücklich.«

»Und erzähl' mir, wie sich euer Leben denn jetzt gestaltet hat! So still und ruhig, wie in alten Zeiten, als ich bei euch verkehrte, geht es wohl nicht her? Ihr hattet ja angefangen, viel auszugehen?«

»Ja, freilich. Aber das war nur im Anfang, als er, Martin, du weißt ja, zu uns kam.«

»Kommt er noch zu euch?«

»Ja, sozusagen täglich. Aber er ist ganz anders geworden, als damals, wo du ihn kanntest. Du entsinnst dich wohl, daß er so lärmend war und immer alles auf den Kopf stellen wollte. Nein, er hat sich sehr zu seinem Vorteil verändert. Ich glaube geradezu, der Verkehr mit uns hat einen guten Einfluß auf ihn gehabt; er hat es nie gekannt, sich in einem Heim gemütlich zu fühlen, und wir haben ihn beide sehr lieb gewonnen. Jetzt ist es im Grunde bei uns genau so wie damals, als du zu uns kamst. Wir machen hin und wieder einmal einen kleinen Ausflug, wir gehen vielleicht etwas häufiger ins Theater als damals, aber in der Regel sitzen wir des Abends zu Hause ganz gemütlich bei unserem Glase Grog. Die einzige Veränderung besteht eigentlich nur darin, daß wir jetzt Whisky trinken. Das hat Martin eingeführt, und mir gefällt es im Grunde ganz gut, jetzt, wo ich mich daran gewöhnt habe.«

»Und er macht Frau Nancy nicht mehr den Hof?«

»Was meinst du damit? Ach, das ist ja wahr, jetzt entsinne ich mich. Das war nichts als Unsinn, und ich benahm mich recht töricht. Übrigens, da wir doch davon sprechen, so warst du, lieber Friedrich, eigentlich nur schuld an dem Ganzen.«

»Ich?«

»Ja, du machtest mich bange. Ich entsinne mich dessen sehr wohl. Weil du nicht mit Martin zusammen sein mochtest, fing ich auch an, ihn mit scheelen Blicken zu betrachten. Nein du,« Mogensen lachte, »es ist wirklich kein Grund vorhanden, Martins wegen unruhig zu sein.«

»Nein, du hast sicher keinen Grund dazu. Aber weshalb denn sonst –? Warum hältst du ihn gerade für besonders ungefährlich?«

»Ach weißt du, ich habe so den Eindruck bekommen. – – Ich weiß natürlich nichts Bestimmtes, aber ich müßte mich sehr irren, wenn Martin in der Beziehung nicht bereits schlapp ist. Er hat, glaube ich, früher sehr gelebt, aber es ist mir nicht möglich gewesen, zu entdecken, daß er jetzt noch irgendwelche Frauenzimmergeschichten hat. Ich habe ihn hin und wieder damit geneckt, aber er kann es nicht leiden, wenn ich davon anfange. Nancy sagt auch, sie hat ein Gefühl, als wenn er geradezu bange vor ihr ist. Es ist komisch zu sehen, wie geniert und scheu er wird, wenn sie ihm einmal im Scherz die Wange streichelt oder – was sie neulich tat, – du weißt wie ausgelassen sie sein kann, – sich auf seinen Schoß setzt.«

»Nun, und das alte Fräulein Schmidt, wie geht es der denn? Lebt sie noch?«

»Herr Gott, erinnerst du dich ihrer noch? Das wird Nancy amüsieren! Ja, danke, sie lebt noch immer. Und Nancy besucht sie pflichtgetreulichst, – sogar recht häufig. Du weißt, sie ist die einzige Schwester von Nancys verstorbenem Vater.«

»Freilich, freilich. – – Mit andern Worten: bei euch ist alles wie in alten Zeiten; nicht das geringste verändert? Ihr habt doch ein seltenes Talent, das Leben in festen Formen zu leben.«

»Nein, auch nicht die geringste Veränderung habe ich zu berichten, – gar nichts Neues – es sei denn, daß Nancy auf die Weihnachtsausstellung soll.«

»Was soll das heißen?«

»Sie soll gemalt werden. Ein junger Künstler – Holm-Petersen heißt er –, den sie im Sommer in Klampenborg kennen gelernt hat, bat mich, ob er sie nicht malen dürfe!«

»Ach so. Und das Bild wird gut?«

»Er hat noch nicht angefangen. Er ist nur ein paarmal bei uns gewesen, um die Sache zu besprechen. Aber er soll viel Talent haben. Und er ist ein sehr liebenswürdiger junger Mensch.«

Das Gespräch geriet ins Stocken. Gedankenvoll schaute Jermer über den Marktplatz hinüber, ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen.

»Du denkst an etwas Amüsantes?«

»Ach nein. Ich dachte nur, wenn ich Künstler, d. h. Bildhauer, wäre, würde ich deine Gattin als Hebe darstellen, – als jene anmutige häusliche Göttin, die still und bescheiden mit dem Labetrunk zwischen den durstenden Göttern umherwandelt.«

»Du hast recht! Sie ist entzückend, wenn sie so im Lampenlicht dasteht und Grog macht. Die Art, wie sie den Arm hebt, wenn sie aus der Karaffe einschenkt, ist wirklich klassisch schön. – – – Aber jetzt ist die Reihe an dir. Erzähl' mir, wie es dir ergangen ist?«

»Ich habe mich verheiratet. Weiter ist nichts von mir zu berichten.«

»Und du bist natürlich glücklich; deine Frau ist so fein und elegant, – so recht eine Frau für dich.«

»Ja, wir befinden uns ausgezeichnet zusammen.« Jermer schien zu eingehenderen Mitteilungen nicht aufgelegt zu sein, und seine kurzen Antworten klangen kühl und formell.

Mogensen sah ihn forschend an, während er dichte Rauchwolken vor sich hinblies. Dann legte er seine Hand auf Jermers Schulter und sagte:

»Ich will nicht aufdringlich sein, Friedrich, aber als alter Freund darf ich mich dir gegenüber wohl offen aussprechen, – außerdem habe ich als Ehemann ja mehr Erfahrungen als du. Siehst du, die Ehe ist ein Glück und ein Segen, aber so ganz leicht läßt sich das nicht erringen. Es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, daß die erste Zeit die glücklichste sei; es dauert stets eine Weile, bis man sich so recht einlebt und seine Häuslichkeit in Ordnung hat. So zum Beispiel Nancy und ich, – ja, das weißt du freilich – du hast die Entwicklung unseres Verhältnisses aus erster Hand beobachtet. Im Anfang waren zuweilen Schwierigkeiten zu überwinden, – jetzt geht alles. – – Aber siehe da!« Er hielt inne und zeigte auf die Ecke der Großen Königsstraße.

»Was ist da?«

»Ist das nicht deine Frau, die da steht?«

Jermer beugte sich vor.

»Ja, das ist sie.«

»Wer ist der Herr, mit dem sie spricht? Ein Freund von dir?«

»Nein,« erwiderte Jermer scharf und kalt. Er hatte sich erhoben, den Blick unverwandt auf die Ecke der Großen Königsstraße gerichtet. »Aber ich muß mich beeilen.« Hastig reichte er Mogensen die Hand: »Adieu, und grüße deine Frau von mir,« – er lächelte nervös, »grüße sie und sage ihr, ich dächte noch oft an die alten Tage.«

Mogensen folgte ihm mit den Augen, bekümmert den Kopf schüttelnd. Dann schellte er dem Kellner, bezahlte, erhob sich bedächtig und wanderte fröhlich seinem Heim zu.


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