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Der Simulant

Der Chefarzt konnte nicht klug aus dem Patienten werden.

Rekrut Nr. 13 aus der 3. Kompagnie war wegen Schwäche im linken Bein ins Lazarett geschickt. Er konnte nicht damit auftreten. Es war, als sei ihm die Lebenskraft aus den Knöcheln herausgesickert, wie er sich in seinem gebildeten Kopenhagener Jargon ausdrückte. Nr. 13 war im zivilen Leben Tischlergeselle und von Ansehen ein ungewöhnlich flotter Bursche.

»Hol' mich der Teufel, das sind Lügen!« vertraute der Chefarzt seiner Begleitung nach der ersten Untersuchung des Beines von Nr. 13 an. »Der Kerl ist ganz einfach ein Schurke. Ihm fehlt nicht das geringste. Aber gottlob haben wir hier beim Militär Mittel, mit so einem Burschen fertig zu werden. Den wollen wir schon kurieren!«

Allerdings sah das Bein von Nr. 13 auch keineswegs krank aus. Es war eins von den wohlgebildetsten Beinen, die man sich nur denken konnte – geradezu klassisch, direkt zum Modellieren.

Indessen sollte der Chefarzt nicht recht bekommen in bezug auf sein Vertrauen zu der schnellen Wirkung der militärischen Kurmethode.

Und doch wurde sie in ihrer ganzen Ausdehnung und ohne alle Schonung angewandt.

Sie begann mit Fieberdiät und einer spanischen Fliege. Dann kam die Elektrisiermaschine an die Reihe, zuerst die kleine, dann die große. Es war übrigens ein famoser Anblick, wenn das Bein von Nr. 13 elektrisiert wurde. Es präsentierte während der kolossalen elektrischen Entladungen ein Muskelspiel von vollendeter Schönheit. Nr. 13 aber blieb unbeugsam. Er wand sich während der Exekution, von Zeit zu Zeit stieß er einen unfreiwilligen Schmerzenslaut aus – – aber das Bein war und blieb kraftlos. Vor und nach jeder elektrischen Behandlung, die der Chefarzt mit höchsteigener, kräftiger Hand leitete, wurde Nr. 13 neben seinem Bett aufgestellt. Er sank augenblicklich in der linken Seite zusammen; das Bein konnte ihn nicht tragen.

Auf die elektrische Kur folgte die Wasserkur. Jeden Morgen und jeden Abend bekam Nr. 13 Brause- und Strahlenbäder. Die Temperatur des Bades wurde bis auf die zulässig niedrigste gebracht: Nr. 13 erklärte, es fröre ihn wie ein Hund, aber »das müsse er ja ertragen, wenn es nur hülfe«. Es half aber nicht. Nr. 13 wurde kein populärer Patient unter den Krankenwärtern. Zweimal am Tage mußten sie ihn auf einer Tragbahre ins Wasch- und Badehaus hinübertragen. Und während des Bades selber hatten sie ihre liebe Mühe, ihn aufrechtzuhalten, – er fiel beständig nach links zusammen.

Abgesehen davon, daß man ihn in Verdacht hatte, zu simulieren, und daß er den Krankenwärtern extra Mühe machte, mußte man zugeben, daß Nr. 13 ein musterhafter Patient war. Er war immer vollkommen höflich und freundlich in seinem Benehmen, – beinahe gebildet – und er verriet nie, weder durch ein Wort oder eine Miene, Mißmut über die scharfe Behandlung, die ihm zuteil wurde. Im Gegenteil. Er schien außerordentlich dankbar für die Anstrengungen, die der Chefarzt sich mit ihm machte. Er zeigte sich – trotz der durchaus nicht undeutlichen Winke – ganz unempfänglich für das Verständnis, daß man ihn für einen Simulanten hielt und ihn dementsprechend behandelte.

Allmählich zwang er dem Chefarzt beinahe Bewunderung ab.

Als er acht Tage lang in unverändert blühender Lebenskraft von Fieberkost – Weizenbrot, Tee und Milch – gelebt hatte, sagte der Chefarzt: »Ich meine, Sie sollten sehen, daß Sie Ihr Bein allmählich etwas in Bewegung setzen, damit wir Ihnen etwas Vernünftiges zu essen geben können. Denn Sie begreifen wohl, daß wir einen Patienten mit so schwachem Beinwerk nicht mit schwerer Kost überfüttern können. Haben Sie nicht Verlangen nach einem guten Beefsteak?«

Nr. 13 sah den Chefarzt mit rührender Dankbarkeit an und sagte: »Nein, vielen Dank, Herr Doktor, ich habe nach nichts Verlangen. Ich bin mehr als zufrieden mit der Nahrung, die ich bekomme.«

– – – »Verteufelter Kerl!« brummte der Chefarzt, als er in die nächste Stube wanderte, »das ist, weiß Gott, der halsstarrigste Schurke, der mir je vorgekommen ist.«

An diesem Tage wurde befohlen, daß Nr. 13 gewogen werden sollte. In der darauffolgenden Woche – als er abermals acht Tage in Fieberkost geschwelgt hatte – wurde er wieder gewogen. Er hatte drei Pfund zugenommen.

Von nun an war das Herz des Chefarztes voll aufrichtiger Sympathie mit Nr. 13. »Natürlich sind Gaunerstreiche mit dabei im Spiel!« sagte er – »aber brillant ist es trotzdem. Daß er im Landarbeitshaus endet, unterliegt keinem Zweifel. Aber ich gäbe gern zehn Kronen, wenn er drum hinwegkäme.«

»Die wissenschaftlichen Marterkuren«, wie der Chefarzt sich ausdrückte, wurden jedoch regelmäßig fortgesetzt. Hauptsächlich des Prinzips halber. Denn im Grunde hatte der Chefarzt die Hoffnung aufgegeben, daß Nr. 13 zu Kreuze kriechen würde, und schon fing er an, von der Möglichkeit zu sprechen, ihn vor das Kassationsgericht zu stellen.

Da geschah es eines Tages, daß der Chefarzt sehr schlechter Laune war. Und als er zu Nr. 13 kam, erteilte er ihm eine so kräftige Portion Elektrizität, wie er sie noch nie bekommen hatte. Rings um das Bett herum, auf dem sich das Opfer wand, standen der Reservearzt, die Korporale, die Krankenpfleger und die Wärterin Fräulein Svingstrup, die jüngste von den Damen des Hospitals, »die Schönheit«, wie sie genannt wurde, eine große, schwarzäugige, vollbusige Maid zwischen dreißig und vierzig Jahren. – Plötzlich stieß Nr. 13 einen lauten Schrei aus, und im selben Augenblick brach Fräulein Svingstrup in krampfhaftes Schluchzen aus. Und hinaus stürzte sie und warf sich auf ihr Bett in ihrer neben dem Krankenzimmer gelegenen Koje.

Der Chefarzt hielt einen Augenblick inne. »Gehen Sie hin und gießen Sie ihr eine Schale Wasser über den Kopf,« sagte er zu dem Reservearzt. Darauf versetzte er Nr. 13 absichtlich noch ein paar solide Schläge.

Als er aber nach einer Weile mit dem Reservearzt draußen auf der Treppe stand, sagte er: »Haben Sie, verehrter Herr Kollege, jemals die Beobachtung gemacht, daß Fräulein Svingstrup sentimental veranlagt ist?«

»Nein, wenigstens nicht in einer irgendwie genierenden Weise.«

»Ich auch nicht. – – Wie denkt denn die junge moderne Wissenschaft über diesen Fall?«

»Hm! – – Fräulein Svingstrup ist ja in dem für Frauen verhängnisvollen Alter, Herr Chefarzt. – – Deswegen meine ich, daß man das Vorgefallene vielleicht als Folge von –«

»Verehrter Herr Kollege – – gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie kein Menschenkenner sind. Meine Meinung ist die, daß wir jetzt vor der Lösung des Rätsels stehen.«

»Welches Rätsels?«

»Das Nr. 13 betreffend. Hören Sie jetzt, Herr Doktor, und machen Sie es genau so, wie ich sage: Heute nachmittag erklären Sie in meinem Namen, daß Fräulein Svingstrups Krankenzimmer zur Benutzung für die Drüsengeschwulst-Patienten eingerichtet werden soll, es ist kein Platz mehr im Epidemiehospital. Wegen der künftigen Ansteckungsgefahr des Zimmers wird es dem darin angestellten Krankenwärter und der Pflegerin verboten, mit irgend jemand hier im Hospital zu verkehren. Mit anderen Worten, sie haben beide Stubenarrest – vorläufig. Darauf verteilen Sie Fräulein Svingstrups Patienten so, wie Sie es selber für zweckmäßig halten. Nr. 13 aber schaffen Sie in den anderen Flügel zu der Xanthippe Frau Mortensen hinüber. – Begreifen Sie?«

»Der Herr Chefarzt meinen also?« – Der Reservearzt lächelte pfiffig.

»Ja. Machen Sie es nun so, wie ich Ihnen sage.«


Nr. 13 hatte zwei Tage bei Frau Mortensen gelegen, und dieselbe sorgfältige Behandlung wie bisher mit Fieberdiät, Bädern und Elektrizität war ihm zuteil geworden.

Als der Chefarzt am dritten Tage an seinem Krankenbett stand und sich nach seinem Befinden erkundigte, antwortete er: »Wirklich, Herr Chefarzt, jetzt glaube ich, daß es anfängt, besser zu werden. Es ist mir, als wenn ich wieder ein wenig Kräfte in dem kranken Bein bekomme.«

»Gott sei Lob und Dank!« sagte der Chefarzt. »Dacht' ich es mir doch, daß die elektrische Kur einmal helfen würde. Sie sollen sehen, noch ungefähr zehn Tage mit extrastarker Elektrizität, und wir haben Sie wieder auf den Beinen als braven Soldaten!«

Worauf er Nr. 13 gleich das zukommen ließ, was ihm für den Tag dienlich sein konnte.

Die Hoffnung des Chefarztes ging glänzend in Erfüllung. Die Woche war noch nicht zu Ende, als das Bein von Nr. 13 schon seine Gesundheit völlig wiedergewonnen hatte.

An dem Tage, an dem er entlassen werden sollte, wurde er nach der ärztlichen Visite zum Chefarzt auf dessen Empfangszimmer gerufen.

Die Uniformmütze auf dem Kopf, trat ihm der Chefarzt entgegen:

»Ich könnte Sie ins Loch stecken lassen, Nr. 13. Wissen Sie das wohl?«

»Jawohl, Herr Doktor!«

»Ich tue es vielleicht auch noch. Denn im Grunde ist es ja meine Pflicht. – – Zum Teufel auch, Mensch, weshalb sagen Sie denn kein Wort. Haben Sie nichts zu Ihrer Entschuldigung anzuführen?«

»Ich fand, sie war das schönste Frauenzimmer, das mir jemals vorgekommen ist!«

»Woher kannten Sie sie denn?«

»Ich sah sie eines Tages, als ich einen kranken Kameraden besuchte.«

»Und dann?«

»Ja, dann verabredeten wir, daß ich mich krank melden sollte.«

»Sie kommen nicht ums Loch weg.«

»Nein, das wird wohl so kommen, Herr Chefarzt. Aber nun ist ja die Sache die, daß –«

»Nun?«

»Daß sie ein Kind haben soll. Wenigstens hat sie mir das heute morgen geschrieben!« –

»So, und was weiter?«

»Ja, dann wollte ich mich gern mit ihr verheiraten, sobald ich mit dem Dienen fertig bin. Denn sie ist das schönste Frauenzimmer, das mir jemals vorgekommen ist, und dann kocht sie ganz famos!«

Der Chefarzt krauete sich unter der Uniformmütze. Plötzlich warf er sie in eine Ecke und sagte:

»Meinetwegen. Ich will Sie nicht anzeigen. Aber – ein Mann, ein Wort! Sie heiraten das Mädchen, ich stehe Gevatter bei dem Kinde, – das ist wohl das wenigste, was ich verlangen kann, – und wenn es ein Mädchen wird, nennen Sie sie Elektrine. Sie können den Namen ja in Trine abkürzen. Abgemacht, wie?«

»Jawohl, Herr Chefarzt!«


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