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Ein Weihnachtsmärchen

Es war einmal ein ungeratenes Kind. Man kann wohl mit Bestimmtheit annehmen, daß die Erziehung ein wenig schuld daran hatte, denn die war, gelinde gesprochen, höchst mangelhaft gewesen; aber trotzdem, – ein zehnjähriges Kind ist nicht durch Erziehung allein so mißraten; es muß von Geburt an etwas Gottloses an ihm gewesen sein.

Das ungeratene Kind ging am Tage vor dem heiligen Abend die Vimmelskaft hinab. Natürlich waren die Kleider des Kindes zerrissen und zerlumpt, – es war unglaublich, was das Kind an Zeug verbrauchte! Hatte es doch erst zum letzten Weihnachten eine von des Oberlehrers abgelegten Hosen erhalten! Und jetzt war, mit Erlaubnis zu sagen, nicht so viel mehr davon übrig, daß das Hinterteil bedeckt wurde! Man konnte sich wahrlich versucht fühlen, zu glauben, daß sich das Kind so wie der unartige kleine Tordenskjold auf einen Schleifstein gesetzt habe.

Es war nicht gerade sommerwarm an jenem Abend, aber doch mild und angenehm für gesunde und wohlgekleidete Leute. Wenn man aber den Jungen ansah, hätte man glauben können, Kopenhagen sei Sibirien. Er stellte sich an, als sei er auf dem besten Wege zu erfrieren: Er hielt die Hände vor den Mund und ließ die Tränen an seinen schmutzigen, aufgeschwollenen Wangen herunterlaufen.

Daß das Verstellung war, sah man am besten daran, daß er jeden Augenblick stillstand und die erleuchteten, aufgeputzten Ladenfenster anstarrte; hätte er wirklich gefroren, so würde ihm das schon Beine gemacht haben.

Wer ihn beobachtete, wenn er vor einem weihnachtlich geschmückten Laden stand, der gewahrte einen gierigen, boshaften Ausdruck in seinen kleinen, schlauen Augen. Das war nicht wie bei andern Kindern, die auch auf den Einfall kommen können, alles haben zu wollen, was sie sehen. Wie entzückend war es nicht, die kleinen appetitlichen Bälge die Hände ausstrecken zu sehen und sagen zu hören: »Das will ich zu Weihnachten haben, Mama!«

Sobald die Mutter sie nur küßte und sagte: »Ja, wenn Baby artig ist, soll Baby es haben,« – gleich waren sie zufrieden und lachten übers ganze Gesicht.

Aber das ungeratene Kind sah so gierig aus, daß man ganz bange vor ihm werden konnte. Und einmal, als eine niedliche Kleine, der sein Anblick Ekel einflößte, zu ihrer Mutter sagte: »Pfui, was für ein Straßenjunge!« – da spuckte er nach ihr und sagte ein häßliches Wort. Glücklicherweise besaß die Mutter die Geistesgegenwart, ihm, ehe er Reißaus nahm, einen tüchtigen Schlag mit ihrem Regenschirm an den Kopf zu geben.

Es war sehr schön und anheimelnd in der Östergade. So hell wie am lichten Tag, und aus den warmen Läden strömte der Duft von leckeren Sachen. Da konnten die Leute denn auch nicht umhin, fröhlich auszusehen; sie gingen so lächelnd und höflich zwischen einander umher, als seien sie alle die besten Freunde. Man sagte: »Ach entschuldigen Sie!« wenn man einander stieß, und sogar gegen ältere Damen war man galant.

Der unartige Junge schlich mit seinem mürrischen, unangenehmen Gesicht zwischen allen diesen liebenswürdigen Menschen hindurch. Vor einem Bäckerladen blieb er stehen und schnüffelte den fetten, süßen Geruch des Christstollens auf. Die Tür – eine schöne Glastür mit blauen seidenen Gardinen – wurde alle Augenblicke geöffnet, und feine Damen mit roten und weißen Päckchen gingen aus und ein. Jedesmal, wenn die Tür sich öffnete, strömte der anregende warme Duft heraus, und der Junge konnte seine Nase nicht davon halten. Er kam näher und näher, und einmal, als die Tür ein klein wenig offen geblieben war, schlüpfte er hinein und stellte sich neben zwei große Körbe mit frischgebackenem Wienerbrot.

Die Damen standen vor dem Ladentisch, und niemand beachtete ihn. Es war auch kein schöner Anblick, ihn mit den bösen, unruhigen Augen, vor Begierde zitternd, dastehen zu sehen.

Da kam eine große, schöne Dame mit einem wunderhübschen, goldlockigen kleinen Mädchen, so einem rechten Engelskinde, herein. Große fromme Augen in dem allerweichsten kleinen Gesicht. Als die Kleine den schmutzigen, schlechtgekleideten Jungen erblickte, füllten sich ihre schönen Augen mit Tränen, und sie sagte zu ihrer Mutter: »Ach, wie arm der Junge aussieht! Darf ich ihm mein Fünförestück geben, Mama?«

Die Dame musterte den Jungen und schüttelte, was ja sehr begreiflich ist, den Kopf über sein wenig anziehendes Äußere. Zu ihrem Töchterchen aber sagte sie: »Mein liebes, süßes Kind, wenn es dir Freude macht, so kannst du dem Knaben gern deinen Sparpfennig geben.«

Das kleine Mädchen suchte in seinem Muff und fand das Fünförestück. Und während es sich mit der einen Hand vorsichtig an der Mutter festhielt, reichte es dem Jungen das Geldstück und sagte: »Das sollst du haben!« Der Knabe sah nur das Geldstück an und riß es so gierig an sich, daß das kleine Mädchen sich ganz erschreckt an die Mutter anschmiegte. »Das ist gewiß ein unartiger Junge, Mama! Er hat gar nicht einmal ›danke‹ gesagt!«

»Mein Junge«, sagte die Dame ernst und eindringlich zu ihm, – »denke daran, daß man immer ›danke‹ sagen muß, wenn man etwas bekommt.«

Dann trat sie mit ihrem kleinen betrübten Töchterchen an den Ladentisch und schenkte ihm einen Kuchen, um es über seine kindliche Enttäuschung zu trösten, während sie selber ihre Weihnachtsbestellungen machte.

Aber das kleine Mädchen konnte den unartigen Knaben nicht vergessen und schielte unverwandt verstohlen zu ihm hinüber.

Der Knabe blieb stehen; er konnte sich nicht losreißen von den beiden Körben mit Wienerbrot. Seine Hände tasteten an dem Rand des einen, während seine Augen unruhig umherschweiften, und als er sich unbeachtet glaubte, griff seine Hand in den Korb hinein.

Im selben Augenblick rief das kleine Mädchen entsetzt: »Ach, Mama! er stiehlt!«

Und ehe der Junge zur Türe hinausschlüpfen konnte, hatte ihn ein resolutes Dienstmädchen gepackt. Er hatte die ganze Hand voll Wienerbrot.

Es entstand ein großes Entsetzen im Laden, und die aufgeschreckten Damen riefen durcheinander: »Ein Dieb! Wie entsetzlich! Mitten in der Hauptstraße! Wo ist denn nur die Polizei!« – –

Das kleine Mädchen weinte, und als ein Schutzmann in den Laden trat, jammerte es laut: »Ach Mama, – Mama!«

Es bedurfte keiner langen Erklärung, denn der Junge war auf frischer Tat ertappt. Die hübsche, rundliche Ladenmamsell mit der weißen Latzschürze war gutmütig genug, zu sagen, daß die paar Stücken Wienerbrot doch nicht wert seien, daß man solch Aufheben davon mache. Da aber trat die große Dame mit dem weinenden Kinde an der Hand vor und sagte:

»Ich fühle mich verpflichtet, den Herrn Schutzmann darüber aufzuklären, daß dieser Knabe nicht aus Not gestohlen hat. Meine kleine Emmy – hier brach das Kind in ein krampfhaftes Schluchzen aus – hat ihm noch vor einem Augenblick Geld gegeben.«

Währenddes hatte der Junge verstockt und, wie es schien, ganz gleichgültig dagestanden. Er versuchte sogar, heimlich ein Stück von dem Wienerbrot abzubeißen, das ihm wegzunehmen niemand bedacht gewesen war; aber das hintertrieb denn doch das Dienstmädchen, das ihn festgehalten hatte, indem sie seinen Arm schüttelte, so daß das Brot zur Erde fiel.

Der Schutzmann packte den Jungen dann bei der Schulter und, die Damen grüßend, ging er mit ihm ab, indem er sagte: »Ja, ja, dem kann ein kleiner Aufenthalt im Brummloch nicht schaden!«

Das kleine Mädchen war untröstlich. Es weinte um den diebischen Knaben.

»Mama, ich bin so bange, daß die Polizei ihm etwas tut!«

»Mein Kind, gräme du dich nicht um den bösen Jungen! Die Polizei verabfolgt ihm nur eine Tracht Prügel, und das ist zu seinem eigenen Besten, wenn er nicht schon ganz vom Laster verhärtet ist. Bitte du den lieben Gott in deinem Abendgebet, daß er dem ungeratenen Kinde verzeihen möge.«


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