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Aus dem ersten Universitätsjahre.
Ein Roman in Briefen

I

H., den 28. Aug. 1892.

Lieber Emil!

Ich denke, jetzt bist Du glücklich in der Hauptstadt angelangt und hast Dich gemütlich bei der guten alten Frau Petersen eingelebt. Wir sehnen uns alle sehr danach, zu hören, wie Du Dich in den neuen Verhältnissen zurechtfindest.

Wenn ich Dir schon heute schreibe, so hat das seinen Grund darin, daß ich vor Deiner Abreise nicht eingehend genug mit Dir über Deine pekuniären Verhältnisse geredet habe. Wie Du weißt, kann ich mit meinem nicht gerade großen Lehrergehalt nur so eben auskommen. Es würde mir sehr schwer werden, Dich während der fünf bis sechs Jahre bis zu Deinem Examen in der Hauptstadt zu erhalten. Das kann jedenfalls nur mit der konsequentesten Sparsamkeit Deinerseits möglich gemacht werden, wie Du auch selber nach Kräften zu Deinem Unterhalt beitragen mußt. Ich hoffe, Du hast schon die Runde bei allen den Schulvorstehern gemacht, die ich Dir aufgab? Du mußt nicht mutlos werden, wenn Du im Anfang abschlägige Antworten erhältst; natürlich melden sich gerade jetzt viele Bewerber, da gilt es, energisch sein.

Während der ersten zwei Monate können wir freilich wohl kaum darauf rechnen, daß Du selber etwas Nennenswertes verdienst. Deswegen wird sich Deine Lage – so wie ich sie Dir zu bieten vermag – folgendermaßen gestalten: Ich bezahle Frau Petersen monatlich 35 Kronen, und für diese Summe erhältst Du ein Zimmer, Kaffee, Frühstück und Abendbrot. Des Mittags ißt Du ja bei den Verwandten. Ich habe gestern von Onkel Paulsen und von Tante Minna Antwort erhalten; der erstere will Dich gern des Mittwochs da haben, Tante Minna bietet Dir den Sonntag an, – so hast Du denn alle Tage besetzt und kannst sicher darauf rechnen, gutes und wohlschmeckendes Essen zu bekommen, was ja doch das Wichtigste ist. Ich brauche Dich natürlich nicht zu bitten, so zuvorkommend und liebenswürdig wie nur möglich gegen alle Onkels und Tanten zu sein. Sie haben Dich alle von Herzen lieb, aber Du mußt bedenken, daß ältere Leute, was ja die meisten sind, großen Wert darauf legen, daß die Jugend ihnen Rücksicht erweist. Ich weiß sehr wohl, daß Du nicht entzückt darüber bist, bei der Familie dinieren zu sollen, – ich gebe auch zu, daß es bequemer und weniger zeitraubend für Dich sein würde, wenn Du alle Mahlzeiten in Deiner Wohnung einnehmen könntest. Teils aber erlauben mir meine Mittel eine derartig erhöhte Ausgabe nicht, teils lege ich ein gewisses Gewicht darauf, daß Du in regelmäßiger Verbindung mit der Familie bleibst, teils glaube ich auch, daß bei Deinem Hang zur Bequemlichkeit die Bewegung, zu der diese Mittagstische in den verschiedenen Teilen der Stadt Dich zwingen, Dir sehr dienlich sein wird.

Dies ist eine lange Digression geworden. Ich komme nun wieder zu der Behandlung Deines Budgets zurück. Für Deine Verpflegung ist also gesorgt. Du hast folglich nicht nötig, für Deine Beköstigung Aufwendungen zu machen, abgesehen davon, daß Du vielleicht hin und wieder einmal mit Rücksicht auf Deine Vorlesungen das Frühstück bei der Frau Petersen versäumen mußt. Für den Fall rate ich Dir, Dich so einzurichten, daß Du Dein Butterbrot von Hause mitnimmst und Dir dazu bei einem Bäcker ein Glas Milch geben läßt, – oder es ist auch vielleicht ein Cafe in der Nähe der Universität, wohin die Studenten ihr Butterbrot mitbringen können; dann ziehst Du wohl eine Tasse Kaffee vor. (Bier finde ich, solltest Du so früh am Tage vermeiden.)

Nun kommen wir zu der Taschengeldfrage. Ich denke 10 Kronen monatlich werden, wenn auch nicht gerade reichlich, so doch hinreichend sein. Ich rechne nämlich, daß Du 1 Pfd. Tabak à 1 Kr. 33 Öre, und 25 Zigarren à 6 Öre gebrauchst; dann hast Du noch etwas über 7 Kronen für Pferdebahn, für Teilnahme an einem Studentenfest oder dgl. übrig. Für dies Geld müßtest Du wohl auch Deinen Bedarf an Schlipsen, Handschuhen und Stiefelflickereien bestreiten können – Du brauchst ja nicht gerade viel Schuhzeug.

In bezug auf Deine Garderobe brauchen wir uns ja gottlob vorläufig noch keine Sorgen zu machen. Dein blauer Anzug vom Frühling muß noch eine ganze Zeit vorhalten, namentlich, da Du die alten grauen Beinkleider als Reserve daneben zu tragen hast und meinen abgelegten Sommerpaletot als Hausrock benutzen kannst. Der Frack und die schwarzen Beinkleider machen sich ja auch sehr nett; es war ein großes Glück, daß Dein Vetter Fritz sie Dir gerade jetzt vererbte. Am wenigsten glänzend sieht es wohl mit dem Winterüberzieher aus; Mutter meint, die Ärmel seien Dir reichlich kurz. Aber das Zeug ist ja eigentlich noch nicht abgetragen, und gut und warm ist er auf alle Fälle. Diesen Winter wirst Du jedenfalls noch damit auskommen.

Übertrieben flott, das gebe ich zu, sind Deine Verhältnisse nicht. Aber mit Ordnung und Sparsamkeit wirst Du durchkommen können. Im Grunde habe ich ja gehofft, daß Du selber würdest verdienen können, was Du an Taschengeld gebrauchst, so daß ich mit den 35 Kronen monatlich an Frau Petersen davonkäme. Deine beiden Brüder und Deine Schwester kosten im Laufe des Jahres auch eine anständige Summe Geld, wenn es auch billiger ist, sie zu Hause zu haben.

Von Mutter soll ich Dir sagen, daß Du Deine Wäsche regelmäßig jeden zweiten Montag senden mußt; Du bekommst sie dann am Sonnabend zurück. Sie meinte, Du solltest für gewöhnlich wöchentlich ein Hemd, ein Paar Unterbeinkleider, zwei Paar Manschetten, zwei bis drei Kragen und ebenso viele Taschentücher gebrauchen.

Ja, lieber Emil, wir verfolgen alle mit liebevollen Gedanken Dein Leben in der Hauptstadt als flotter Student. Das erste Universitätsjahr pflegt ja ein glückliches Jahr zu sein, und Du wirst hoffentlich Deinen reichlichen Anteil an den Vergnügungen haben, die das Leben in der großen Stadt und zwischen munteren Kameraden zu bieten vermag. Ich will Dich vorläufig nicht mit vielen moralischen Betrachtungen belästigen. Nur ganz im allgemeinen will ich Dir empfehlen, nach keinerlei Richtung hin zu extravagieren. Mache es Dir gleich zur Regel, Dich nach der Decke zu strecken. Und als bestes Mittel, um Deine Angelegenheiten in Ordnung zu halten, empfehle ich Dir, genau anzuschreiben. Ich lege ein kleines Buch ein, in das Du täglich Deine kleinen Ausgaben notieren mußt.

Und dann, mein lieber Junge, bedenke, daß das Leben nicht allein zum Vergnügen da ist. Selbst wenn ich nicht der Ansicht bin, daß Du im ersten Jahr mit vollem Dampf arbeiten sollst, so hoffe ich doch, daß Du Dich nicht damit begnügst, die philosophischen Vorlesungen zu besuchen, sondern auch gleich mit der Jurisprudenz beginnen solltest In Dänemark legen die Studenten nach dem ersten Jahr das sogenannte »Philosophikum« ab, dann erst wenden sie sich einem Fachstudium zu.].

Und noch eins: hüte Dich vor schlechten Freunden und schlechten Vergnügungen. Laß Dich zu nichts verleiten, was Deine Mittel in irgendeiner Hinsicht übersteigt.

Nun, ich versprach Dir ja, nicht zu moralisieren. Wir bauen fest darauf, daß Du Deinen Sinn und Deinen Körper rein bewahren wirst.

Du vergißt wohl nicht ganz, in die Kirche zu gehen? Ich meine, Du solltest Dir die verschiedenen Kanzelredner anhören. Es gibt ja in Kopenhagen so viele ausgezeichnete Prediger, zwischen denen man wählen kann, und indem Du vergleichst, findest Du am sichersten den heraus, der für Dich der Rechte ist.

Alle senden herzlichste Grüße!

Dein treuer Vater.

PS. Grüße Frau Petersen und alle Tanten und Onkels. Du machst wohl Besuche, ehe Du Deine Mittagstische antrittst?

II

Frederiksborggade, Kopenhagen K.
den 30. August.

Lieber Vater!

Herzlichen Dank für Deinen Brief. Mit meinen Geldangelegenheiten werde ich schon fertig werden. Die zehn Kronen, die Du mir als Taschengeld geben wolltest, brauche ich nicht. Ich bin nämlich so glücklich gewesen, gleich in der Rasmussenschen Knabenschule in der Ulmenstraße Stunden zu bekommen, zwei Stunden à 40 Öre täglich, und zwar Naturgeschichte und Rechnen. Wie Du weißt, meine allerschwächsten Fächer. Da aber die Knaben, die ich unterrichten soll, nur 7–8 Jahre alt sind, braucht der Unterricht ja nicht streng wissenschaftlich zu sein. Ich fing heute an, – und zwar mit Naturgeschichte. Wir begannen ganz von vorne und machten uns über die Affen her. Die Knaben waren alle bis auf einen sehr artig. Als ich ihn fragte, ob er jemals einen Affen gesehen habe, sprang er auf die Bank, steckte die Zunge aus und sagte: »Der Herr Kandidat ist selbst ein Affe!«

Bei Frau Petersen befinde ich mich sehr wohl. Mein Zimmer, von wo aus ich eine brillante Aussicht habe, ist sieben Ellen lang und fünf Ellen breit. Schräge vor dem Fenster steht ein länglicher Tisch mit einer roten Decke, der als Schreibtisch dient, und von dort geht dieser Brief aus. An der einen Längswand steht das Bett mit einem kleinen Nachttisch davor. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich die Tür zu Frau Petersens Wohnstube; an der einen Seite der Tür steht mein Bücherbrett, an der andern mein Waschtisch. Fügt noch ein paar grün bezogene Stühle hinzu, und Ihr habt Studiosus Holms Bude. Es ist hier wirklich sehr nett, nur entbehre ich ein Sofa oder dergleichen. Ich wollte, ich könnte das Bett mit einem Schlafsofa vertauschen.

Zweimal habe ich schon »Freitisch« gehabt. Ich fing gestern bei Tante Kathinka in der Falkonerallee an: Lammbraten und rote Grütze. Hinterher traktierte mich Dr. Ludwig, der in liebenswürdigster Laune war, mit einer feinen Zigarre. Ich blieb bis um 8 Uhr auf seinem Zimmer. Dann ging ich in den Studentenverein, worüber ich nachher noch berichte. Heute nahm ich mein Mittagessen bei Berthelsens ein: Fleischsuppe und Frikandellen mit Blumenkohl.

Also: ich bin im Studentenverein gewesen! Ich war dort des Vormittags und gestern, wie gesagt, am Abend.

Nicht ohne ein gewisses feierliches Gefühl gingen Knud Petersen und ich in Begleitung von Lauritz Hahn hinein. Dieser spielt, obwohl er erst seit zwei Jahren Student ist, eine große Rolle im Verein und wird bei der nächsten Wahl sehr wahrscheinlich zum Senior aufgestellt werden. Hahn hatte versprochen, uns einschreiben zu lassen und uns den »Spitzen« vorzustellen. Es wird Dich amüsieren, daß der erste, dem Hahn uns vorstellte, niemand Geringeres als Professor N. N. war, der bei den Freisinnigen wegen seiner Angriffe gegen Georg Brandes so verhaßt ist. Professor N. N. ist gerade keine Schönheit, aber doch eine intelligente, charakteristische Erscheinung, man sieht es ihm auf den ersten Blick an, daß er keine gewöhnliche Persönlichkeit ist. Er war äußerst freundlich gegen uns, namentlich schien er – verzeih meine Unbescheidenheit – Gefallen daran zu finden, sich mit meiner Wenigkeit zu unterhalten. Er freute sich, als er hörte, daß ich ein Sohn von Oberlehrer Holm sei. Er sagte viel Gutes von Dir und sprach die Hoffnung aus, daß ich Dir ähnlich werden möge. »Denn Sie sind doch wohl nicht von den modernen Anschauungen angesteckt?« fragte er. Hierauf konnte ich mit gutem Gewissen antworten, daß die modernen Anschauungen noch nicht bis nach H. gelangt seien, und daß sie, falls sie sich dort zeigen sollten, einen so warmen Empfang von Dir und andern tonangebenden Männern gewärtigen könnten, daß sie schleunigst wieder den Rückzug antreten würden. Hierüber lachte Professor N. N. herzlich, klopfte mich auf die Schulter und sagte:

»Gottlob, daß wir die Provinzen noch haben! Das sind starke Festungen, und von dort bekommen wir gute Rekruten in der frischen Jugend.«

Unter den andern, die wir im Studentenverein sahen – freilich ohne mit ihnen zu sprechen – befand sich auch der alte Dichter P. P. Er saß ganz allein auf dem Sofa und hatte eine ganze Menge Zeitungen vor sich liegen; aber ich glaube nicht, daß er las. Er sah eigentlich so aus, als ob er ein kleines Schläfchen hielt. Offen gestanden machte er einen ziemlich abfälligen Eindruck. Es war beinahe traurig, ihn zu sehen. Hahn sagte auch, er sei längst nicht mehr das, was er gewesen, selbst wenn er auch immer noch von Zeit zu Zeit wunderschöne Gedichte schriebe, wie z. B. kürzlich bei der goldenen Hochzeit des Königspaares.

Gestern abend waren Knud Petersen und ich allein im Verein. Wir machten bei der Gelegenheit eine neue interessante Bekanntschaft. Nämlich die des jungen Svane, des Sohns von Konferenzrat Svane. Er will seinen Doktor in der französischen Sprache machen und soll übrigens sehr begabt sein. Er war, wie Du Dir denken kannst, da sein Vater Millionär ist, außerordentlich flott und lud uns gleich zu einer Flasche Wein ein. Er hat ein sehr feines, angenehmes Wesen, ist aber ein klein wenig blasiert. Er machte spöttische – übrigens aber sehr witzige – Bemerkungen über alles, namentlich war er sehr boshaft in seiner Beurteilung des Lebens im Studentenverein. Als ich ihn fragte, weswegen er denn hinginge, antwortete er: »Es amüsiert mich, die Tiere zu reizen. Sie sind unglaublich drollig, wenn man sie neckt.« – Ich führe diese Äußerung an, damit Du Dir einen Begriff von dem Burschen machen kannst. Ich glaube übrigens, daß es nur eine Manier bei ihm ist, wenn er so überlegen spricht. Sein Vater gilt für eine der besten Stützen der Rechten.

Vom Verein begleiteten wir den jungen Svane nach Hause. Du glaubst nicht, wie prächtig er wohnt. Er hat eine ganze kleine Wohnung für sich – mit eigenem Diener – im Hause seines Vaters: Wohnstube, Boudoir und Schlafzimmer. Wunderschöne Möbel, eine Menge kostbarer Nippesgegenstände, große Lampen mit seidenen Schirmen, Gemälde und Kupferstiche, – ja, Gott weiß, was da nicht ist!

Als wir bei ihm anlangten, waren alle Lampen angezündet, und im Kamin brannte ein schwaches Feuer. Denk Dir, im August! Svane sagte aber, das mache eine Wohnung so gemütlich, und es läßt sich nicht leugnen, daß es brillant aussah. – Der Diener präsentierte Sodawasser und Whisky, – ein schottisches Getränk, das jetzt hier in Kopenhagen sehr modern ist; es schmeckt anfangs gar nicht so besonders, aber es soll etwas sehr Schönes sein, wenn man sich erst daran gewöhnt hat. Du kannst mir glauben, Knud und ich genossen unser Leben in all dem Wohlstand. Wir rauchten Zigarren mit Leibbinden usw. usw.

Svane ist, wie gesagt, sehr anziehend. Und doch glaube ich nicht, daß ich mir auf die Dauer viel aus seinem Verkehr machen werde. Hahn, dem ich heute begegnete, und dem ich von den Erlebnissen des gestrigen Tages erzählte, sagte auch: »Du mußt ein wenig vorsichtig mit Svane sein. Er ist begabt, aber ihm fehlt der Ernst.«

Leb wohl für heute, lieber Vater. Grüße alle Hausgenossen und Freunde in H.

Dein getreuer Sohn
Emil.

III

H., den 30. Aug.

Mein süßer Schatz!

Ich schreibe Dir zu nächtlicher Stunde, weil ich bange bin, daß meine Eltern erfahren könnten, wie die Sachen zwischen uns stehen. Du hast doch nicht vergessen, was Du beim Tanz auf dem Waldfest zu mir sagtest, nachdem Du Dein Examen gemacht hattest? Emil, ich sage Dir, nie werde ich den Augenblick vergessen, als Du mich zum ersten Male küßtest und mich fragtest, ob ich die Deine sein wolle. Aber wir müssen geduldig sein, denn Vater sagt, Du seiest zu jung, und Deine Eltern finden, daß ich eine Kokette bin. Das kommt aber daher, daß Deine Mutter mich auf dem vorletzten Klubball im Winter draußen auf dem Gang zusammen mit Olufsen überraschte, mit dem schönen Postassistenten, in den alle Damen so vernarrt sind. Ich bin es aber nicht, denn ich finde, daß er ordinär ist, was man auch daran merken kann, daß er sich so viel Pomade ins Haar schmiert, – Gott, wie ich mich nach Dir sehne, Du süßer Junge! Hielte ich Dieb doch in meinen Armen, damit ich Dir tausend verliebte Worte zuflüstern könnte! Liebst du mich? Liebst Du mich zum Totdrücken? Bin ich süß, bin ich eine leckere kleine Person – zum Anbeißen? Ach, Emil, wie ich Dich liebe! Wenn Du doch nur an Gott glauben wolltest! Du solltest sehen, wie wohl Du Dich dabei fühlen würdest! Das ist doch das einzige hier im Leben, woran man sich halten kann, wenn man betrübt ist. Du mußt mich nicht auslachen, aber ich bete jeden Abend für Dich. Und es tut mir auch um Deines Vaters willen so leid, er ist in jeder Beziehung so altmodisch und würde sich zu Tode grämen, wenn er wüßte, wie Du im Grunde über Religion und dergleichen denkst. Denn es kann nichts nützen, daß Du sagst, Du seiest ein »innerer Christ«, Du möchtest nur nicht zur Kirche gehen.

Aber ich bin fest überzeugt, daß Du, wenn Du älter wirst, auf andere Gedanken kommst, und deswegen will ich Dich nicht mehr mit diesen Sachen plagen.

Es wird Dich gewiß amüsieren zu hören, daß sich Thora Jensen neulich beim Gartenkonzert gründlich prostituiert hat. Denk nur, sie fragte Leutnant Pram – Du weißt, der neue Leutnant, der erst kürzlich hierher versetzt worden ist – wieviel Kinder er hätte. Darauf antwortete er: »Auf wie viele taxieren das gnädige Fräulein mich wohl? Ich bin seit genau neun Monaten verheiratet.« Du hättest Thora sehen sollen. Feuerrot wurde sie. Das Schaf!

An Neuigkeiten ist übrigens nichts weiter zu berichten, als daß man jetzt mit Bestimmtheit behauptet, daß Ludovica und Mörk heimlich verlobt sind. Aber es soll erst veröffentlicht werden, wenn er seinen neuen Laden eingerichtet hat. Über uns spricht gottlob niemand. Nur Deine Mutter sieht mich immer so strenge an, wenn wir uns begegnen.

Vater, dem guten Alten, hab' ich fünfundzwanzig seiner besten Zigarren ausgeführt, die Du gleichzeitig mit diesem Brief erhältst. Ich habe sie alle im Munde gehabt, und wenn Du sie nun rauchst, ist es gerade so, als wenn Du Deine Mis küßtest.

Schreibe mir, bitte, recht bald. Du kannst den Brief ganz gut hierher adressieren, dann passe ich dem Briefträger morgens auf.

Und nun leb wohl, mein Herzensjunge! ........

.......Die Punkte bedeuten Küsse.

Deine Dich innig liebende
Mis.

IV

H., den 1. September abends.

Mein teurer, geliebter Emil!

Deinen Brief an Deinen Vater haben wir alle mit dem größten Interesse gelesen. Zuerst las Vater ihn uns beim Frühstück vor, später ließ ich ihn mir geben und nahm ihn mit auf mein Zimmer. Es ist herrlich zu hören, daß Du Dich in den neuen Verhältnissen so wohl fühlst. Du scheinst ja auch Glück gehabt zu haben, – gleich hast Du Stunden bekommen und dann hast Du so interessante Bekanntschaften gemacht.

Ich bin nun freilich niemals so recht damit einverstanden gewesen, daß Du Dir Extraarbeit suchen solltest. Ich finde, es wäre in jeder Beziehung besser gewesen, wenn Dein Vater Dir während Deiner Universitätszeit so viel Geld hätte überlassen können, um Dich Deinen Studien ungestört hinzugeben. Vater sagt ja aber, dann hätte er sich in Schulden stürzen müssen, und davor fürchtet er sich, was man ihm ja natürlich auch nicht verdenken kann, aber gleichviel, mein guter Junge, es tut mir so leid, daß Du schon in Deiner Jugend unter Geldsorgen leiden sollst, und ich verstehe es nur zu gut, daß junge Leute sich gern nett kleiden, hin und wieder einmal ins Theater gehen und überhaupt ein wenig mitmachen wollen. Für dergleichen aber hat Vater sonderbarerweise so gar kein Verständnis. Er urteilt nach seinen eigenen jungen Jahren, wo alles viel billiger war, und außerdem wohnte er ja als Student bei seinen Eltern und nahm mit ihnen an mancherlei Zerstreuungen teil.

Du mußt Dich nicht wundern, daß ich wieder von dieser Angelegenheit anfange, die wir ja oft genug miteinander verhandelt haben, ehe Du nach Kopenhagen gingst. Aber ich wurde so bange, als ich in Deinem Brief las, daß Dir nicht um das Taschengeld zu tun sei, das der Vater Dir geben wollte. Ich verstehe sehr wohl, – wenigstens bilde ich mir das ein – was dahinter steckt. Ich weiß, wie feinfühlend Du bist, und ich vermute, der Vater wird in seinem Brief an Dich wieder darüber geklagt haben, wie schwer es ihm wird, das Geld für Dich zu beschaffen. Aber, liebster Emil, selbst wenn Du ein wenig in Deiner Schule verdienst, wie willst Du auf die Dauer auskommen? Man hat so viele Ausgaben, an die man gar nicht denkt, und wenn Du nun mit so wohlhabenden jungen Herren wie diesem Svane zusammen bist, so kannst Du Dich doch nicht immer freihalten lassen. Ach! wäre ich doch nur reich! Aber leider ist Deine alte Tante eine arme Seele. Und doch möchte ich Dir so gern nach besten Kräften helfen. Deswegen lege ich zehn Kronen in diesen Brief ein und werde Dir auch künftig jeden Monat zehn Kronen senden. Von mir kannst Du das Geld getrost annehmen, Du weißt, ich kann mir keine liebere Verwendung dafür denken. Deswegen darfst Du auch mein Anerbieten nicht abschlagen. Es würde mir eine große Freude sein, zu wissen, daß ich Dir auf diese Weise hin und wieder einmal ein kleines Vergnügen verschaffen oder Dir zu einem kleinen Toilettengegenstand verhelfen kann, mit dem mein Junge sich dann fein und hübsch macht.

Solltest Du einmal eine halbe Stunde an mich wenden wollen, so würdest Du mich unsagbar durch einen Brief erfreuen. – Von den andern weiß niemand etwas von diesen zehn Kronen. Laß es ein Geheimnis zwischen uns beiden sein.

Die herzlichsten Grüße

von Deiner treuen
Tante Meta.

V

Kopenhagen, den 2. September.

Meine teure kleine Mis!

Dein Brief, der ja so süß war und über den ich mich so herzlich gefreut habe, hat trotzdem ernste Gedanken in mir angeregt. Es ist mir, als hätte ich Dir so unendlich viel zu sagen. Wir haben uns diesen Sommer eigentlich niemals so recht gründlich ausgesprochen, und es ist mir ein Bedürfnis, Dir mein Herz zu erschließen, hast Du mir doch gelobt, die meine zu sein, – mein auf ewig! Wir sind vielleicht noch sehr jung, um uns zu binden, die meisten würden unser Verhältnis wohl eine Kinderliebe nennen, aber ich bin nun einmal der Ansicht, daß es gut ist, sich früh zu binden. Jedenfalls fühle ich, daß ich dadurch vielen Versuchungen entgehen werde. Für Euch junge Mädchen ist es wohl eine andere Sache. Da ist so vielerlei, was Ihr nicht kennt, so vieles, was das Böse in uns reizt und lockt. Das ist ein Punkt, über den man nicht gut mit einem jungen Mädchen reden kann, selbst wenn sie einem so nahe steht wie Du mir, und so natürlich und offen ist, wie Du. Ich will Dir nur sagen, daß, wenn die Versuchungen an mich herantreten, ich in dem Gedanken an Dich einen Schutz haben werde. Zu wissen, daß ein reines, junges Weib, dem alle häßlichen, schmutzigen Vorstellungen fern liegen, daheim sitzt und auf einen wartet, das verleiht Mut und Kraft zu widerstehen.

Aber hierüber wollen wir nun nicht weiter reden. Versprich mir, nicht zu fragen – ich weiß, das Fragen ist Deine schwache Seite –, Du sollst mir nur ganz fest vertrauen, ich bin der Deine und werde stets nur der Deine sein.

Darin, glaube ich, haben die modernen Schriftsteller recht: Die einzige, solide Basis, auf der man ein Liebesverhältnis bauen kann, ist Wahrheit und Ehrlichkeit. Ich will Dir deswegen auch ganz offen sagen, wie es auf dem religiösen Gebiet mit mir steht. Zwar fürchte ich, daß es Dich betrüben und beunruhigen wird, aber trotzdem, nicht wahr, lieber die volle, aufrichtige Wahrheit, als ein vorsichtiges Versteckspielen miteinander, denn daraus entstehen doch weit mehr Qualen, jedenfalls ein unsicheres Gefühl, das schlimmer ist als alles andere.

Also, meine teure, süße Mis, die Wahrheit ist, daß ich meinen Kinderglauben nicht mehr besitze. Ich bin sogar nicht einmal sicher, daß ich ihn jemals besessen habe. Das klingt gewiß sehr häßlich, aber wahr ist es: ich habe aller Religion gegenüber stets nur ein Gefühl von Langeweile gehabt. Ich habe darüber nachgedacht, ob das möglicherweise von der Art und Weise kommen kann, wie ich nach dieser Richtung hin erzogen worden bin. Seit meinem sechsten Jahr wurde ich jeden Sonntag mit in die Kirche genommen und bei allen möglichen festlichen Gelegenheiten wurden daheim Gebete abgehalten und geistliche Lieder gesungen. Ich kann noch heute die Qualen empfinden, die ich als Kind erlitt, um mich in der Kirche wach zu halten. Ich mußte mich in den Arm kneifen, und ich zählte, Gott weiß wie oft, die Scheiben in den großen Fenstern hinter dem Altar und die Steine im Mittelgang. Am deutlichsten aber entsinne ich mich eines Weihnachtsabends, als wir »Andacht« hatten, ehe wir zu dem Tannenbaum hineindurften. Ich und einer meiner Freunde, der immer am heiligen Abend bei uns war, – wir zählten damals neun Jahre – konnten vor Sehnsucht und Neugier nicht ruhig sitzen. Während Vater aus der Bibel vorlas, wippten wir auf den Stühlen hin und her und stießen uns unter dem Tisch mit den Beinen. Nun hatten wir eine Nähterin, die Jungfer Marie hieß und ein armes, verwachsenes Geschöpf war. Sie war auch zur Bescherung bei uns. Und als dann der Vater vorlas: »Und der Engel sagte zur Jungfrau Maria: Du sollst einen Sohn gebären –«, da konnten wir uns nicht länger halten, wir brachen in ein ganz krampfhaftes Gelächter aus, das nicht enden wollte, obwohl der Vater uns einen fürchterlichen Blick zusandte und mit dem Lesen innehielt. Da erhob sich der Vater, ging auf mich zu und versetzte mir eine Ohrfeige, so daß mir der Kopf brummte, ergriff mich beim Arm und führte mich in die Kinderstube. Ich kam in dem Jahr nicht zur Bescherung herunter, doch entsinne ich mich, daß ich, obwohl ich noch so klein war, die gehässigsten Gedanken gegen Gott hegte.

Und doch glaube ich, daß nicht die Erziehung allein Schuld daran trägt. Mir geht offenbar die Fähigkeit zu glauben ab. Ich habe mir doch alle mögliche Mühe nach der Richtung hin gegeben, so zum Beispiel damals, als ich konfirmiert werden sollte. Ich war sehr unglücklich über mich selber, aber ich konnte mit dem besten Willen nicht in Stimmung kommen. Als wir vor dem Altar standen und der Pfarrer mir seine warme Hand auf die Stirn legte, hatte ich ein Gefühl, in das sich Unbehagen bei der Berührung mit der peinlichen Verlegenheit vermischte, daß ich ein feierliches Gelöbnis über irgend etwas ablegen sollte, das für mich keine Bedeutung hatte.

Als Kind tröstete ich mich immer mit dem Gedanken: Das kommt, wenn du erst älter wirst. – Mit den Jahren aber sind nur allerlei widersprechende Gedanken und Zweifel gekommen, und ich fühle, daß ich mich immer weiter von der Möglichkeit entferne, so zu glauben, wie Ihr anderen glaubt.

Am meisten hat es mich gequält, daß ich dies alles so in mich habe verschließen müssen. Jedesmal, wenn zu Hause über kirchliche Dinge gesprochen wird, komme ich mir vor wie ein Verbrecher, der bange ist, entdeckt zu werden. Ich setze mich in irgendeine Ecke und bin bemüht, mich so unbemerkt wie möglich zu machen. Aber es ist in letzter Zeit mehrmals vorgekommen, daß sich der Vater nach mir umgewendet und mich gefragt hat: »Hast denn du gar keine Meinung über diese Angelegenheit, Emil? Du pflegst doch sonst nicht mit deinen Ansichten hinterm Berg zu halten!«

Ich glaube, er fängt an zu begreifen, wie es um mich steht. Aber obgleich ich ja weiß, daß es einmal zu einer Erklärung kommen muß, und obgleich ich einsehe, daß es ja wohl auch das beste wäre, so graut mir doch vor dem Augenblick. Denn Vater wird die Sache so entsetzlich schwer nehmen.

Dir gegenüber habe ich aber nicht schweigen können. Du mußt mich ganz so kennen, wie ich bin. Und Du wirst nicht meinen, daß aus diesem Grunde kein Glück aus unserer Verbindung ersprießen könnte? Glaubst Du nicht auch, daß wir gerade durch so ein offenes Aussprechen zu gegenseitigem Verständnis gelangen werden? Einer hilft dem andern, und Du wirst mich nicht gleich verurteilen, weil Du in vielen Stücken nicht mit mir einig bist?

Du kannst Dir denken, daß ich Deine Antwort auf diesen Brief voller Sehnsucht erwarten werde. Es ist von so unendlicher Bedeutung für mich, wie Du mein Schreiben auffaßt.

Ich bin heute nicht in der Stimmung, alles mögliche über meine Erlebnisse hier in der Stadt zu erzählen. Davon ein andermal. Vielleicht wird es Dich aber besonders interessieren, daß ich zu heute in acht Tagen bei Konferenzrat Svane, mit dessen Sohn ich mich angefreundet habe, zu einem großen Diner eingeladen bin. Ich fürchte nur, meine Toilette wird sich bei der Gelegenheit nicht gerade allzu schön ausnehmen. Aber die feine Gesellschaft muß Nachsicht mit dem armen Studenten haben.

Meine teure Mis, Du solltest nur wissen, wie warm und liebevoll ich Deiner gedenke. Du bist mein Ein und Alles. Nur wenn ich weiß, daß Du einig mit mir bist, habe ich Lust und Eifer, vorwärts zu streben.

Wenn Du mich nicht fallen läßt, werde ich auch Großes erreichen.

Dein Emil.

P. S. Besten Dank für die Zigarren. Sie schmecken vorzüglich.

VI

Den 3. September, abends.

Du mein allerliebster, mein bester Schatz!

Während das ganze Haus schläft und es hier so feierlich in meinem kleinen Zimmer ist, und der Mond durch die Gardinen zu mir hereinlugt, schreibe ich an Dich, um Dir zu sagen, daß ich Dich jetzt noch mehr liebe, denn je zuvor; ich habe niemals geglaubt, daß man einen Menschen so lieb gewinnen könnte. Dein Brief machte mich so traurig und dabei doch so unsagbar glücklich. Denn ich ersah ja daraus, daß Du mich sehr lieb haben mußt, weil Du so ernsthaft über die tiefsten Dinge des Lebens an mich schriebst. Und ich verstand es so gut, was Du über Wahrheit und Ehrlichkeit sagtest, und es war mir, als seien wir bisher eigentlich gar nicht richtig verlobt gewesen, denn bis dahin war es alles doch eigentlich nur so oberflächlich und kindisch.

Ja, Emil, wir wollen ganz offen miteinander reden, wir wollen uns gegenseitig alles anvertrauen, alles, und Du sollst sehen, dann wird auch alles noch gut werden. Ach ich habe so viel, worüber ich mit Dir reden und namentlich, wonach ich Dich fragen möchte, und Du mußt nicht zu mir sagen, daß ich nicht fragen soll. Denn es gibt nichts, was man einander nicht sagen – oder doch schreiben – kann, wenn es mit Ernst geschieht und wenn man weiß, daß man sich aufeinander verlassen kann. Und Du brauchst wirklich nicht zu glauben, daß wir jungen Mädchen so dumm und unwissend sind. Wir haben doch auch Augen und Ohren! Und wir reden untereinander doch auch über alles mögliche, und was die eine nicht weiß, das weiß die andere; so z. B. hat Thora eine Menge von ihrem Dienstmädchen zu wissen bekommen, die auf dem Lande ein Kind in Kost gegeben hat.

In Zukunft aber will ich niemand außer Dir zum Vertrauten haben, denn das andere ist doch meistens nur Kinderei. Aber Du bist so klug und weißt so viel besser Bescheid und kannst so hübsch über alles mögliche reden.

Es hat mich wirklich ganz traurig gemacht, als ich las, wie es mit Deinen religiösen Anschauungen aussieht. Ich ging mit Deinem Brief hier herauf auf mein Zimmer, und als ich ihn gelesen hatte, weinte ich über eine Stunde, so daß ich zu Mutter sagen mußte, ich hätte Zahnschmerzen. Aber dann flehte ich so inbrünstig zu Gott, und da war es mir, als erhielte ich die Antwort von ihm, daß ich Dich nicht fallen lassen sollte, daß ich Dich festhalten müsse, damit Du durch mich auf andere Gedanken kommen könntest. Und da wurde ich so froh, es war mir, als habe ich eine große Lebensaufgabe erhalten. Aber ich will Dich nicht quälen, ich kann es so gut begreifen, daß es Dir langweilig geworden ist, jeden Sonntag den alten Propst Paulsen predigen zu hören; er ist ja ein guter Mann, aber er spricht so geistlos.

Das sagte auch der Hilfsprediger neulich zu mir, er meinte, es sei traurig mit dem Propst, denn er bewirke, daß so viele hier in der Stadt gleichgültig gegen das Christentum würden. Aber jetzt predigt der Hilfsprediger jeden zweiten Sonntag, und Du kannst Dir nicht vorstellen, wie schön das ist! Er spricht so hübsch, geradezu poetisch, und er versteht es, einen gleichsam über das Irdische zu erheben. Zuweilen flicht er auch Verse ein, die er selber gemacht hat. Neulich in der Mittagsgesellschaft bei Bürgermeisters bekam ich eine Abschrift davon; er führte mich nämlich zu Tisch, und da bat ich ihn darum. Ich wollte, Du kanntest einmal so recht eingehend mit ihm reden. Ich glaube, er würde Dir ganz andere Lebensanschauungen beibringen, und Du solltest sehen, wie glücklich Du Dich hinterher fühlen würdest. Es muß ja entsetzlich für Dich sein, keinen festen Grund zu haben, auf den Du bauen kannst. Sage mir doch, schwebst Du denn nicht in einer steten Angst vor dem Tode? Denn denke doch nur, wenn Du stürbest, ehe Du Dich bekehrt hättest!

Aber ich will heute nicht mehr daran denken, denn dann muß ich wieder weinen.

Du schriebst von den vielen Versuchungen, denen Ihr junge Herrn ausgesetzt seid. Ich verstehe sehr wohl, was Du meinst, ich war ja im Winter in den Vorträgen, die der Hilfsprediger und ein Herr aus der Hauptstadt über »gefallene Mädchen« und über »die Pro........« für die Damen hier in der Stadt hielten. Aber da ist so mancherlei, worüber ich immerwährend nachgedacht habe, und woraus ich doch nicht klug werden kann. Bewegen sich diese Art Frauenzimmer auf der Straße zwischen andern Menschen? Kann man sie nicht an irgend etwas Bestimmtem erkennen? Und wie fangen sie es an, wenn sie Euch »verlocken«? Ich meine, was sagen sie, um Euch anzulocken? Und ist es nicht schrecklich peinlich, wenn so ein Frauenzimmer zu Euch hinkommt? Oder tut sie, als kennte sie Euch oder sei mit Euch verwandt?

Wenn Du recht lieb sein willst, dann antwortest Du mir hierauf. Das ist doch nicht so schlimm, daß wir nicht darüber sprechen könnten! Bedenke doch, wenn der Hilfsprediger so offen zu uns Damen darüber reden konnte! Es kommt nur darauf an, daß es mit Ernst geschieht, und nicht, um eine leichtfertige Neugier zu befriedigen, sagte der Hilfsprediger.

Ich war heute unten im Laden, um nachzusehen, ob da nicht irgend etwas wäre, was Du zu dem Diner bei Konferenzrat Svane gebrauchen könntest. Leider führt Vater ja nur Damenartikel. Aber ich fand doch ein Paar rote Damenstrümpfe, die Du gewiß gebrauchen kannst, wenn sie auch reichlich lang sein werden, ferner ein paar weiße Handschuhe 7¾ – die führt Vater expreß für die Bürgermeisterin –, und ein Batisttaschentuch, das zwar nicht sehr groß, aber recht fein ist. Außerdem schicke ich Dir morgen mit der Post eine Flasche Maiglöckchen-Essenz. – Du bist mir doch nicht böse, daß ich Dir diese Kleinigkeiten sende? Sie kosten mich ja nichts, und im Laden ist ja genug davon. Und nun gute Nacht, mein Schatz! Tausend, tausend Schmatzküsse sende ich Dir, und in meinem Abendgebet will ich Deiner zuerst und zuletzt gedenken.

Deine treue Braut.

Deine kleine Mis.

VII

Regenz Die Regenz ist eine von Christian IV. (1588–1648) errichtete Stiftung in Kopenhagen, in der Studenten Freiwohnungen haben., den 12. September.

Lieber Holm!

Ich suchte Dich heute vormittag vergeblich auf. Ich hatte etwas Wichtiges mit Dir zu besprechen. Ich will Dir ganz kurz erklären, um was es sich handelt.

Das Studentenleben heutzutage ist nicht so, wie es sein sollte. Es ist kein Zusammenhalten zwischen den jungen Studenten, kein kameradschaftliches Leben mit gegenseitiger geistiger Beeinflussung. Ich finde es vollständig korrekt, daß der Studentenverein nicht in dem Kielwasser des radikalen Studentenklubs schwimmen will und sich nicht mit der Lösung großer sozialer Fragen befaßt. Ich finde durchaus nicht, daß so eine volkstümliche, philanthropische Wirksamkeit ein gültiger und befriedigender Ausdruck des echten, guten, studentischen Geistes ist. Das ist eine Beschäftigung für alte Practici, nicht für junge Musensöhne.

Wie hoch ich auch das pietätvolle Bestreben der hervorragenden Männer des alten Studentenvereins schätze, – nämlich die gemütlichen Traditionen aus dem goldenen Zeitalter der Studentenzeit festzuhalten, so bin ich doch auch nicht ganz sicher, daß man im Vorstand des Studentenvereins nach jeder Richtung hin auf dem rechten Wege ist.

Wohl betrachte ich das Trinkgelage, die witzigen Reden und den harmlosen Gesang als wertvolles, ja unentbehrliches Glied in der Aufgabe des Vereins. Aber die Lieder an sich, selbst wenn sie aus vortrefflichen Federn hervorgegangen sind, und das Wort, wie beredt es auch geführt werden mag, wird schwerlich die Jugend unsrer Zeit ganz befriedigen und ausfüllen können, denn sie ermangelt leider der glücklichen Unmittelbarkeit, des naiven Glaubens an den hohen Beruf des Studentenlebens, den unsre Väter besaßen.

Insonderheit bin ich der Ansicht, daß die ganz jungen Studenten sich durch die Verhältnisse, wie sie in unserm Verein herrschen, gewissermaßen unbefriedigt fühlen. Es wird ihnen keine Gelegenheit geboten zu der Belehrung, der Stütze und der Entwicklung, welche geistige Turniere mit Gleichaltrigen gewähren. Bei den offiziellen Vereinsfesten und bei den Diskussionen, die gelegentlich des Sonnabends abgehalten werden, fühlen sie sich durch die Autorität der Älteren bedrückt. Und wagt ein Einzelner sich vor, so stößt sein tastender Anlauf zu oft auf die überlegne Ironie der Älteren, auf das dumme Greinen der Jüngeren, die aller ernsteren Interessen bar sind.

Mein Plan geht nun darauf hinaus, den alten studentischen Geist wieder ins Leben zu rufen und ihn in der Schmelzkelle unsrer Zeit umzuformen. Und ich glaube, das läßt sich erreichen, wenn man das, was der Verein schon jetzt bietet, durch ein engeres Vereinsleben zwischen einem kleinen auserwählten Kreise aus den jüngsten Jahrgängen der Studentenschaft ergänzt. Mit andern Worten, wir bilden einen Verein im Verein, einen Vortrags- und Diskussionsverein, in dem die Jungen ohne Furcht vor spöttischer Kritik frei aussprechen können, was ihnen auf dem Herzen liegt. Ich glaube, daß man auf diesem Wege Großes erreichen kann, nicht allein zum Nutzen und Frommen für uns selber, sondern auch für unser Vaterland und für die ganze Entwicklung hierzulande.

Du wirst begreifen, daß, wenn ich mich an die Spitze eines solchen Vorhabens stelle, ich die Absicht habe, dasselbe in einem, wenn auch liberalen, so doch besonnenen Geist zu halten. Vor allen Dingen muß man Sorge tragen, daß der neue Verein nicht das Gepräge erhält, als wolle er einen Bruch mit den Alten bezwecken. Es soll kein niederreißender, nihilistisch europäischer Klub sein, sondern ein Verein, in dem die wahre Geistesfreiheit, die wahre Eintracht ihr Heim aufschlagen kann.

Ich habe mir gedacht, daß wir am Sonnabend zusammenkommen wollen – etwa zehn bis zwölf Studenten –, um die näheren Einzelheiten des Planes zu erwägen und zu überlegen, und um uns überhaupt klar darüber zu werden, ob Neigung zu einem solchen Verein vorhanden ist. Zu dieser vorbereitenden Zusammenkunft wollte ich Dich auffordern. Wenn Du irgendeinen tüchtigen, zuverlässigen Mann weißt, so bringe ihn mit. Der Sicherheit halber möchte ich doch noch bemerken, daß ich nicht wünsche, daß Dein neuer Freund Svane in diese Sache hineingezogen wird. Er gehört zu denen, die jedem ernsten Bestreben mit kaltem, ertötendem Spott begegnen. Am liebsten wäre es mir, wenn Du ihm gegenüber überhaupt nicht erwähntest, was im Werke ist. Wir versammeln uns um neun Uhr bei mir. Bringe Deine Pfeife mit.

Dein
Lauritz v. Hahn.

VIII

H., den 15. September.

Lieber Emil!

Die Mutter und Tante Meta danken Dir für die Briefe. Sehr eingehend sind Deine letzten Berichte eigentlich nicht gewesen. Ich würde es sehr gern sehen, wenn Du es Dir zur Pflicht machen wolltest, uns einigermaßen regelmäßig – z. B. zweimal wöchentlich – ausführliche Briefe zu senden, so daß wir doch bis zu einem gewissen Grade Deine Erlebnisse verfolgen können. Ich sollte auch meinen, Du selber müßtest das Bedürfnis haben, eine innige Verbindung mit Deinem Elternhause zu bewahren. Aber ich entschuldige Dich vorläufig damit, daß die neuen, bewegten Verhältnisse zu Anfang Deine Zeit wohl ungewöhnlich mit Beschlag belegt haben. Heute liegt mir allerlei im Sinn, worüber ich gern mit Dir reden möchte.

Erstens bin ich nicht ganz damit einverstanden, daß Du bei Professor Höffding belegt hast. Freilich habe ich mir erzählen lassen, daß Professor Höffding eine sympathische Persönlichkeit sein soll, wie ich ihm seine wissenschaftlichen Verdienste ja auch keineswegs abstreiten will, aber man darf doch niemals vergessen, daß er zu wiederholten Malen, und zwar in ganz herausfordernder Weise, im Lager der Gottesleugner aufgetreten ist, so z. B. bei jener Lucifer-Orgie für Georg Brandes. Ich meinesteils finde es sehr liberal von der Regierung, daß sie ihm nicht einen Denkzettel für diese, milde gesprochen, unpassende Demonstration erteilte. Doch dies läßt sich wohl daraus erklären, daß unser neuer Kultusminister damals noch von dem übertriebenen Liberalismus seines Vorgängers beeinflußt war. Das weiß ich, aber ich würde mich bestens bedanken, mich von einem Manne unterrichten zu lassen, der an der Huldigung für Georg Brandes teilgenommen hat; vorausgesetzt natürlich, daß die Möglichkeit, dies zu vermeiden, vorhanden ist.

Nun kenne ich ja freilich Professor Kromanns Stellung zum Christentum nicht, aber ich habe durch die Lektüre seiner Schriften, in denen viel Gesundes und Richtiges enthalten ist, einen ganz ansprechenden Eindruck von ihm gewonnen; jedenfalls hat er sich doch nicht kompromittiert. Ich stelle es Dir deswegen anheim, ob Du nicht jetzt noch die Kromannschen Vorlesungen mit den Höffdingschen vertauschen willst. Doch mußt Du das natürlich nicht in einer irgendwie anstößigen Weise tun. Ich überlasse es also Deinem eigenen Fürgutbefinden. Auch die Rücksicht auf das Examen darfst Du ja nicht außer Augen lassen, und hier kann es von Bedeutung sein, ob Herr Professor Höffding bereits Gelegenheit gehabt hat, mit Dir zu sprechen und Interesse für Dich zu fassen.

Ich komme jetzt zum zweiten Punkt. Gestern hatte ich einen Brief von Tante Kathinka. Sie erzählte allerlei Interessantes aus der Familie – unter anderm, daß die jungen Leute in Svendborg viel gekränkelt haben –, aber ich müßte mich sehr irren, wenn der Brief nicht eigentlich Deinetwegen geschrieben war. Sie gab ihrer Freude darüber Ausdruck, daß sie Gelegenheit habe, Dir während Deiner Studienzeit hilfreich beizustehen, und sie sprach in sehr freundlichen, liebevollen Worten von Dir. Zuletzt aber kam, ganz en passant, eine kleine Bemerkung, daß sie am Montag nicht das Vergnügen gehabt hätten, Dich zu Mittag bei sich zu sehen, da Du im letzten Augenblick hättest absagen lassen. Mein lieber Emil, ich glaube durchaus nicht, daß Tante Kathinka, die ja so gut und so freundlich ist, Dir eine beleidigte Miene zeigen wird, aber Du wirst begreifen, daß es mir und der Mutter höchst unangenehm ist, wenn Du der Familie, die durch ihre Gastfreiheit so wesentlich zu Deinem Unterhalt beiträgt, nicht die nötige Rücksicht erweist. Und rücksichtsvoll ist es nicht, im letzten Augenblick absagen zu lassen. Ich kann auch wirklich nicht begreifen, was Dich so plötzlich hat verhindern können, zum Essen zu Deiner Tante zu gehen? Jedenfalls mußt Du dafür sorgen, daß sich dergleichen nicht wiederholt.

Da ist ja noch allerlei, worüber ich gern mit Dir gesprochen hätte, unter anderem hätte ich gelegentlich gern recht bald ein Schema, aus dem ich ersehen kann, wie Du Deinen Tag anwendest.

Ich muß aber jetzt schließen, da ich zur Lehrerkonferenz muß. Wir haben eine unangenehme Sache mit Petersen gehabt, der einem jungen Menschen aus der Sekunda eine allerdings wohlverdiente, aber ziemlich gründliche Züchtigung hat angedeihen lassen.

Über Stadtneuigkeiten wird Deine Schwester Dir gleichzeitig mit meinem Schreiben berichten. Gestern wurden wir durch den Besuch von Emilie Schmidt, der Tochter des Modewarenhändlers, überrascht. Das verwunderte uns, da sie sonst nicht hier im Hause verkehrt. Ich finde sie eigentlich gar nicht so übel, Mutter findet sie freilich zu kokett. Sie erkundigte sich mit großem Interesse nach Dir und sagte, daß ihre Eltern ihr versprochen hätten, in der Weihnachtszeit einen Ball zu geben. Sie hoffte, daß Du dann auch kommen würdest. Und nun Lebwohl! Herzliche Grüße von uns allen. Dein treuer Vater.

IX

Kopenhagen, den 17. September.

Lieber Vater!

Herzlichen Dank für Deinen Brief. Zuerst will ich Deine beiden Klagepunkte beantworten. Wenn ich Professor Höffdings Auditorium wählte, so geschah das, teils weil die Zeit, in der er seine Vorlesungen hält, mir am bequemsten liegt, teils weil die meisten meiner Bekannten ihn hören. Ich bin auch wirklich nicht der Meinung, daß man bei der Wahl seiner Professoren Rücksicht auf ihren religiösen Standpunkt nehmen kann. Wenn die Studenten es sich zur Regel machen wollten, nur die orthodoxen Universitätslehrer zu hören, so fürchte ich, daß sie mit Ausnahme der theologischen Fakultät keine große Auswahl haben würden. Es läßt sich nämlich nicht leugnen, je mehr man in die Verhältnisse eindringt, je klarer wird es einem, wie wenig kirchlich gesinnt die Menschen hier durchgehends sind. Wenn auch die meisten nicht gerade ausgesprochene Freigeister sind, so sind sie doch ziemlich gleichgültig und machen auch gar kein Hehl daraus. Ich könnte Dir mehrere von den Stützen der konservativen Partei nennen, die in Wirklichkeit auf religiösem Gebiet ebenso radikal sind wie die sogenannten »Europäer«.

Du würdest Dich über die Äußerungen gewundert haben, die in der Beziehung vorgestern auf dem Diner bei Konferenzrat Svane fielen. Überhaupt bekommt man einen ganz verkehrten Eindruck von den Stimmungen, die sich in den Kopenhagener konservativen Kreisen regen, wenn man die konservativen Blätter liest. Von einer Begeisterung ist bei den Konservativen hier in der Stadt nicht die Rede. Die meisten sprechen sich halb mißvergnügt, halb spottend über die Ereignisse aus, und ich habe bemerkt, daß viele, selbst solche, von denen man es am allerwenigsten glauben sollte, eine gewisse Sympathie, oder wenigstens doch einen gewissen Respekt vor den Männern haben, die wir in H. ganz ohne weiteres zu verdammen pflegen. Und Du mußt nicht glauben, daß ich das alles aus einzelnen, zufälligen Äußerungen schließe. Im Studentenverein fiel es mir sofort auf, daß ein so geringes Interesse für das vorhanden war, was die konservativen Zeitungen schreiben, während hingegen alle die radikalen Blätter verschlangen und diskutierten, sie amüsant fanden und ihnen oft recht gaben. Es läßt sich nun auch wirklich nicht leugnen, wenn man Gelegenheit zum Vergleichen hat, daß in der radikalen Presse weit mehr Leben und Bewegung ist, und daß dort mit größerem Talent geschrieben wird. Dasselbe sagte auch Etatsrat Bang, der auf dem Diner bei Svanes war. Er sagte, es sei betrübend, den Rückgang zu beobachten, in dem sich die konservative Presse befinde. – –

Natürlich tut es mir leid, wenn ich Tante Kathinka verletzt haben sollte, indem ich zu Mittag bei ihr absagen ließ, aber ich kann wirklich nicht einsehen, daß ich da etwas so Fürchterliches getan habe. Sowohl sie als auch die übrigen von den Verwandten haben mir gesagt, daß es mir selbstredend freistünde, fortzubleiben, wenn ich in irgendeiner Weise verhindert sein sollte, und es ist ja nicht allemal so leicht für mich, die verschiedenen Speisestunden innezuhalten, da ich jetzt allmählich schon ziemlich viel zu tun habe. Du wünschest ein Schema über die Anwendung meiner Zeit. Ich unterrichte also täglich zwei Stunden in meiner Schule, habe durchschnittlich ein bis zwei Stunden Vorlesungen und rechne außerdem täglich eine Stunde zum Abschreiben und Durchsehen meiner Kollegienhefte. Dazu kommt dann das Mittagessen, das mindestens drei Stunden erfordert, wenn ich die langen Wege hin und zurück mitrechne, und ich kann doch auch nicht sofort gehen, wenn ich mich satt gegessen habe. – Etwas Zeit will ich doch natürlich auch gern zum Verkehr mit den Kommilitonen haben, und gerade in diesen Tagen bin ich im Begriff, zusammen mit Hahn einen Diskussionsklub für die Jungen im Verein zu gründen. Hahn hat die Idee gehabt, aber er hat mich gebeten, gemeinsam mit ihm die Aufforderungen ergehen zu lassen, und er will mich auch gern in den Vorstand haben. – Du siehst also, daß meine Zeit nach verschiedenen Richtungen hin sehr in Anspruch genommen ist. Das Diner bei Svanes war außerordentlich fein. Wir fingen mit Austern an, und es wurde eine Menge Champagner getrunken. Ich führte die jüngste Tochter des Hauses zu Tisch, sie ist sehr hübsch und ein äußerst natürliches, junges Mädchen. Ich habe mich brillant amüsiert.

Am Abend gingen einige der Herren ins Tivoli, wo der junge Svane im »Basar« ein Souper gab.

Doch jetzt will ich schließen. Ich muß zu Hahn, wo wir Versammlung haben. Herzliche Grüße an alle!

Dein Dich liebender Sohn
Emil.

X

Den 17. September

Meine geliebte kleine Mis!

Ich habe Dir allerdings versprochen, Dir heute zu schreiben, damit Du meinen Brief am Sonntag morgen haben kannst, aber Du mußt Dich mit einigen flüchtigen Zeilen begnügen, denn ich bin ein wenig müde und nicht recht zum Schreiben aufgelegt. Ich habe in diesen Tagen so viel zu tun gehabt.

Also das Diner bei Svanes! Vor allen Dingen mußt Du wissen, daß ich doch als flotter Kavalier auftrat. Bei einer genaueren Untersuchung meines Gesellschaftsanzuges fand ich nämlich, daß derselbe äußerst wenig präsentabel war und entschloß mich deswegen, mir einen neuen Anzug zu kaufen. Ich gabelte mir einen Schneider auf, der dafür bekannt ist, daß er Studenten lange pumpt. Er verbeugte sich ehrerbietigst vor mir und sagte, daß es ihm ein Vergnügen sein würde, für mich zu arbeiten. Mit der Bezahlung habe es gar keine Eile! Du kannst mir glauben, daß ich fein wurde. Der Frack ist nach der neuesten Mode mit großen seidenen Aufschlägen.

Von Hahn lieh ich einen Chapeau claque, und so nach jeder Richtung hin aufs feinste ausgerüstet, hielt ich meinen Einzug in das Svanesche Haus. Die Eleganz hättest Du sehen sollen! Namentlich das Boudoir der Frau Konferenzrat ist ganz entzückend: gelber Atlas mit gestickten Blumen. Die Toiletten der Damen waren prachtvoll, meine Tischdame, Fräulein Lilly Svane, 17 Jahre alt, war in hellgrüner Seide mit Flor, große Puffärmel und ausgeschnitten. Sie ist das entzückendste Geschöpf, das man sich denken kann: ein feines, bleiches, beinahe marmorartiges Gesicht mit großen, schwarzen Augen und schwarzem Haar, das in der Mitte gescheitelt, glatt an den Schläfen herabgestrichen ist. Sie gleicht einem alten Gemälde. Übrigens glaube ich nicht, daß sie zu den Klügsten gehört. Sie war sehr munter und liebenswürdig, aber eine wirklich ernste Unterhaltung könnte man gewiß nicht mit ihr führen.

Anfänglich war das Ganze ziemlich steif. Aber allmählich, als wir erst gegessen und getrunken hatten, wurde die Stimmung höchst animiert. Es fiel mir auf, daß die Kopenhagener Damen viel mehr Wein trinken als die Damen bei uns zu Hause. Und alle die feinen alten Herren tranken wie wahre Schläuche. (Die Gewöhnlichsten mit Ausnahme meiner Wenigkeit und zwei anderer Studenten waren Etatsräte!) Du hast keinen Begriff davon, wie lustig es nach Tische im Rauchzimmer herging. Da war ein alter Kommandeur, der Geschichten aus »überseeischen Häfen« erzählte; die sind nicht zu wiederholen! Und von Zeit zu Zeit kamen einige der Damen aus dem Damenrauchkabinett zu uns herüber. (Ungefähr alle Damen rauchten!) Sie wollten durchaus die Geschichten des Kommandeurs hören, aber das ging denn doch nicht an.

Kurz wir endigten schließlich – wir jungen Herren und ein paar von den Älteren – draußen im Tivoli. Vorher aber waren wir in einem Tingeltangel, »der Sarg« genannt, und hörten einige Sängerinnen singen. Offen gestanden, hat mich das gar nicht amüsiert. Ich fand es roh und plump. Überhaupt weiß ich doch nicht so recht, ob mir der Ton gefällt, der bei dieser Nachfeier im Tivoli herrschte. Auf die Dauer würde er mir wenigstens nicht zusagen. Aber es ist ja ganz amüsant, so etwas einmal mitgemacht zu haben. – Wir kamen entsetzlich spät nach Hause.

Aber das kannst Du mir glauben, die ganze Zeit bei Tische und auch hinterher dachte ich an Dich. Du bist doch das Allerbeste auf Erden, und Du mußt mich nicht fallen lassen, selbst wenn Du hin und wieder einmal findest, daß ich etwas leichtsinnig bin. Hörst Du, meine süße kleine Mis, Du mußt mich immer lieb behalten! Denn ich liebe Dich so innig. Und ich sende Dir tausend Küsse.

Dein Emil.

XI

Sölvgade 43 II über den Hof,
den 17. Sept.

Geehrter Herr Student!

Ich weiß nicht, ob Sie sich unserer Verabredung vom Tivoli am Donnerstag abend erinnern, als ich bei Pierrot mit Ihnen sprach. Wenn Sie es vergessen haben, so schicken Sie mir eine Absage nach Adam, postlagernd. Sonst erwarte ich Sie morgen abend um sieben Uhr auf dem Frauenplatz.

Mit freundlichem Gruß
Amalie.

XII

Frederiksholmskanal, den 21. Sept.

Lieber Holm!

Ich achte Ihre Tugend. Bewahren Sie sich nur die Unverderbtheit Ihres Herzens, so lange Sie darin Trost und Linderung finden, erlauben Sie mir dafür aber auch, meine Untugend zu bewahren. Unsern freundschaftlichen Gefühlen wird diese unsere Verschiedenheit keinen Abbruch tun. Ich huldige, wie Sie wissen, bis zum äußersten der Anschauung, daß sich ein jeder nach Gefallen die Moral wählen kann, die ihm am besten gefällt. Ich halte große Stücke auf Sie, nicht, weil Sie ein keuscher Joseph sind, sondern weil Sie – trotzdem – Hebenswürdig und brav sind, dazu gut begabt und ein verteufelt energischer Kerl, der es sicherlich zu etwas mehr bringen wird, als unsere gewöhnlichen Dutzendstudenten, die das nochmals wiederkäuen, was unsre Schulmeister-Professoren ihnen vorgekaut haben, und die gesenkten Hauptes und mit schäbigen Examensgedanken durch die Pforte der Universität schleichen.

Halten Sie in Gottes Namen Ihre auf Grund sorgfältiger Studien von Dumas Fils und Martensens Ethik ausgearbeiteten Vorträge über die öffentliche Prostitution und die moderne Demoralisation in dem von Ihnen und von Hahn gestifteten Studenten-Missionsverein, verlangen Sie aber, bitte, nicht, daß ich und andere glückliche Gottlose, die der Bekehrung nicht bedürfen, so etwas ernsthaft auffassen sollen. – Sie sind den Jahren nach nur wenig jünger als ich, in bezug auf Welterfahrung aber sind Sie – verzeihen Sie – ein wahres Kind.

Wir waren gestern beide reichlich hitzig. Ich meinerseits bereue es. Ich bereue nämlich, daß ich über Ihr Verhältnis zu dem kleinen Mädchen, mit dem Sie in einem leichtsinnigen Moment eine Bekanntschaft anknüpften, gespottet habe. Bei eingehenderem Nachdenken über das, was Sie mir erzählten, erscheint mir die ganze Geschichte hübsch und rührend. Vielleicht haben Sie recht, und Fräulein Amalie ist noch eine unverdorbene Seele, und da Sie selber ebenfalls noch unverdorben sind, so verstehe ich Ihre gefühlvollen Bedenken, dem kleinen Vöglein gegenüber, das Sie eingefangen haben, wie auch Ihre idealen Pläne, in ein veredelndes Beschützerverhältnis zu ihr zu treten. Möchte sie Sie nur zu schätzen wissen. Ich kenne sie ja nicht, aber ich könnte mir doch denken, daß sie eigentlich etwas anderes von Ihnen erwartet hat, und daß sie es auf die Dauer nicht amüsant finden möchte, veredelt zu werden, sondern einem weniger feinfühligen Ritter den Vorzug geben würde. – –

Im übrigen wiederhole ich es: ich verstehe, daß Sie von Ihren Voraussetzungen aus so denken und handeln, wie Sie es tun. Auch ich bin einmal sehr jung und sehr leichtgläubig gewesen, und ich entsinne mich aus meinem 17. Lebensjahr einer kleinen Nähterin, die die Geliebte meiner Träume war, die ich in wachem Zustand aber immer in einer Entfernung von drei Schritt und in den ehrerbietigsten Worten anbetete. Das war schön, das war sehr schön und poetisch – bis ich eines Abends, als ich kam, um sie zu einer Tasse Tee und Butterbrot im Esplanadenpavillon abzuholen, sie in einem unbestreitbar zärtlichen Tete-a-tete mit einem Großhändler antraf, der durchaus nicht nach einem Teetrinker aussah. Seit jenem unvergeßlich peinlichen Abend habe ich darauf verzichtet, die Erotik in der Reinkultur der Traumwelt zu züchten, und ich habe meine Geliebten seither nie wieder zu einer Tasse Tee in den Esplanadenpavillon eingeladen. –

Dies schreibe ich nicht, um Sie in bezug auf Ihre Amalie zu entnüchtern, sondern um Ihnen begreiflich zu machen, daß ich nicht ohne alle Voraussetzungen bin, um Sie verstehen und mit Ihrem Fall sympathisieren zu können.

Ich will nun aufrichtig wünschen, daß Sie jetzt durch Ihre Mißstimmung mir gegenüber einen Strich machen möchten. Ich lege, wie gesagt, großen Wert auf Ihre Freundschaft, und ich hoffe, daß Sie das gefühlt haben werden. Aber ich weiß natürlich sehr gut, daß wohlwollende Seelen ihr möglichstes tun, um Sie gegen mich aufzuhetzen. Ich kenne aus alter Erfahrung die flachschädeligen, freisinnigen, kriechenden, strebenden Studenten, deren verhungert ehrgeiziges Sinnbild Hahn ist. Es ist dies eine Kompagnie, die in sicherem Marsch vorrückt, um das armselige Fett aufzufangen, das von den besten geistlichen, juristischen und philologischen Ämtern herabtropft. Diese Kompagnie haßt Leute wie mich und meinesgleichen, weil wir ihren ernsten Broterwerbbestrebungen nicht die nötige Andacht entgegenbringen. Sie nennen uns blasiert, giftig, demoralisierend, weil wir, statt sie zu bewundern, uns über ihr krampfhaftes Schlagen mit den Flügeln der Idealität lustig machen. Es ärgert sie, daß wir sie durchschaut haben. Es verletzt ihre Eitelkeit, daß sie uns nicht imponieren können, und es verstimmt sie, daß wir nicht gemeinsame Sache mit ihnen machen wollen.

Ich weiß, lieber Holm, daß Hahn gehofft hat, in Ihnen einen getreuen Bundesgenossen zu finden, einen zuverlässigen Mitverschworenen, einen tüchtigen Flügelschläger in seinem Gänseflug über die heimischen Gefilde. Verzeihen Sie, daß ich jetzt etwas sage, was wie ein fauler Witz aussieht – deswegen kann er es nicht leiden, daß Sie Verkehr mit – Schwänen Svane bedeutet Schwan. pflegen.

Ich bin gottlob kein »Parteiführer«, und ich beabsichtige nicht, Sie für irgendein Korps zu werben. Ich werde es, weiß Gott, nicht versuchen, Sie Herrn Hahn und dessen menschenfreundlicher Wirksamkeit abspenstig zu machen. Ich finde es im Gegenteil höchst natürlich, daß Sie als junger Student Lust verspüren, mit dabei zu sein, wo sich scheinbar »Leben« und »Begeisterung« regen. Aber ich möchte gern die Erlaubnis haben, Ihr Freund zu sein.

Lieber Holm, dies wurde ein weit eingehenderer ernsterer Brief, als ich beabsichtigt hatte. Ich wollte Ihnen eigentlich vorschlagen, ob wir nicht in Zukunft etwas weniger feierlich miteinander verkehren wollten. Sie werden vielleicht finden, daß feierlich ein Wort ist, das nicht auf mich paßt. Wohlan denn, sagen wir also, daß Sie in Zukunft mich und meine Neckereien nicht allzu feierlich nehmen dürfen.

Und, vorausgesetzt, daß Sie hierin mit mir übereinstimmen, mache ich Ihnen folgenden Vorschlag. Zur Entgeltung für die Hochmesse, die Sie mir gestern abend gehalten haben, lade ich Sie zu morgen zu einer kleinen Abendandacht ein. Ich beabsichtige nämlich, morgen abend ein besseres Souper im Konzertpalais einzunehmen. Die Gesellschaft besteht – außer mir und hoffentlich Ihnen – nur aus Fräulein Toinette. Ich hoffe, die Aussicht, diese vielbesprochene Dame anzutreffen, wird Sie nicht abschrecken. Ich garantiere, daß sie tadellos in ihrem Benehmen ist, und da Sie ja nichts dagegen haben, »das Leben zu studieren«, werden Sie nur Nutzen davon haben, dies Stück »Leben« zu sehen. Sie ihrerseits hat den brennenden Wunsch geäußert, Sie kennen zu lernen. Sie hat Sie auf der Straße zusammen mit mir gesehen und findet Sie »reizend« und »schrecklich interessant«. Also, – seien Sie liebenswürdig – morgen abend neun Uhr im Konzertpalais. Bitte in Frack und schwarzem Schlips.

Ihr
William Svane.

XIII

Den 26. September.

Herr Studiosus Holm!

Auf den ausdrücklichen Wunsch meiner Eltern ersuche ich Sie, die Zusammenkünfte mit meiner Schwester Amalie einzustellen und nicht öfter mit ihr spazieren zu gehen, besonders am Abend. Mein Vater sagt, wenn Sie ernste Absichten hätten, ließe er Sie bitten, zu uns zu kommen und zu fragen, ob sie mit Ihnen gehen darf, und dann will mein Vater selber mit Ihnen reden. Denn sie hat nichts als ihren guten Namen und es kann leicht einen Flecken auf Vaters fleckenlosen Namen machen, wenn seine Tochter des Abends mit einem fremden Herrn ausgeht, von dem sie traktiert wird. Sie darf nicht wieder mit Ihnen gehen, wenn Sie nicht in unsere Wohnung kommen, die Sölvgade 43 II über den Hof ist. Im Namen meiner Eltern

Mit Achtung
Amalies Schwester.

XIV

Sölvgade 43 II, über den Hof.
Montag

Lieber Freund!

Kehren Sie sich nicht an den Brief meiner Schwester Mathea, Mathea ist neidisch, weil ich Ihre Bekanntschaft gemacht habe, und weil Sie ein so feiner und studierter Herr sind und sie solchen nicht kennt. Aber sie hat es meinen Eltern ausgeplaudert, und mein Vater, der sehr heftig ist, rief mich zu sich und überhäufte mich mit Schimpfworten und Schlägen. Aber mir ist es ganz egal, ob er mich schlägt, denn ich habe Sie so lieb, und Sie sind so gut gegen mich gewesen, und ich habe so viele schöne und tiefe Dinge von Ihnen gelernt, die einem so viel zu denken geben.

Aber Sie müssen mir versprechen, daß Sie nicht wieder so gegen mich sein wollen wie das letztemal. Denn dann kann ich nicht mit Ihnen zusammen sein, denn es ist nicht hübsch, so zu sein, wie Sie es waren, selbst wenn Sie schwedischen Punsch getrunken hatten und sagten, daß Sie mich wirklich lieb hätten. Und in dem Buch, das Sie mir zu lesen gaben, und über das ich geweint habe, weil es so hübsch ist und alles so traurig beschrieben wird, sagt die feine Dame auch, daß die Herren nur ihren Willen haben wollen und hinterher diejenigen verachten, die ihnen alles geopfert haben. Aber weil man ein gewöhnliches Mädchen ist, kann man darum doch ganz gut ein anständiges Mädchen sein, und ich bitte Sie so herzlich, daß Sie gut zu mir sein mögen. Denn wenn die Sache mit mir schief ginge, und mein Vater entdeckte es, was sollte da wohl aus mir werden?

Nun müssen Sie, lieber Herr Holm, nicht böse auf mich sein, weil ich so eindringlich an Sie schreibe, und ich würde sehr betrübt sein, wenn Sie böse auf mich würden. Da ist außer Ihnen niemand in der ganzen Welt, aus dem ich mir etwas mache, und ich will alles tun, was Sie verlangen, denn niemand ist so gut gegen mich gewesen wie Sie. Und jeden Abend liege ich lange wach und denke an all das, was Sie mir erzählt haben, und über Nacht träumte ich, wir führen zusammen in einem Wagen mit zwei Pferden, und Sie reichten mir ein Bukett. Aber als ich erwachte, hatte ich die Veilchen in der Hand, die Sie mir das letztemal gaben, und ich fand, daß es ein schöner Traum war, und ich bin seitdem in so glücklicher Stimmung gewesen und habe mir nichts aus Matheas Bosheit und Vaters Zorn gemacht.

Und nun bitte ich Sie schließlich, meine lange Rede zu entschuldigen und so freundlich zu sein, mich morgen abend zwischen sieben und acht da zu treffen, wo wir uns zuletzt getroffen haben. In der Hoffnung, daß Sie versuchen werden, mir diesen meinen kleinen und ersten Wunsch zu erfüllen, schließe ich meinen Brief mit der Bitte, daß es Ihnen recht gut gehen möge.

Viele herzliche Grüße von

Ihrer aufrichtigen Freundin
Amalie.

XV

H., den 27. September.

Mein lieber, guter Junge!

Was kann Dir nur einmal zugestoßen sein? Weshalb haben wir so lange auch nicht ein einziges Wort von Dir gehört? Ich gehe in Todesängsten umher und male mir die schrecklichsten Begebenheiten aus. Du bist doch wohl nicht krank? Denn in dem Fall hättest Du doch Frau Petersen bitten müssen, uns zu benachrichtigen. Wenn aber nichts Schlimmes vorliegt, so ist es wirklich ein großes Unrecht von Dir, uns in eine solche Unruhe zu versetzen. Und ich will Dir nur sagen, daß Dein Vater sehr böse ist, und ich will auch nicht leugnen, daß ich ihm diesmal durchaus recht geben muß.

Ich hatte so sicher darauf gerechnet, daß wir doch wenigstens gestern einen Brief bekommen würden. Jeden Tag sagte ich zu Deinen Eltern: Ihr sollt sehen, er wartet mit dem Schreiben, bis das Fest im Studentenverein überstanden ist, dann bekommen wir sicher einen langen, interessanten Brief von dem lieben Jungen. Wer aber keinen Brief sandte, weder einen langen noch einen kurzen, das war der liebe Junge.

Mein lieber Emil, Du weißt, wie genau Dein Vater es mit dergleichen Dingen nimmt. Er hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß Du zweimal wöchentlich nach Hause schreiben sollst, und zwar nicht nur um Dir einen Zwang aufzuerlegen, denn ich kann Dir die Versicherung geben, daß er sich förmlich nach Deinen Briefen sehnt und mit dem größten Interesse alles genießt, was Du aus der Hauptstadt berichtest. Deshalb finde ich denn auch, daß Du ihm die Freude machen und den Termin mit den Briefen regelmäßig innehalten solltest, soweit Dir das möglich ist, und bist Du hin und wieder einmal nicht so recht aufgelegt, oder ist Deine Zeit knapp bemessen, so könntest Du ja nur ein paar Zeilen schreiben. Aber es ist so entsetzlich, wenn Du plötzlich ganz verstummst, und wir gar nicht wissen, ob Du noch am Leben bist, oder ob Du schon unter den Toten weilst.

Werde nur nicht böse, weil ich Dir meine Ansicht so unumwunden ausspreche. Ich möchte Dich ja so ungern quälen, und wenn es nur um meiner selbst willen wäre, würde ich wahrhaftig kein Wort sagen. Aber ich kann es nun einmal nicht gut anhören, wenn Dein Vater auf Dich schilt, und es tut mir so weh, Du weißt ja, wie töricht und nervös ich bin.

Mein lieber Emil, da ist doch wohl nichts Besonderes, was Dich bedrückt, und was Du Deinen Eltern ungern anvertrauen möchtest? Das ist nur so ein Gedanke, der mir in den letzten Tagen gekommen ist, und da fiel es mir ein, daß Du doch vielleicht Deiner alten Tante Dein Herz ausschütten würdest, und daß ich Dir auf irgendeine Weise helfen oder nützen könnte. Ja, ich denke an nichts Schlimmes, aber vielleicht ist da etwas, von dem Du meinst, daß es Deinen Eltern nicht lieb sein würde. Von mir, das weißt Du, hast Du keine Vorwürfe zu erwarten; ich werde mich stets bemühen, Dich zu verstehen und mich in Deinen Gedankengang hinein zu versetzen, und ich glaube im Grunde, daß ich wunderbarerweise die Jungen besser verstehe, als z. B. Dein Vater. Und Deine liebe Mutter ist ja stets derselben Ansicht wie er, was ja auch natürlich ebenso richtig wie hübsch ist.

Ja, und nun will ich Dich mit weiterem verschonen. Sei Du nun aber so gut und schiebe den Brief an Deinen Vater, falls Du nicht bereits geschrieben hast, nicht länger hinaus. Du solltest nur ahnen, wie ich mich danach sehne, Dein liebes Gesicht zu sehen.

Vergiß nicht ganz in der großen Stadt

Deine treue Tante
Meta.

P.S. Das ist ja wahr! Ich versprach, Dir einen Gruß zu bestellen. Kannst Du raten, von wem? Von dem kleinen Fräulein Emilie Schmidt. Du mußt nämlich wissen, daß sie und ich sehr gute Freundinnen geworden sind. Sie ist so aufmerksam gegen mich und hat mich in den letzten Wochen verschiedentlich auf meinem Zimmer besucht. Ob Dir in dieser Zeit die Ohren nicht oft geklungen haben? Du kannst überzeugt sein, Du wirst nicht schlecht gemacht, wenn sie und ich von Dir reden. Sie ist ein ungewöhnlich anziehendes; junges Mädchen, nur könnte sie ein wenig ruhiger und beherrschter sein. Und dann ist sie voller Fürsorge! Neulich brachte sie mir ein wunderschönes, schwarzes, filiertes Tuch um den Kopf zu binden aus dem Laden ihres Vaters mit, sie meinte, ich könnte es jetzt zum Winter gut gebrauchen, wenn ich über die kalten Gänge gehen müßte.

Deine Tante.

XVI

Kopenhagen, den 4. Oktober.

Liebste Emilie!

Ich weiß, daß dieser Brief Dir großen Kummer bereiten wird, und deswegen habe ich mich auch viele Tage gesträubt, ihn zu schreiben. Aber es mußte geschehen, sowohl Deinet- wie auch meinetwegen.

Du fragtest mich in Deinem letzten Brief: fehlt Dir etwas? Drückt und quält Dich irgend etwas? – Und Du meintest, es könnten Geldsorgen sein.

Ach ja, Emilie, Geldsorgen habe ich allerdings auch – es ist unglaublich, wie schnell einem hier in der Hauptstadt das Geld unter den Händen weggleitet –, aber wenn es nichts weiter wäre! Ach nein, bei mir ist alles aus dem Gleichgewicht geraten. Mein Sinn ist von widerstrebenden Gefühlen erfüllt, ich bin gleichsam der Spielball einer Menge starker Mächte, von denen eine jede mich an sich zu reißen sucht. Sie locken und ziehen, sie rufen mit alten Erinnerungen und neuen Gedanken, sie schreien alle durcheinander, – ich lausche, ich frage, ich forsche; aber ich kann mir nicht klar darüber werden. Ich weiß nur, daß meine Seele in Not ist, und daß ich mich so schwach und hilflos fühle. Ach, mein Gott, wie ist es schwer zu leben, und wie beschwerlich ist es, sich aufrecht zu halten, wenn man jung hierher kommt, wo die Brandung hochgeht und die Wellen sich brechen.

Ja, Emilie, das Geständnis, das ich Dir zu machen habe, ist, daß ich nicht mehr aus noch ein weiß. Ich weiß nicht, ob ich den Glauben an Gott über Bord geworfen habe, oder ob ich ihn gerade fanatisch suche; ich weiß nicht, ob alles das, was ich bisher für gut gehalten habe, schlecht ist, und ob die Wahrheit dort zu suchen ist, wo ich bisher glaubte, daß die Lüge wohnte. Ist das, was man Moral nennt, nicht gerade eine Verzerrung der Naturgesetze, und sind die Naturgesetze anders als die Gesetze Gottes und der Moral? Was ist schwarz und was ist weiß? Ich weiß es nicht mehr. Ich zweifle an allem, selbst an meiner Liebe zu Dir zweifle ich. Ja, weine nicht, sondern höre mich geduldig bis zu Ende an, versuche, mich zu verstehen, – aber, wie könntest Du das wohl, verstehe ich mich doch selber nicht! Kannst Du mir aber helfen, dann tue es. Kannst Du sanft die Angst und die Verzweiflung von meiner Stirn streichen, da will ich Dich anbeten wie meinen guten Engel. Ach nein! Das kannst Du nicht! Und darum will ich Dich auch gar nicht bitten.

Als Sünder liege ich vor Dir. Mein Herz, das ich Dir zum Tempel geweiht hatte, – das ist von schwerer Sünde besudelt. Ja, ich bin Dir untreu gewesen, in Gedanken wie in der Tat. Und das entsetzlichste dabei ist, daß ich nicht einmal weiß, ob ich Reue darüber empfinde. Ich will, daß Du jetzt die ganze Wahrheit hören sollst, dann kannst Du mich, wenn Du willst, deswegen hassen und verachten. Emilie, ich habe über meine Treulosigkeit gegen Dich gejubelt! Ich habe mich stolz gefühlt über die Sünde, die ich beging, es war mir, als habe ich nie zuvor gelebt, als sei ich niemals ein Mann gewesen, hätte niemals die Fähigkeiten des Mannes genossen. Hinterher aber habe ich das alles als elende Schwäche bereut und habe geschworen, es nie wieder zu tun, und wenige Stunden später habe ich reuelos meinen Eidschwur gebrochen.

Wenn ich ganz allein in meinem Zimmer sitze und an alte Zeiten und alles das zurückdenke, was ich als Kind und Jüngling gehört und gelernt habe, und wenn ich Dich vor mir sehe und alle die Lieben daheim, – da krümmt sich mir das Herz zusammen, bleiche, strenge Gesichter steigen vor mir auf und weiße Hände erheben sich verwünschend über mir. Komme ich aber auf die Straße hinaus, in das Treiben und den Tumult der großen Stadt, zwischen alle die vielen Menschen, die laut reden und lachen, und die alle so fröhlich und rücksichtslos das Leben zu genießen scheinen, da geht augenblicklich eine Verwandlung mit mir vor. All das Dunkle, Schwere hebt sich wie ein Nebel von meinem Sinn, und in mir ist alles lichter Mut und singender Jubel. Du bist ja jung – sagt eine Stimme in mir –, du bist jung, du hast Fähigkeiten und Kräfte, und die Welt liegt offen vor dir. Weshalb willst du dich durch Kinderstubendrohungen und Schulstubenangst einschüchtern lassen? Gott oder der schöpferische Wille, der die Welt gemacht hat, hat auch für dich des Lebens Tisch reich gedeckt, so wie für alle. So sei doch kein Tor, greif mit beiden Händen zu! Lebe und genieße!

Im Kreis der Freunde aber regt sich wieder der Zweifel und die Angst. Die Sicherheit, mit der sie sich aussprechen, macht mich beschämt, läßt mich verstummen. Sie wissen alles so ganz genau und haben für jegliches gleich eine Deutung bei der Hand. Ist denn das Leben so leicht zu begreifen, und die Wahrheit für alle andern als für mich so mühelos zu finden? Bin ich dümmer als sie? Weshalb liegt für mich nicht alles so klipp und klar da? Oder ist es nur eine Maske, die sie vorbinden? Sind sie in Wirklichkeit ebenso unsicher, ebenso ängstlich wie ich und suchen nur ihren wirklichen Zustand zu verbergen? Denn auch ich gestehe ja nicht ein, wie es mit mir beschaffen ist. Ich widerspreche ihnen nicht, ich schweige nur und lausche, ob nicht einmal ein Wort fällt, das mir Aufklärung bringen könnte.

Jetzt weißt Du, was meine letzten Briefe so sonderbar gemacht hat, so kühl, wie Du schreibst. Das schlimmste für mich während dieser ganzen Zeit war, daß ich Dir schreiben mußte. Meine Briefe wurden oberflächlich, hastig, gleichgültig, weil ich alles, was mir wirklich im Sinn lag, vermeiden, darüber hinweggehen mußte. Ich wußte, daß ich Dich verlieren würde, wenn ich ein offenes Bekenntnis ablegte. Ich sah ja ein, daß Du Dich voller Abscheu von mir abwenden mußtest, sobald Du hörtest, wie ich Dich hintergangen, wie ich das Dir gegebene Wort gebrochen hatte. Und ich konnte Dich nicht aufgeben.

Aber jetzt habe ich auch nicht mehr den Mut, Dich zu behalten. Ich kann Dir nicht länger hinter Deinem Rücken treulos sein, und so ganz anders scheinen, wie ich in Wirklichkeit bin.

Ich habe großes Unrecht gegen Dich begangen. Wirst Du mir jemals verzeihen können? Du, meine kleine, süße, zärtliche Mis, glaube mir, daß ich, der ich nicht geweint habe, seit ich ein Kind war, während ich dies schreibe, die Augen voller Tränen habe. Ich sehe Deinen verwundert vorwurfsvollen Blick vor mir, und ich senke das Haupt.

Und trotzdem, – auch jetzt noch wird es mir schwer, Reue zu empfinden. Das heißt, ich bereue, daß ich Dich in mein Leben hineingebracht habe, aber ich weiß nicht, ob ich sonst etwas bereue. Wäre ich sicher, daß ich es täte, so würde ich zu Dir sagen: vergiß, was ich Dir angetan habe; verzeih mir, in Zukunft soll alles anders werden.

Jetzt sage ich das nicht, denn ich glaube, daß ich mein Versprechen brechen würde, nicht aus Schwäche allein, sondern auch weil ich mir über Gut und Böse nicht klar bin.

Hauptsächlich weil ich mir über mich selber so unklar bin, so tastend, so suchend, so erbärmlich im Streit mit mir selber, hauptsächlich deswegen kann ich Dich nicht halten. Du Hebe kleine, leichtbewegliche Mis, Du würdest zu sehr leiden, wenn Du an mich gefesselt wärest. Du bedarfst eines sichern Hafens. Mit mir vereint, würdest Du Dich stets in Gefahr fühlen.

Glaubst Du nicht, daß ich darin recht habe?

Schließlich bitte ich um Nachsicht mit diesem Brief, falls er Dir unklar und überspannt erscheinen sollte. Ich habe mich bemüht, ihn so ruhig wie möglich abzufassen, aber der Kopf brennt mir, und ich habe Fieber in den Gliedern. Es hat mich viel Kraft gekostet, ihn zu Ende zu schreiben. Und doch empfinde ich es jetzt als Erleichterung, daß ich es getan habe.

Dein Emil.

XVII

H., den 6. Oktober.

Nein, süßer Emil, wie hast Du mich doch durch Deinen letzten Brief erschreckt! Als ich die ersten Zeilen gelesen hatte, überkam mich ein derartiges Zittern, daß ich gar nicht mehr den Mut hatte, weiter zu lesen, um zu sehen, was für ein Kummer es war, von dem Du redest.

Ich will es Dir nur ganz offen sagen, – Emil, ich bin sehr böse auf Dich, weil Du mich so bange gemacht hast. Und natürlich ist es für mich ein großer Kummer, daß Du mir untreu gewesen bist, aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, so muß ich Dir gestehen, daß ich niemals so kindisch gewesen bin, zu erwarten, daß Du mir treu sein würdest. Ich freue mich, daß die Sache zwischen uns zur Sprache kommt, denn nun kann ich Dir doch meine Ansicht darüber sagen.

Ich weiß sehr wohl – ich habe davon gehört und gelesen –, daß es Euch Männern so schwer wird, tugendhaft zu sein.

Ihr seid gewiß schrecklich sinnlich, aber dafür könnt Ihr ja nichts. Und dann ist es gewiß nach jeder Richtung hin besser, wenn Ihr Euch amüsiert, so lange Ihr jung seid, denn sonst würde es ja doch nur über Eure Frauen hergehen. Du kennst doch Magna Lund, die sich mit Rektor Knudsen verheiratete, der jetzt Pfarrer in Jütland ist. Sie war in der ersten Zeit ihrer Ehe so schrecklich schwach und elend, und ich hörte, wie die Bürgermeisterin zu Mutter sagte, das käme nur daher, weil Knudsen vor seiner Verheiratung wie ein Mönch gelebt hätte. Damals verstand ich nicht, was sie meinte, seither aber habe ich über die Sache nachgedacht. Sie meinte natürlich, Knudsen sei Magna gegenüber so leidenschaftlich und zügellos, und sie hat ja auch jedes Jahr ein Band bekommen, und einmal sogar Zwillinge, – die Ärmste! Ich habe auch oft verheiratete Frauen sagen hören, sie wären froh, daß ihre Männer sich in ihrer Jugend ausgetobt hätten. Eines Abends im vorigen Winter, als bei uns Versammlung des Konfirmations-Bekleidungskomitees war, sprachen die Damen über diesen Punkt. Frau Holst, die Doktorsfrau, sagte, sie hätte nie und nimmer einen Mann genommen, der nicht ein wenig »gelebt« hätte, »denn es nützt alles nichts,« sagte sie, »so ein Tugendheld ist dumm und plump.« Darauf erwiderte die Propstin, es sei doch der Wille Gottes, daß sich die Männer ebenso wie die Frauen bis zur Ehe rein bewahren sollten, aber die Bürgermeisterin hielt es mit der Doktorin und sagte: »Alles Leugnen hilft nicht, die Herren, die in ihrer Jugend ein bißchen über die Stränge geschlagen haben, werden in der Regel die zuverlässigsten Ehegatten.«

Bei näherem Nachdenken hierüber – und ich habe natürlich viel daran gedacht, namentlich nachdem ich mich mit Dir verlobt hatte, bin ich dann zu folgendem Resultat gekommen: So wie Ihr Herren nun doch beschaffen seid, müßt Ihr Euch einmal in Eurem Leben austoben. Die meisten tun es in ihren jungen Jahren, was entschieden das beste ist, denn dann haben sie es überstanden, wenn sie sich verheiraten. Die andern aber werden entweder wie Knudsen, der Magna niemals in Frieden lassen konnte, oder auch, sie sind ihren Frauen untreu, was doch schrecklich traurig ist.

Hieraus ersiehst Du, daß Deine kleine Mis eine vernünftige kleine Person ist, und obwohl sie es abscheulich findet, daß Ihr Männer Euch nicht beherrschen könnt, so will sie Dir doch nicht zürnen, weil Du ebenso bist wie die anderen.

Dafür aber verlange ich, daß Du mir gegenüber ehrlich sein und mir alles erzählen sollst. Du weißt jetzt, daß ich ganz gut Bescheid weiß, wie sich alles verhält, deswegen kannst Du ganz ruhig mit mir darüber reden. Da ist namentlich eins, wovor ich so bange bin, und worauf Du mir sofort antworten mußt: Du küßt diese Art Damen doch wohl nicht? Das mußt Du auf keinen Fall tun, Emil, versprich mir das, gib mir Dein Ehrenwort darauf. Denn das würde mich sehr betrüben, und außerdem soll es so gefährlich sein, darüber habe ich einmal den Vater und den Apotheker reden hören.

Und noch eine Frage möchte ich beantwortet haben, Emil. Ist so etwas nicht sehr kostspielig, und woher bekommst Du das Geld dazu? Ich habe mir etwas ausgerechnet, aber es ist keine Rede davon, daß Du es zu wissen bekommst, ehe wir verheiratet sind. Etwas furchtbar Amüsantes, aber es nützt nichts, daß Du mich fragst. Denn ich kann es Dir nicht sagen, obgleich es zu amüsant ist! Nein, nun will ich nur lieber nichts mehr sagen, denn sonst ist das Ende vom Liede doch noch, daß ich es Dir erzähle!

Aber was Du im letzten Brief über Dein Verhältnis zu Gott schriebst, hat mich sehr erfreut. Ich ersehe daraus, was ich mir auch schon dachte, daß Du Deinen Glauben an Gott nicht ganz aufgegeben hast. Du leidest unter Zweifeln und Anfechtungen, aber das ist sehr gut; selbst ein Mann wie der Hilfsprediger gibt zu, daß es Augenblicke in seinem Leben gegeben hat, wo er zweifelte. Hinterher ist er dann aber doppelt glücklich gewesen.

Leider haben die Leute in letzter Zeit sehr viel über uns beide geredet. Ich kann nicht begreifen, woher die Gerüchte stammen, denn ich bin verschwiegen wie das Grab, – ausgenommen, daß ich mich Frederiksen, unserm Ladengehilfen, habe anvertrauen müssen, nicht so geradezu, sondern nur ganz verblümt. Ich war dazu gezwungen, denn ich mußte jemand haben, der mir die Briefe und Pakete für Dich besorgte und Deine Briefe in Empfang nahm, wenn ich des Morgens nicht aufgestanden war. Aber Frederiksen ist so treu wie Gold und hat sicher nichts erzählt. Auch von Deiner Tante Meta kann es doch wohl nicht herrühren, obwohl sie ja eine Ahnung davon hat. Das aber steht fest, die Klatscherei ist im besten Gange, und man stellt mir alle Augenblicke die anzüglichsten Fragen. Ich weise natürlich alles zurück, aber es ist schrecklich schwer, so geradezu Nein zu sagen, wenn die Leute einem sozusagen das Messer an die Kehle setzen. Aber Du mußt um Gotteswillen nicht glauben, daß ich auch nur das geringste zugestanden habe.

Denk nur, auch der Hilfsprediger muß davon gehört haben, denn gestern, als ich ihn in den Anlagen traf, und ein wenig mit ihm spazieren ging, fing er von Dir an und fragte, ob ich Dich gern leiden möchte. Das kam mir so überraschend, daß ich gar nicht antworten konnte, obgleich die Frage an und für sich ja eigentlich ganz unschuldig war, und ich glaube, ich bin ganz rot geworden. Ich konnte merken, daß er mich unausgesetzt ansah, obwohl ich das Gesicht abwandte, und dann sagte er: »Der Studiosus Holm soll ein recht begabter Mensch sein!« Weiter sagte er nichts, aber er war während des ganzen Rückweges sehr schweigsam.

Ja, lieber Emil, wie entzückend es auch sein mag, heimlich verlobt zu sein, so sehne ich mich doch sehr danach, wenigstens einigen unser Geheimnis anvertrauen zu dürfen. Es ist oft so schwer, niemand zu haben, dem man sein Herz ausschütten kann, namentlich da alle darüber reden. Würdest Du sehr böse sein, wenn ich es Deiner Tante unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute? Denn daß ich es dem Hilfsprediger sagte, möchtest Du wohl nicht? Ich bin freilich fest überzeugt, daß wir uns auf ihn verlassen könnten, und ich würde am meisten Nutzen davon haben, da ich dann ja mit ihm sprechen könnte, falls ich selber einmal nicht aus und ein wüßte. Aber wenn Du es durchaus nicht willst, so reden wir nicht mehr davon.

Ja, so bist Du mich denn also, wie Du siehst, diesmal nicht los geworden. Ich hänge wie eine Klette an Dir fest, denn ich liebe Dich so innig, mein teurer Emil! Und wenn Du mich nur liebst, kannst Du meinetwegen gern ein wenig untugendhaft sein, – bis wir uns verheiraten, natürlich! Ich bin schrecklich stolz, daß ich so vernünftig bin.

Und nun gib mir – aber keiner andern, hörst Du – einen Kuß!

Deine
Emilie.

XVIII

Rosenvänge, Villa Pax, den 9. Okt.

Lieber Emil!

Ich bedaure sehr, Dir mit dem Darlehen, um das Du mich bittest, nicht dienen zu können. Nicht etwa weil meine Mittel es mir nicht erlaubten; auch finde ich es durchaus nicht wunderlich, daß Du mit dem Gelde, das Du hast, nicht auskommen kannst. Nein, ich will Dir ganz offen sagen, weshalb ich mich nicht darauf einlassen kann.

Du schreibst in Deinem Brief – an und für sich würde ich es passender gefunden haben, wenn Du Dich mündlich an mich gewandt hättest –, daß Du Deinen Vater, so weit es Dir möglich ist, der Last überheben willst, Dich während Deiner Studienzeit zu unterstützen, und daß Du aus diesem Grunde größere Verpflichtungen auf Dich genommen hast, als Du erfüllen kannst. Ich mache Dir deswegen keine Vorwürfe, aber ich lege es Deinem Vater zur Last, daß er auf Dein Anerbieten eingegangen ist. Du weißt, daß ich meine Meinung ganz offen zu sagen pflege, selbst Deinem Vater gegenüber, der keinen Widerspruch duldet und in seinem Hause daran gewöhnt ist, niemals andre Meinungen zu hören, als seine eigenen. Dein Vater ist ein außerordentlich braver Mann, aber, wie sonderbar es auch klingen mag, in gewisser Hinsicht ist er unbegreiflich leichtsinnig. Ich nenne es Leichtsinn, daß er seinen jungen Sohn nach Kopenhagen schickt, ohne zu ahnen, wie dieser sich hier durchschlagen soll. Er begnügt sich mit einer flotten Äußerung Deinerseits, daß Du selber schon für Dich sorgen willst und ist seelenfroh, so leichten Kaufes davon zu kommen, selber einen Ausweg schaffen zu müssen.

Jetzt, wo Du in Verlegenheit bist, willst Du Deinen Vater immer noch schonen, natürlich auch, weil Du seine Klagen und Vorwürfe fürchtest. Und statt dessen wendest Du Dich an mich; falls die Verhältnisse so lägen, daß Du allein in der Welt daständest, würde ich Dir meinen Beistand nicht verweigern. Aber ich will nicht dazu beitragen, Deinen Vater der Lasten zu überheben, die zu tragen er doch der Nächste ist. Auf alle Fälle müßte Dein Vater mir vorerst die Erklärung geben, daß er nicht imstande ist, Dir zu helfen. Dann würde ich ihm das erforderliche Geld leihen. Mein Standpunkt ist also, daß, solange Dein Vater lebt, die Hilfe für Dich durch ihn gehen muß. Er kann und darf nicht außerhalb dieser Sache gehalten werden.

Du betonst in Deinem Brief wiederholt, daß Dein Vater von Deiner Verlegenheit nichts wissen soll. Ich will Dein Vertrauen, das Du mir erwiesen hast, nicht mißbrauchen, und weil Du es wünschest, will ich ihm nichts über diese Angelegenheit schreiben. Sonst würde ich Dir angeboten haben, ihm einen ganz ernsten Brief zu senden, denn ich glaube, daß er doch ein wenig Respekt vor mir hat.

Jetzt kannst Du Dir die Sache überlegen.

Deine getreue Tante
Caroline.

XIX

Paulsen & Eriksen,
Kohlen-, Kokes- u. Holzgeschält.

Kopenhagen, den 10. Oktober.

Herrn Stud. Holm!
hierselbst.

Lieber Emil!

In Erwiderung Deines geehrten Schreibens vom gestrigen Datum erlaube ich mir, zu bemerken: Es ist mein Prinzip, niemals Geld zu verleihen, namentlich finde ich es verwerflich, einem jungen Menschen Geld zu leihen, und ich möchte Dir den ernstgemeinten Rat geben, daß Du Dich vor Schulden hütest. Ich selber schuldete in meiner Jugend andern eine beträchtliche Summe Geldes und habe das später bitter bereuen müssen; noch jetzt kann ich es den Menschen nicht verzeihen, die mir so unverantwortlich Kredit gaben. Es tut mir leid, daß Du wegen einer Summe von dreihundert Kronen in Verlegenheit bist, doch kann ich nicht leugnen, daß ich es unerklärlich finde, wie Du, der Du doch erst so kurze Zeit hier in der Stadt bist und alle Deine Mittagsmahlzeiten bei den Verwandten gratis einnimmst, schon eine so bedeutende Summe schulden kannst. Dein Vater, dem es auch, schwer wird, mit seinem Gelde auszukommen, ersuchte mich im letzten Termin um ein Darlehn, doch mußte ich ihm, wenn auch schweren Herzens, in Anbetracht meines Prinzips, eine abschlägige Antwort geben, was eine augenblickliche Verstimmung seinerseits zur Folge hatte. Hieraus wirst Du ersehen können, wie unrichtig es ist, wenn man in seinen Geldangelegenheiten nicht auf strenge Ordnung hält, und Du wirst es mir nicht verdenken, daß ich Dir dieselbe Antwort gebe, die ich Deinem Vater gab.

Ich benütze diese Gelegenheit, um Dir mitzuteilen, daß wir am Mittwoch einige junge Leute bei uns sehen. Es würde uns deswegen lieb sein, wenn wir auf Dich rechnen könnten.

Präzise fünfeinhalb Uhr.

Mit freundlichem Gruß

Dein
Onkel Paulsen.

XX

Frederiksholmskanal, den II. Oktober.

Lieber Freund!

Verzeih, aber als ich Deinen Brief las, konnte ich mich des Lachens nicht erwehren. So viel Umstände um einer so geringfügigen Sache willen! Du sollst und mußt binnen acht Tagen dreihundertfünfzig Kronen schaffen, sonst bist Du unglücklich! Ach, wie ich Dich beneidete. Wenn doch dreihundertfünfzig Kronen auch einen Einfluß auf mein Glück haben könnten! In bezug auf Geldangelegenheiten, mein lieber Holm, befindest Du Dich, abgesehen von Deinen übrigen zivilisierten Eigenschaften, auf einem höchst naiven Naturstandpunkte. Wenn ich von Deinen Qualen und Deiner Verzweiflung in Veranlassung Deiner Schuld von dreihundertfünfzig Kronen lese, treten mir unwillkürlich meine ersten Kindheitserinnerungen wieder vor die Seele. Darf ich Dich, ganz offen, fragen: wie glaubst Du eigentlich, daß wir andere es machen? Glaubst Du, daß mein Herr Papa mir die Hundertkronenscheine auf einem silbernen Teebrett serviert? Du kannst Gift darauf nehmen, daß er das nicht tut. Er ist in dieser Beziehung nicht besser erzogen, als es die Väter im allgemeinen sind.

Wenn Du mich fragst, ob ich Dir helfen kann, so bereitest Du mir damit eine unsinnige Freude. Es ist ein kitzelndes Gefühl für mich, daß Du mich für einen Geldmann hältst. Aber leider bin ich nicht so gestellt, wie Du glaubst. Ich bin – wenn auch in pompöserem Verhältnis – in genau derselben Lage wie Du. Gerade in diesen Tagen bin ich im Begriff, mir »Geld zu machen«. Werd' nur nicht bange, es ist nichts Kriminelles dabei im Spiel, wenn gebildete Menschen Geld machen.

Und wenn es Dir recht ist, will ich versuchen, Dir gleich die Dreihundertfünfzig mitzumachen, die Du haben mußt. Ich kenne einen prächtigen Biedermann, der nette junge Leute aus guter Familie protegiert. Ich bin überzeugt, er wird sich glücklich schätzen, mit Dir in Geschäftsverbindung zu treten. Er hat politische und literarische Interessen und kennt Deinen Vater aus den Zeitungen als angesehenen geschätzten konservativen Mann. Er wird es sich zur Ehre anrechnen, Herrn Oberlehrer Holms hoffnungsvollen jungen Sohn aus einer momentanen Verlegenheit zu helfen, namentlich wenn der besagte junge Herr Holm von mir, seinem alten Kunden, empfohlen wird. Der Form halber verlangt er aber Bürgschaft. Einmal bin ich nun selber ein erprobter Bürge und dann kann ich Dir auch leicht einen zweiten schaffen, nämlich Knudsen, der in seiner Eigenschaft als Beamter unter den Bürgen einen hohen Rang einnimmt und infolge seiner Bereitwilligkeit den Ehrennamen »der Universalbürge« trägt.

Deswegen frischen Mut und Schwamm über das Ganze! Komm morgen vormittag zu mir, da läßt sich das kleine Geschäft leicht arrangieren. Du solltest aber doch lieber gleich fünfhundert Kronen aufnehmen. Da hast Du doch einen kleinen Vorsprung.

Dein getreuer
William Svane.

XXI

H., den 14. Oktober.

Lieber Emil!

Deine letzten Briefe haben mich mit einer gewissen Besorgnis erfüllt, nicht so sehr auf Grund dessen, was sie berichtet, als vielmehr auf Grund dessen, was sie übergangen, ja gleichsam mit Fleiß verschwiegen haben. So z. B. erzähltest Du in Deinem letzten Brief von der Generalversammlung im Studentenverein, wo die Frage über die Aufnahme von weiblichen Studenten zur Entscheidung gelangen sollte. Ich will ja nicht gerade sagen, daß Dein Referat gefärbt war, aber es ging doch durch das Ganze eine Art Bewunderung und Sympathie für diejenigen hindurch, die diesen revolutionären Vorschlag verteidigten. Und ich vermißte eine Mitteilung darüber, wie Du gestimmt hast. Es ist ja möglich, daß Du eine solche Mitteilung für überflüssig gehalten hast, Du kannst mir antworten, daß Du selbstredend die gute, konservative Sache stütztest. Aber so, wie ich Dein Referat auffaßte – vielleicht richtiger nach allem, was ich zwischen den Zeilen gelesen –, überkam mich eine gewisse Angst, daß Du, verleitet durch die Beredsamkeit, die die Opposition stets so leicht zu ihrer Verfügung hat, für die Aufnahme der weiblichen Studenten gestimmt haben könntest.

Mir ist es nun aber ganz unfaßlich, was junge Damen im Studentenverein zu tun haben sollen. Schon daß sie zum Studium zugelassen werden, ist an und für sich eine bedenkliche Sache – es streitet gegen die natürliche Bestimmung der Frau, die sie auf die stillen Beschäftigungen im Hause verweist –, aber, junge Damen in einem Verein für junge Leute aufzunehmen, selbst wenn die betreffenden Damen ihre Weiblichkeit noch so sehr über Bord geworfen haben – oder vielleicht gerade deswegen –, das scheint mir so unvereinbar mit den einfachsten Gesetzen des Anstandes, daß ich wirklich ganz starr war, als ich hörte, daß der Vorschlag in der Tat großen Anklang erzielte, wenn er auch – gottlob – nicht angenommen wurde.

Aus Deinem Referat ersehe ich, daß von Seiten der angesehenen, erfahrenen Männer, die den Vorschlag bekämpften, sehr treffende und witzige Bemerkungen gefallen sind. Doch vermisse ich folgende, wie es mir scheint, auf der Hand liegende Bemerkung, die zu machen ich mich, wenn ich zugegen gewesen wäre, nicht enthalten haben würde, da ja die Verhandlungen ausschließlich unter Männern geführt wurden: Wie will man sich über die »natürlichen« Schwierigkeiten hinwegsetzen, die zweifelsohne daraus entstehen müßten, wenn junge Herren und junge Damen demselben Verein angehörten? hat man denn gar nicht bedacht, welcher Gefahr das Schamgefühl des jungen Menschen ausgesetzt würde, wenn die Herren und Damen bei den animierten Studentengelagen, wo der Ton doch nicht allemal »salonfähig« bleiben kann, auf kameradschaftliche Weise miteinander pokulieren?

Daß bei solchen Gelagen Worte fallen, die nicht allemal züchtig sind, ist begreiflich und verzeihlich, darin liegt im Grunde keine Gefahr und auch kein Unrecht. Wenn das nun aber in Gegenwart von jungen Damen geschieht, mögen sie noch so emanzipiert sein, da wird das roh und anstößig, führt zu Liebeleien und vielleicht zu noch Schlimmerem. Denn um zu meinem ursprünglichen Gedanken zurückzukehren: man kann sich ohne Frivolität nicht über die »natürlichen« Schwierigkeiten hinwegsetzen.

Nein, mein lieber Emil, glaub' Du mir, – und ich hoffe doch, daß Du meine Worte noch ebenso hoch stellen wirst, wie die der liberalen Herren Studenten –, dies Bestreben, den Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern verwischen und den Frauen Gleichberechtigung mit den Männern geben zu wollen, das sind nur Narrenstreiche, das ist eine moderne Erfindung, die, dessen kannst Du sicher sein, keine Zukunft hat. Daß aber der Studentenverein auch in diesem Punkt Neigung verrät, den Fußstapfen des radikalen Studentenklubs zu folgen, erscheint mir sehr betrübend und unwürdig. Ich verstehe wirklich nicht, wie ordentliche und anständige Eltern ihren jungen Töchtern erlauben können, an den Bohemegelagen in jenem Klub teilzunehmen! Ich weiß, daß es mir widerwärtig gewesen sein würde, wenn ich seinerzeit Deine Mutter bei einem Studentengelage getroffen hätte! Wo bleiben Schönheit und Poesie, wenn die Frau nicht rein und unwissend bewahrt wird, wenn sie nicht mehr als das Unschuldsideal dasteht, das wir ehren und zu dem wir aufsehen können?

Es würde mich freuen, zu hören, was Du zu diesen meinen Bemerkungen zu sagen hast. Ich würde überhaupt Wert darauf legen, wenn ich aus Deinen Briefen Deine persönlichen Ansichten etwas deutlicher erkennen könnte. Ich habe zuweilen den Eindruck, als fürchtetest Du Dich gleichsam, den Kern der Sache zu berühren, – was eigentlich die Veranlassung zu den Betrachtungen dieses Briefes gewesen ist.

Hoffentlich wird Deine Antwort die Besorgnisse beschwichtigen, die Deine letzten Briefe in mir wachgerufen haben.

Teile mir auch mit, wie es mit Deinen Geldangelegenheiten steht. Solltest Du in großer Verlegenheit sein, so könnte ich es vielleicht einrichten, Dir im nächsten Monat einen Zuschuß von zwanzig Kronen zukommen zu lassen, – das würde dann sicher für eine Zeitlang Hochflut in Deine Kasse bringen.

Alle Hausgenossen grüßen Dich herzlichst.

Dein treuer Vater.

XXII

Kopenhagen, den 17. Oktober.

Lieber Vater!

Als ich noch daheim in H. war, bin ich niemals auf den Gedanken gekommen, daß ich eine andere Ansicht haben könnte als Du. Alle Menschen in H., wenigstens alle, mit denen wir verkehren, hatten ja so ungefähr dieselben Ansichten wie Du, und Du warst gleichsam der Tonangebende für die andern. Was Du sagtest, war das Richtige, und damit waren alle zufrieden, denn sie beugten sich Deiner Bildung und Überlegenheit. Und wenn sich das schon außer Hause so verhielt, so war es in noch weit höherem Maße daheim bei uns der Fall. »Der Vater hat es gesagt,« »Der Vater meint,« – das ist, seit wir Kinder noch ganz klein waren, beständig der Orakelspruch gewesen, dem gegenüber alle Einwände verstummten. »Der Vater hat es gesagt,« – da mußte es sich ja so verhalten. »Der Vater meint,« – da wußten wir, was wir zu meinen hatten. Und bis zu meinem 14., 15. Jahre, glaube ich, ist nicht einmal der Gedanke in mir aufgestiegen, daß es überhaupt anders möglich sein könne. »Vaters Ansicht« gegenüber hörte jegliches selbständige Denken in meinem Gehirn auf; wenn ich bis dahin gelangte, schloß ich meinen eigenen Verstand ein und übernahm blindlings die Ansicht, die als einzig richtige fertig vor mir lag. Ich versichre Dich, ich glaubte buchstäblich, daß es keine andere Ansicht geben könne als die Deine, und als die wunderbarste Begebenheit meiner Kindheit hat sich meinem Gedächtnis auch eine Szene zwischen Dir und Tante Caroline eingeprägt, die bei uns zu Besuch war. Worüber Ihr sprachet, weiß ich nicht. Meine Aufmerksamkeit wurde erst erregt, als die Tante plötzlich mit lauter Stimme zu Dir sagte: »Ja, das meinst Du nun, aber Du meinst oft etwas vollständig Verkehrtes, und ich nehme mir jedenfalls die Freiheit, meine Meinung für mindestens ebensogut zu halten wie Du die Deine.« – Was ich in dem Augenblick empfand, läßt sich schwerlich beschreiben. Daß aber der Tante etwas ganz Entsetzliches für diese vermessene Rede zustoßen müsse, davon war ich fest überzeugt. Aber dann geschah nichts weiter, als daß Du ganz freundlich sagtest: »Na, na, Line, wir wollen uns doch nicht erzürnen!« Da dachte ich bei mir: Der Vater hält Tante Caroline gewiß für sehr dumm, da er es nicht einmal der Mühe wert hält, sie zurechtzusetzen.

Damals war ich noch ein Kind. Im Übergangsalter aber, als ich anfing erwachsen zu werden, konnte es natürlich nicht ausbleiben, daß sich ketzerische Gedanken bei mir einstellten. Doch war die Pietät in mir so groß, daß ich sie immer gewaltsam zurückdrängte. Ich wollte, ich durfte nicht zu dem Resultat gelangen, daß ich andere Ansichten hegte als Du. Und ohne daß Du Dich darüber geäußert hättest, war ich überzeugt, daß Du ganz entsetzt sein würdest, wenn ich eines Tages mit einer selbstständigen Meinung auftreten wollte, d. h. ich glaubte eigentlich gar nicht, daß es Dir einfallen könnte, mich fähig zu halten, etwas anderes zu meinen als dasselbe, was Du meintest.

Dann kam ich hierher nach Kopenhagen, und über das, was hier mit mir vorgegangen ist, kann ich nur sagen, daß mir zumute gewesen ist, als sähe ich im Theater eine Landschaft aus Finsternis und Nebel in Licht und hellen Sonnenschein übergehen: ein Florvorhang nach dem andern hob sich, heller und heller ward es in mir, – noch jetzt fühle ich, daß noch vieles fehlt, bis alles offenbart ist, aber das, was ich bereits sehe, ist so viel reicher, strahlender, so viel wechselvoller, zusammengesetzter als alles, was ich bisher gesehen habe; mir ist zumute, als wäre ich lebendig in einer Höhle begraben gewesen, als schaute ich erst jetzt die Erde, den Himmel, das Leben und die Welt. Wie aber ist die Verwandlung vor sich gegangen? Die Erklärung liegt ganz einfach darin, daß ich erst hier in der Hauptstadt gelernt habe, meine eigenen Augen, meine eigenen Gedanken zu gebrauchen, daß ich erst hier Vertrauen dazu gewonnen habe, daß alles, was Leben heißt, auch für mich eingerichtet ist, daß auch ich, wie jeder andere, Umschau halten, wählen und verwerfen, mit andern Worten: meine eigene Meinung haben darf.

Nur eins tat meiner Freude Abbruch. Nämlich der Gedanke an Dich. Sobald ich an Dich dachte, war es mir, als senke sich ein großer, mächtiger Schatten herab, der Schatten aus meiner Kindheit, »Vaters Ansicht«, die Autorität, an der niemand zu rütteln vermochte, zu rütteln wagte. Und wieder hieß es: Was wird der Vater sagen? Wird der Vater Dir erlauben, andere Ansichten zu hegen wie er? Wird der Vater es verstehen, daß Du jetzt erwachsen bist und Anspruch auf geistige Selbständigkeit machen darfst?

Du hast vollkommen recht, wenn Du schreibst, daß meine letzten Briefe ein wenig flau gewesen sind. Jedesmal, wenn ich eine Ansicht hatte, von der ich annehmen durfte, daß sie mit der Deinen nicht in Einklang stand, dachte ich bei mir: Es wird das beste sein, leicht darüber hinzugleiten. Lügen wollte ich nicht, aber auf der andern Seite war ich zaghaft, ganz wahr zu sein.

Wie freut es mich, daß Du selber mich nun aufforderst, meine Ansicht offen auszusprechen. Denn so wie ich Deinen Brief aufgefaßt habe, so wie ich ihn jedenfalls gerne auffassen möchte, wirst Du mein Vertrauen zu schätzen wissen, selbst wenn es sich herausstellen sollte, daß unsere Ansichten nicht allemal in Einklang stehen. Und ich, lieber Vater, hege keinen größeren Wunsch, als daß das Verhältnis zwischen uns sich so gestalten möchte, daß ich offen und ehrlich mit Dir reden kann. Wir Jungen haben natürlich über mancherlei Dinge ganz andere Anschauungen als Ihr Älteren, aber wenn Ihr nur versuchen wolltet, ein wenig Verständnis für uns zu haben, so würden wir mit Freuden die Belehrung und Anleitung hinnehmen, die uns aus dem Gedankenaustausch mit Euch erwachsen könnte.

Dies war eine lange Einleitung zur Beantwortung Deiner Frage, wie ich in der Generalversammlung im Studentenverein in bezug auf die Aufnahme der weiblichen Studenten gestimmt habe. Du wirst indessen wohl schon herausgefühlt haben, daß ich für die Aufnahme stimmte, daß ich also in diesem Punkte eine andere Auffassung habe als Du.

Du meinst, der Ton im Verein würde roh und frivol werden, wenn die weiblichen Studenten aufgenommen werden. Verzeih, lieber Vater, aber ich finde, daß dies eine gar zu massive Auffassung der Sache ist. Ich kann mir nicht denken, daß die Studenten jemals so wenig gebildet gewesen sein sollten, daß sie nicht mit jungen weiblichen Wesen auf zwanglose Weise zusammen sein könnten, ohne gleich ordinär zu werden. Heutzutage wenigstens würde in der Beziehung keine Gefahr vorliegen, und einen brillanten Beweis dafür liefert uns gerade der radikale Studentenklub, in dem der Ton, gerade weil dort junge Damen zugegen sind, außerordentlich nobel ist. Das geben selbst die eifrigsten Gegner dieses Klubs zu. Nach dieser Richtung hin würde die Aufnahme weiblicher Studenten nur zum Vorteil des Vereins sein. So handelt es sich denn folglich nur noch um die Rechtsfrage. Und da kann ich wirklich nicht einsehen, daß wir männlichen Studenten irgendein anderes Recht zur Ausschließung der weiblichen Studenten aus dem Studentenverein haben sollten, als das des Stärkeren. Es ist ja ein Verein für Studenten, andere Anhaltspunkte haben wir nicht. Damals, als der Verein gestiftet wurde, gab es nur männliche Studenten, ergo wurden damals nur junge Männer aufgenommen. Jetzt aber, wo die Studenten teils Männer, teils Damen sein können, muß der Studentenverein konsequent sowohl allen Herren wie allen Damen offenstehen, die das Abiturientenexamen gemacht haben.

Für Dein Anerbieten, mir vielleicht im Laufe des Monats einmal zwanzig Kronen senden zu wollen danke ich Dir vielmals. Natürlich würde eine solche Summe mir sehr willkommen sein; doch mußt Du Dir deswegen keine weiteren Umstände machen. Es hat immer Zeit damit, z. B. bis zum Dezember oder auch bis Neujahr.

Mit herzlichen Grüßen für alle

Dein getreuer Sohn
Emil.

XXIII

H., den 17. Oktober.

Mein lieber, guter Junge!

Ich bin ganz aufgeregt über die Neuigkeit, die mir Fräulein Schmidt – oder Emilie, wie ich sie jetzt wohl nennen muß – gestern Abend anvertraute. Es machte einen solchen Eindruck auf mich, daß mir die ganze Nacht kaum Schlaf in die Augen gekommen ist.

Wenn ich mir vorstelle, daß Du wirklich verlobt bist! Großer Gott, es ist mir, als sei es gestern gewesen, als ich Dich des Morgens zu Fräulein Fabianson zur Schule brachte! Welch ein prächtiger kleiner Kerl Du damals warst in kurzen Hosen, Winterüberzieher mit Pelzkragen, einer kleinen Pelzmütze, die Dir immer schief auf dem Kopf saß, und einem Tornister auf dem Rücken. Du stolziertest höchst wichtig von dannen und mochtest es im Grunde gar nicht, daß die Tante Dir bis an die Schule das Geleit gab.

»Das wäre so görig!« sagtest Du. Und weißt Du noch, als Deine kleine Schwester geboren war, und Du sie durchaus in Deinem Tornister mit in die Schule nehmen wolltest, um sie Fräulein Fabianson zu zeigen? Ach, die gute, dicke Fabianson! Die ist nun auch schon tot und heimgegangen. Sie sollte nur ahnen, daß ihr Liebling Emil, dem sie die Hälfte seines Schulgeldes schenkte, damit er die Theatervorstellungen besuchen könne, – daß er jetzt ein Verlobter junger Herr ist!

Ja, wahrlich, ganz wunderbar will es mir erscheinen, und, mein lieber Junge, Du bist ja auch eigentlich noch reichlich jung zum Verloben. Aber ich will nichts dazu sagen. Der eine findet diejenige, die er lieb hat, in jungen Jahren, und der andere findet sie erst, wenn er ein reifer Mann ist. Und beides kann zum Segen sein, wenn die Betreffende ein braves, vernünftiges, liebevolles Mädchen ist, und das glaube ich, ist Emilie. Sie war wirklich ganz reizend, als sie mir das Geheimnis anvertraute; sie weinte und lachte und umarmte mich und bat mich, auch ihr eine gute Tante zu sein – und sie ein klein wenig lieb zu haben. Und dann weinte ich auch, – Du kannst Dir vorstellen, daß, wenn uns jemand in dem Augenblick überrascht hätte, er kaum auf den Gedanken gekommen wäre, daß wir ein freudiges Ereignis feierten.

Nun will ich Dir aber doch sagen, daß mir das Ganze nicht vollständig überraschend kam. Ich hatte mir so allerlei dabei gedacht, als Emilie plötzlich ein so lebhaftes Interesse für mich faßte. Und es wurde mir auch nicht sehr schwer, zu entdecken, daß sie Dich sehr in ihr Herz geschlossen hatte, – was ich ihr keineswegs verdenken kann, denn offen gestanden, wenn ich ein junges Mädchen wäre, würde ich mich auch bis über die Ohren in Dich verlieben. So habe ich auch niemals an die Gerüchte geglaubt, die hier in der Stadt kursieren, daß sich nämlich Emilie mit dem Hilfsprediger Herrn Möller verloben soll. Sie ist allerdings sehr von ihm begeistert, – ich meinerseits teile diese Schwärmerei nicht, – aber sie bewundert nur den Geistlichen und den Kanzelredner in ihm.

Aber was ist mir denn nur einmal! Ich habe ja gänzlich vergessen, Dir zu gratulieren! Nun, daß ich Dir das allergrößte Erdenglück wünsche, darüber bist Du hoffentlich nicht im Zweifel. Ich will von ganzem Herzen hoffen, daß die Liebe, die Du jetzt empfindest, von Bestand sein und wachsen möge, und daß Emilie Dir einstmals eine gute Frau wird, die es versteht, Dich glücklich zu machen, wie Du es verdienst. Daß sie Dich ganz schrecklich lieb hat, davon bin ich überzeugt. Wenn sie nur ein klein wenig ruhiger werden wollte! So einnehmend sie sein kann, so kann sie doch zuweilen ganz wunderbare Dinge sagen, finde ich. Aber man spricht ja überhaupt heutzutage über die wunderlichsten Dinge, und es werden Sachen eingehend beredet, die wir in unserer Jugend uns gehütet hätten, auch nur zu berühren. Viele alte Menschen kommen daher leicht dazu, die jetzige Jugend strenge zu beurteilen; und das möchte ich sehr ungern tun. Wenn man die Sache bei Licht betrachtet, mögen die modernen Sitten ja ebenso gut sein wie die altmodischen, die freilich in der Form anziehender, für unbefestigte Gemüter aber durchaus nicht ohne Gefahr waren.

Unter den vielen Gedanken, die mir über Nacht durch meinen alten Kopf schwirrten, war natürlich auch der: Was wird Dein Vater doch dazu sagen? Ich bin fest überzeugt, wenn er es jetzt erführe, würde er ganz entsetzt sein. Dein Vater kann so gar nicht verstehen, daß Ihr Kinder den Kinderschuhen entwachset. Auf der andern Seite wird er kaum etwas gegen die Partie einzuwenden haben. Emiliens Vater ist ja einer der geachtetsten Männer der Stadt, wenn er auch kein Beamter ist, und außerdem einer der wohlhabendsten. Ja, mein lieber Emil, man kann ja fast sagen, daß Du eine gute Partie gemacht hast. Und selbst wenn Dein Vater, ebensowenig wie ich, der Ansicht ist, daß das Glück hier auf Erden vom Gelde abhängt, so läßt es sich doch nicht leugnen, daß es eine große Annehmlichkeit ist, nicht jeden Groschen erst dreimal umdrehen zu brauchen.

Nun ja, mit Gottes Hilfe wird sich das alles schon finden! Vorläufig seid Ihr ja heimlich verlobt und Ihr könnt Euch darauf verlassen, ich bin schweigsam wie ein Grab. Kann ich Euch aber auf irgendeine Weise behilflich sein, so kommt nur zu mir, selbst wenn ich Gefahr laufen sollte, es mit dem Vater zu verderben. Ich habe mir schon ausgemalt, wie amüsant es in den Weihnachtsferien werden wird, wenn Emilie »zufällig« in meinem Zimmer mit Dir zusammentrifft!

Ach ja, die Weihnachtsferien! Du kannst mir glauben, das Wort liegt mir in den Gedanken, ebenso wie Dir.

Deine liebe Emilie bat mich, Dir einen Gruß und einen Kuß zu senden. Den Gruß versprach ich zu bestellen, den Kuß glaubte ich, nähmest Du am liebsten direkt von ihr.

Herzlichst
Deine Tante
Meta.

XXIV

Sölvgade 43 II, über den Hof.
20. 10. 1892.

Lieber Mil!

Hoffentlich bist Du nicht gar zu wütend über die Bescherung gestern abend, aber das kam daher, daß ich das Glas Bier auf all das andere trank, was ich schon getrunken hatte und was ich nicht vertragen konnte. Aber es war auch unrecht von Dir, mich mit diesem Svane zusammenzubitten, der ein so gründlich blasierter, ekliger Herr ist und der nichts weiter tat, als daß er mich neckte. Und zuletzt, als Du hinausgegangen warst, wurde er geradezu unverschämt gegen mich und kniff mich überall und nahm mich auf den Schoß und ließ mich erst los, als er dachte, daß ich schreien würde, was ich auch tat, so daß der Kellner hereinkam. Aber das war alles, während Du draußen warst, daher weißt Du nichts davon. Aber weil ein Herr unverschämt gegen einen ist, muß man sich doch nicht so vergessen, wie ich es getan habe, als ich ihm das Glas ins Gesicht warf, aber daß der Kneifer zerbrach, das hatte ich nicht gewollt, und deswegen kannst Du ihn gern um Entschuldigung bitten, wenn Du Lust dazu hast.

Und nun will ich hoffen, daß Du mir von Herzen verzeihst. Ich will künftig auch ein gutes Mädchen sein und ich will Dir alle die bösen Worte nicht nachtragen, die Du in der Droschke zu mir sagtest, denn ich weiß sehr gut, daß Du heftig warst. Aber weil Svane Dein Freund ist, mußt Du nicht von mir verlangen, daß ich wieder mit ihm zusammenkommen soll, denn dann stehe ich für nichts.

Ich bin den ganzen Tag in fürchterlicher Stimmung gewesen. Erstens war ja die Hölle los, weil ich so spät nach Haus gekommen war, und Vater sagte, er möchte mich nicht mal mehr schlagen, denn ich wär' es nicht wert, daß ein anständiger Mann mich anrührte. Und das Ende vom Liede ist ja, daß sie mich aus dem Haus rausschmeißen, und was dann? Aber daran will ich gar nicht denken, wenn Du mich nur wieder so lieb haben willst wie früher, dann bin ich glücklich, selbst wenn ich Schelte und Prügel kriege und auf der Straße liegen muß.

Und wenn Du so recht lieb sein willst, dann erlaubst Du mir, heute abend zu Dir zu kommen. Gib dem Jungen eine Antwort mit, ich warte an der Ecke auf ihn. Ich bin heimlich ausgerissen, während Vater seinen Mittagsschlaf hält.

Einen freundlichen Gruß und viele Küsse von

Male.

XXV

H., den 21. Oktober.

Lieber Emil!

Du kannst mir glauben, bei Euch zu Hause herrscht eine nette Stimmung in Veranlassung des letzten Briefes, den Du an Deinen Vater geschrieben hast. Ich war heute vormittag bei Tante Meta und traf sie ganz in Tränen aufgelöst. Was Du eigentlich geschrieben hattest, wußte sie nicht, denn Dein Vater hatte den Brief niemand zeigen wollen, aber er soll ganz außer sich sein und sagen, Du seiest ein verlorener Sohn. Du mußt mir umgehend mitteilen, was Du geschrieben hast, Emil! Ist es etwas über Religion? Ja, das ist es natürlich; ich habe die ganze Zeit hindurch ein Gefühl gehabt, daß es ein schlimmes Ende nehmen würde. Und das sage ich Dir ganz offen, Emil, ich verheirate mich nicht mit Dir, ehe Du nicht auf andere Gedanken gekommen bist, das kann ich nicht, wie lieb ich Dich auch habe. Du ahnst natürlich gar nicht, wie entsetzlich solche Freigeisterei im Grunde ist. Mir sind auch erst in der allerletzten Zeit die Augen so recht dafür geöffnet worden. Ich will Dir nämlich sagen, daß der Hilfsprediger am letzten Donnerstag eine Reihe aufklärender, erbaulicher Vorträge für die jungen Damen der Stadt eröffnete. Er kommt abwechselnd in die Häuser; am ersten Donnerstag waren wir bei Bürgermeisters versammelt, gestern waren wir bei uns; wir waren im ganzen fünfzehn junge Mädchen, und von Älteren ist stets nur die Frau des Hauses anwesend. Er spricht von 7-8, dann essen wir zu Abend und reden über das, was er gesagt hat, oder auch er liest uns ein Dichterwerk vor usw. Bisher haben wir noch keine Zeit zum Vorlesen gehabt, denn die Diskussionen mit ihm nahmen uns ganz in Anspruch, das ist aber auch sehr lehrreich und interessant. Das Thema für seine Vorträge diesen Winter lautet »der moderne Unglaube«, und das sind ja ganz schreckliche Dinge, zu denen der Unglaube führen kann, so wie z. B. diese entsetzlichen Sittlichkeitsverbrechen, von denen die Zeitungen dieser Tage melden, und der Betreffende soll ja ein Opfer der modernen Anschauung sein, daß man nur das tun soll, wozu man Lust hat. Aber darum enden auch alle modernen Bücher mit Selbstmord und Verzweiflung. Jeden Abend, wenn der Hilfsprediger gesprochen hat, schreibe ich aus dem Gedächtnis alles nieder, was er gesagt hat, und wenn das Ganze fertig ist, will ich Dir das Buch schicken, ich glaube, Du wirst Nutzen davon haben.

Aber nun muß ich schließen, denn ich habe heute noch schrecklich viel vor. Wir hängen neue Wintergardinen auf und ich soll zum Schokoladetrinken zu Franziska Petersen, Konditor Petersens Tochter. Da werden Prämien für diejenigen ausgesetzt, die die meisten Windbeutel essen können. Ich bin schon ganz besorgt um meinen Magen. Im vorigen Jahr bekam ich den zweiten Preis, ein Visitenkartentäschchen.

Von Neuigkeiten ist nur zu vermelden, daß eine Schauspielertruppe in die Stadt gekommen ist. Eine von den Damen ist sehr hübsch, aber man erzählt sich allerlei Schlimmes über sie. Da soll was zwischen ihr und dem Apotheker sein!

Und nun schreib mir auch gleich, was das ist mit Dir und Deinem Vater, hörst Du, Emil? Und dann denke ein wenig über das nach, was ich Dir gesagt habe. Wenn Du mich wirklich lieb hättest, könntest Du Deine Ansichten sehr gut ein wenig ändern!

Tausend Küsse, Du böser Junge, von

Deiner Dich liebenden
Emilie.

XXVI

Liebes, kleines Fräulein Pastor!

Ich danke Ew. Hochehrwürden für die letzte, schöne Bußpredigt. Es tut mir indessen herzlich leid, daß ich nicht darauf reflektieren kann.

Scherz beiseite. Dein letzter Brief, liebe Emilie, hat mich überrascht und betrübt. Was würdest Du mir wohl antworten, wenn ich zu Dir sagte: »Du könntest doch mir zuliebe gern Freigeist werden?« Wenn ich so etwas zu Dir sagte, würdest Du mich mit gutem Grund entweder sehr gedankenlos oder sehr rücksichtslos finden. Und Du würdest mir antworten: Verlange von mir, daß ich Dir zu gefallen ein blaues Kleid anziehen soll statt eines grauen, verlange aber nicht als Zeichen meiner Verliebtheit, daß ich meine tiefsten und heiligsten Gefühle ändere.

Es ist vielleicht nicht richtig von mir, daß ich die letzte Bemerkung, mit der Du Deinen Brief beschlössest, so feierlich auffasse. Vielleicht hat meine kleine Mis das alles nur Scherzes halber geschrieben. Aber ich kann mich nun einmal nicht von dem Eindruck befreien, daß der – wenn auch unbewußte – Gedanke dahinter liegt, daß wir, die wir keine kirchlich Gläubigen sind, weniger überzeugt von unserem Glauben sind als Ihr von dem Euren. Deshalb will ich Dir denn ein für allemal sagen, daß, was ich glaube und was ich nicht glaube, mir eine ebenso heilige Religion ist, wie es das Christentum den aufrichtigen Christen ist. Ich kann unter Zweifeln und Anfechtungen leiden, ich behaupte ja nicht, daß meine Entwicklung abgeschlossen ist, ich komme vielleicht schließlich noch dahin, daß ich etwas ganz anderes glaube, als was ich momentan glaube; aber unter allen Umständen verlange ich denselben Respekt für meine Anschauungen, mein Glaubensleben, wie Ihr für die Euren. Ich entsinne mich, daß Du mir einmal schriebst, Du wolltest mich nicht mit Bekehrungsversuchen »plagen«, Du hegtest aber die stille Hoffnung, daß ich durch das Zusammenleben mit Dir zu dem Glauben gelangen möge, den Du für den rechten hieltest. Das, finde ich, ist ein schöner Standpunkt, den Du Dir bewahren solltest. Daß ich nicht glaube, daß Deine Hoffnung in Erfüllung geht, daß ich vielmehr hoffe, Dich zu meinen Anschauungen bekehren zu können, ist ja eine Sache für sich. Wenn ich nämlich meine Meinung ganz offen sagen soll, so will es mir scheinen, als wenn Du eine Bekehrung ebenso notwendig gebrauchen könntest wie ich. Deine Äußerungen haben in letzter Zeit so einen herben theologischen Anstrich, der mir für ein schönes, liebenswürdiges junges Mädchen sehr wenig empfehlenswert erscheint. Nicht als ob ich Dir jetzt eine Predigt halten wollte; doch möchte ich es Deinem gesunden, natürlichen Urteil in aller Bescheidenheit anheimstellen, ob Du Dich nicht allzu bereitwillig als Sprachrohr des Herrn Hilfspredigers benutzen läßt. Ich kenne ihn ja nicht, aber wenn er sich wirklich dazu hergegeben hat, diesen sehr wenig zartfühlenden Trumpf mit jenem Sittlichkeitsverbrechen auszuspielen, so muß er ein außerordentlich niedrigstehendes Exemplar seiner Rasse sein. Und in dem Falle bitte ich Gott, er möge Deine unverderbte junge Seele davor bewahren, in seine Klauen zu geraten. Du mußt nun aber nicht glauben, daß ich dies sage, weil der Hilfsprediger und ich so ganz entgegengesetzte Anschauungen haben. Eine Äußerung wie die seine über Sittlichkeitsverbrechen und die moderne Literatur charakterisiert den Betreffenden ganz im allgemeinen als Menschen. Er würde, wenn er kein Geistlicher, sondern ein Freidenker wäre, genau dieselben Infamien begehen. Er würde z. B. aus der Oftedalschen Affäre, die kürzlich in Norwegen so viel von sich reden machte, die Schlußfolgerung ziehen, daß alle Geistlichen einen schlechten Lebenswandel führen.

Über dies alles habe ich ganz vergessen, Deine Frage: was ich meinem Vater in meinem letzten Brief geschrieben? zu beantworten. Ich schrieb gewissermaßen dasselbe, was ich in diesem Brief geschrieben habe. Daß ich mir die Freiheit nehme, meine eigenen Ansichten zu haben, und daß ich nur zu sagen gedenke, was ich wirklich meine. Da ich noch keine Antwort erhalten habe, verhält es sich wohl wirklich so, wie Du schreibst, daß nämlich der Vater meine Offenherzigkeit übel aufgenommen hat. Das tut mir natürlich sehr leid, aber ich kann nicht einsehen, daß ich verkehrt gehandelt habe. Wie es auch gehen mag, freue ich mich, daß ich mich ihm gegenüber ausgesprochen habe.

Grüße Tante Meta tausendmal. Sie ist die aufrichtigste Christin, die ich kenne. Sie trägt das Gesetz mit sich herum, – nicht in einem kalten, toten Katechismus, sondern in ihrem lebenden, warmen Herzen.

Dein Dich liebender
Emil.

XXVII

H., den 25. Oktober.

Lieber Emil!

Daß ich Dir schreibe, weiß weder Dein Vater noch sonst jemand. Es war ein sehr unbesonnener Brief, den Du dem Vater neulich sandtest. Du solltest nur ahnen, wieviel Unheil der angerichtet hat. Vater ist in der schrecklichsten Laune, und darunter haben wir alle zu leiden. Ich kann auch wirklich nicht begreifen, wie Du dazu gekommen bist. Du kennst den Vater doch, und Du weißt, wie heftig er werden kann, wenn ihm jemand widerspricht; seine Ansichten sind stets klug und richtig, deswegen kann er sich schwer darein finden, wenn andre das nicht einsehen; auf alle Fälle meint er, daß seine eigenen Angehörigen sich ihm nicht widersetzen sollten, und darin könntest Du Dich ihm doch fügen, so wie wir alle es ja tun. Mein Gott, man braucht doch nicht bei jeder Gelegenheit mit seiner eigenen Ansicht hervorzutreten, wenn man weiß, daß daraus Unfriede und Kummer entstehen kann. Man muß sich ja stets ein wenig nach einander richten und lieber schweigen, als daß man verletzt und beleidigt. Ich weiß sehr wohl, daß es der Jugend schwer wird, sich einen solchen Zwang aufzuerlegen. Ich selber war zu Anfang meiner Ehe auch wohl kaum so vorsichtig und rücksichtsvoll, wie ich hätte sein sollen; aber ich lernte gar bald, meinen Eigenwillen der Liebe und Achtung für Deinen Vater unterzuordnen, und ich habe allen Grund, glücklich darüber zu sein.

Ich glaube auch, Du würdest anders gehandelt haben, wenn Du so recht wüßtest, wie lieb Dein Vater Dich hat. Seit Deiner frühesten Kindheit bist Du sein Stolz, seine Hoffnung gewesen. Er gehört ja nicht zu den Menschen, die ihren Gefühlen einen so überströmenden Ausdruck verleihen, aber unzählige Male, wenn er und ich, nachdem Ihr Kinder zu Bett gegangen wäret, in seinem Studierzimmer beieinander saßen, erzählte er freudestrahlend, wie tüchtig Du in der Schule seiest, wiederholte die lobenden Äußerungen, die seine Kollegen über Dich gemacht hatten, und las mir Deine Aufsätze vor. Und wenn Du selber so wenig von seiner Freude über Dich verspürtest, wenn er Dich mehr um der schlechten Zeugnisse willen tadelte, die Du hin und wieder einmal erhieltest, als daß er Dich der vielen guten wegen lobte, so geschah das – davon kannst Du überzeugt sein – nur aus Ehrgeiz in Deinem Interesse.

Aber gerade weil er so große Hoffnungen auf Dich gesetzt hatte, ist sein Kummer und seine Enttäuschung jetzt so groß. Was nützt es auch, daß der liebe Gott Dir die guten Fähigkeiten verliehen hat, wenn Du sie nicht im Dienste des Guten verwendest.

Und dann meine ich auch, Du hättest, ehe Du Deinen Brief absandtest, ein klein wenig an uns hier zu Hause denken sollen. Wir, und namentlich ich, haben unter der Mißstimmung zu leiden, die Du bei Vater erregt hast. Du sitzest in Kopenhagen und merkst nichts von den Folgen Deines Briefes. Aber Du kannst mir glauben, es ist nicht leicht für mich, wenn Vaters Zorn wie eine Gewitterwolke über dem ganzen Hause hängt. Ich befinde mich in einer unausgesetzten Angst; ich wage nicht einmal, den Versuch zu machen, seinen Zorn zu mildern, denn dann glaubt er, daß ich mit Dir unter einer Decke stecke.

Aber wenn Du Vater nun einen neuen Brief senden wolltest, in dem Du ihn auf irgendeine Weise verstehen ließest, daß Du Deinen letzten Brief bereutest, so würde alles wieder gut werden, denn Vater wartet wirklich nur auf ein Wort von Dir, um Dir zu verzeihen. Und dann mußt Du in Zukunft wirklich vorsichtiger mit dem sein, was Du schreibst, hörst Du, lieber Emil, das mußt Du mir versprechen, auch um meinetwillen. In der Hoffnung, daß Du jetzt tust, um was ich Dich bitte, grüßt Dich freundlichst

Deine treue
Mutter.

XXVIII

Pfarrhaus zu H., den 28. Oktober.

Herrn Studiosus E. Holm!

Wenn ich mich entschlossen habe, an Sie zu schreiben, so geschieht dies erst nach vielen Bedenken und reiflicher Überlegung. Wir haben ja niemals miteinander gesprochen, kein Freundschafts- oder Bekanntschaftsverhältnis kann diesen Brief rechtfertigen. Und doch ist es mir, als wären wir schon alte Bekannte. Ich habe so viel von Ihnen gehört und ich habe Grund, anzunehmen, daß auch Sie allerlei von mir gehört haben werden. Und die Persönlichkeit, die also Bindeglied zwischen uns gewesen, ist uns beiden teuer, wenn auch auf verschiedene Weise. Jetzt müssen Sie mir nicht zürnen, weil ich so rückhaltlos in Ihr Geheimnis eindringe. Ich bin dazu ermächtigt, Ihnen mitzuteilen, daß Fräulein Schmidt selber mir anvertraut hat, daß sie Ihnen Hand und Herz geschenkt hat. Möge dieser jugendliche Bund zum Segen gereichen!

Wenn Fräulein Schmidt mir ihr Herz erschloß, so geschah das, weil sie in mir nicht nur einen aufrichtigen Freund, sondern auch ihren Seelsorger erblickt. Sie ist ja ein selten empfängliches Gemüt, weich wie Wachs, auf dem alle Ereignisse des Lebens tiefe Spuren hinterlassen. Sie ist dabei, trotz ihrer großen Jugend, auf religiösem Gebiet ganz wunderbar entwickelt. So kam Sie denn vorgestern zu mir, zitternd und bebend wie eine Frühlingsblüte unter einem Aprilschauer, ganz in Zweifel mit sich selber, geteilt zwischen ihren Gefühlen für Sie und ihrer Pflicht gegen das, was höher ist als alles Irdische. Sie hatten ihr einen Brief geschrieben, den sie mir nicht zeigte, dessen wesentlichen Inhalt sie mir aber, so gut ihre Bewegung dies zuließ, wiederholte.

Was Sie in diesem Brief geschrieben, hatte, wie das ganz begreiflich ist, sie, das gläubige, junge Weib gar tief erschüttert; wohl war sie nicht im Zweifel darüber, daß Sie die trostreiche Gewißheit, die allen Verstand übertrifft, noch nicht gefunden haben, aber sie hatte doch nicht geahnt, wie kühl, ja wie geradezu feindlich Sie sich der Lehre der Kirche gegenüberstellen. Die angsterfüllte Frage, die das junge Mädchen nun an mich richtete, lautete: Darf ich um meines Seelenfriedens willen mein Herz einem Gottesleugner schenken? Kann wahres Glück und Segen aus einem Verhältnis zwischen zwei Menschen ersprießen, von denen der eine auf dem Grund des Glaubens steht, während der andre auf den dunklen Wegen des Unglaubens umherirrt?

Seien Sie versichert, lieber Herr Holm, daß niemals eine Frage an mich gestellt worden ist, die mein Gemüt in eine so heftige Erregung versetzt und es mit so qualvoller Unruhe erfüllt hat. Ich sollte hier mit einem Wort über das Lebensschicksal zweier junger Menschenkinder entscheiden, ich sollte nicht nur als Freund raten, ich sollte auch als Seelsorger richten. Vielleicht glauben Sie, daß wir Geistlichen in solchen Fällen nichts von Skrupeln und Bedenken kennen, daß wir unser Gewissen beruhigt fühlen, wenn wir uns nur an das Wort des Gesetzes halten können. Nein, auch wir sind Menschen mit Angst und Zweifeln und verwirrenden Fragen; auch wir sehen das Leben menschlich – und zwar menschlich nachsichtig – an und wir haben schwere Kämpfe zu bestehen, wenn die Eingebungen unseres Herzens sich scheinbar mit dem Willen Gottes nicht vereinigen lassen.

Wie hätte ich es wohl übers Herz bringen können, diesem jungen Weibe, das mich mit so flehenden Augen ansah, ein verdammendes Wort zu sagen? – ich tröstete sie so sanft und gut ich konnte, ich bat sie, ihr Herz unter Gebet zu Gott genau zu prüfen, sich nicht zu übereilen, sondern vorerst die Sache liebevoll mit Ihnen zu behandeln. Es wäre ja möglich, daß sie Sie nach irgendeiner Richtung hin mißverstanden hätte, ja es wäre doch nicht so undenkbar, daß Ihnen, wenn Sie nun einsähen, wie ernst ihr die Sache sei, wie viel auf dem Spiel stände, gleichsam durch einen Blitzstrahl die Augen für die Wahrheit erschlossen würden, wie dies dem Paulus auf dem Wege nach Damaskus geschah.

– – – Aber seit Fräulein Schmidt hier gewesen ist, hat meine Seele keine Ruhe gehabt. Fortwährend hat mir eine innere Stimme gesagt, daß ich meiner Pflicht nicht so leicht genügen könne; daß ich diesem jungen Weibe, das sich hilfesuchend an mich gewendet hatte, nach Kräften zu helfen und beizustehen schulde. Und da kam mir der Gedanke, an Sie zu schreiben.

Was ich dadurch zu erreichen hoffe? Ich weiß es selber nicht so recht, aber es will mir scheinen, als sei es notwendig, daß wir beide einmal miteinander sprächen, nicht als Gegner, als Feinde, sondern als Freunde. Lieber Herr Holm, Sie sind ja noch so jung, noch muß Ihr Herz zu beeinflussen sein. Es scheint mir, als bedürften Sie eines etwas älteren Freundes, an den Sie sich getrost wenden, mit dem Sie über alles reden könnten, was Ihnen Zweifel und Unruhe verursacht. Wollen Sie mir das Recht geben, Ihnen dieser Freund zu sein? Wie schön wäre es nicht, wenn wir eines Tages gemeinsam vor das junge Mädchen treten und zu ihr sagen könnten:

Wir schließen in Jesu Namen den Bund,
Wir ankern nun beid' auf des Glaubens Grund!
In einigem Glauben, in einigem Hoffen,
Unterm Zeichen des Kreuzes der Himmel steht offen.

Und damit will ich schließen. Nehmen Sie diese Zeilen in Liebe auf, wie sie auch in Liebe geschrieben sind, und lassen Sie mich bald von sich hören. Sollten Sie Verlangen nach einer mündlichen Unterredung mit mir haben, so könnte sich vielleicht Mitte November eine Begegnung in Kopenhagen bewerkstelligen lassen.

Mit freundlichem Gruß

Ihr ergebener
Halfdan Möller.

XXIX

Kopenhagen, den 30. Oktober.

Meine liebe Mutter!

Sehr leid tut es mir, daß ich Deinen Wunsch nicht erfüllen kann. Ich habe keine Veranlassung, den Vater um Verzeihung zu bitten. Was habe ich denn im Grunde getan? Ich habe, als mich der Vater aufforderte, frisch von der Leber weg zu schreiben, ihn beim Wort genommen, habe ihm herzlich für sein Entgegenkommen gedankt und habe die denkbar möglichste Rücksicht auf ihn genommen. Ist es denn meine Schuld, daß der Vater, als die Sache schließlich zum Klappen kam, meine Aufrichtigkeit nicht wünschte? Aber nun hat er meine Ansichten einmal erfahren, und dabei ist nichts mehr zu machen. Weder um meiner selbst, noch um des Vaters willen will ich meine Worte zurücknehmen. Es würde das ebenso demütigend für mich wie beleidigend für den Vater sein.

Mein liebes, gutes Mütterchen, ich weiß sehr wohl, daß Du diesen Brief kalt, starrsinnig, herzlos finden wirst. Du, mit Deiner weichen, nachgiebigen Natur wirst nicht verstehen können, weshalb ich so handle, wie ich es tue! Du meinst, weil ich des Vaters Sohn bin, müsse ich ihm in allen Dingen untertan sein. Ich meine, daß der Vater, der stets ein Mann mit eigenem Willen und eigenen Zielen gewesen ist, einen besseren Sohn verdient als so einen charakterlosen Ja-Bruder. Aber auch um meiner selbst willen, will ich nicht länger artig auf den Hinterbeinen sitzen und Pfot' geben. Soll ich zum Dank dafür, daß Ihr mich in die Welt gesetzt habt, Euch mein Leben unterordnen, da möchte ich wünschen, daß Ihr mir das Leben nicht geschenkt hättet.

Du schreibst, daß ich mich ebensogut wie Du nach dem Vater richten könne. Nein, liebe Mutter, da ist denn doch ein großer Unterschied vorhanden! Bedenke, Du hast gewissermaßen hier im Leben erreicht, was Du erreichen wolltest. Du hast den Vater aus freien Stücken zum Gatten erwählt und Du hast, in Übereinstimmung mit Deiner Natur, Dein Glück darin gefunden, Dich unter seinen Willen zu beugen. Du verlangst und erwartest nichts weiter vom Leben. Ich hingegen, ich bin jung! Begreifst Du denn nicht, daß ich mich nicht darein finden kann, mit einer Tüderleine am Bein zu gehen? Ich muß schnell vorwärts und ich will weit hinaus! Für mich ist alles noch Pläne und Hoffnungen. Ich trage eine sehnsuchtsvolle Hast mit mir herum, Ihr dürft mich nicht zurückhalten, Ihr dürft mich nicht bitten, daheim zu bleiben. All mein Sinnen und Trachten geht in die weite Welt hinaus. Hinaus in die schimmernde, lichte Zukunft. Ach, wie von Herzen gern möchte ich, daß Ihr mich so recht verstehen könntet, daß Ihr mir recht geben und liebevoll sagen wolltet: »Ziehe in Gottes Namen hinaus, mein Kind, lebe Dein Leben, wie Du es kannst und willst, nur mache uns und Dir selber keine Schande!« da würde ich Euch danken und Euch segnen, und Ihr würdet stets meiner Liebe gewiß sein.

– – Ich lege diesen Brief zusammen mit dem Wäschezettel in den Wäschekorb. Wenn Du es für richtig hältst, so kannst Du ihn dem Vater zeigen.

Dein Dich liebender Sohn
Emil.

XXX

Kopenhagen, den 2. November.

Liebe Emilie!

Zu meiner größten Verwunderung erhielt ich vor einigen Tagen einen Brief von Herrn Hilfsprediger Möller. Und meine Verwunderung stieg, als ich den Brief las. Er geberdete sich wie ein von Dir in mein Heidenland ausgesandter Missionar und er bemühte sich nicht nur, mein Herz durch Prosa zu gewinnen, sondern erging sich auch in Poesien. Da Du ja seine Dichterwerke sammelst, sende ich Dir beifolgend den mir dedizierten Vers.

Es wird Dich kaum wundern, daß ich auf den Hilfsprediger pfeife. Er ist mir vollständig gleichgültig. Dahingegen ist es mir durchaus nicht gleichgültig, daß meine Braut Dinge, die nur mich und sie angehen, einem ganz gleichgültigen Dritten anvertraut und einen jungen Herrn besucht, der, wenn er auch sein theologisches Examen gemacht hat, doch deswegen wohl nicht aufgehört hat, ein Mann zu sein.

Meine kleine Mis, kannst Du denn nicht begreifen, daß diese Einmischung in unser Verhältnis seitens einer mir wildfremden Person mich peinlich berührt? Und Du mußt doch einsehen können, daß dies der allerverkehrteste Weg ist, so auf mich einwirken zu wollen, wie Du es wünschest. Ich wiederhole, wie ich Dir bereits früher gesagt habe: laß uns unsere gegenseitigen Anschauungen milde und nachsichtig beurteilen und unsere junge Liebe nicht durch gegenseitige Verketzerungen ertöten. Ich schlage Dir folgende Vereinbarung vor: in Zukunft kein Religionskrieg zwischen uns; wir beten jeder unsern Gott in aller Stille und in dem festen Glauben an, daß er – sowohl Dein als auch mein Gott – ein guter Gott ist, der zwei Menschenkinder, die sich lieb haben, nicht voneinander trennen will. Und wollen wir nun diese Übereinkunft durch einen Kuß besiegeln?

Dein Emil.

P. S. Du brauchst nicht besorgt zu sein, daß ich dem Hilfsprediger irgendwie unliebenswürdig geantwortet habe. Ich schrieb in aller Höflichkeit nur folgende Zeilen: Sehr geehrter Herr Pastor! Ich danke Ihnen für Ihr freundliches Schreiben und für Ihr Anerbieten, mir mit Rat und Anleitung beistehen zu wollen. Natürlich kann eine solche Teilnahme Ihrerseits, da ich Sie gar nicht kenne, mich nur erfreuen; vorläufig aber ist nicht die geringste Aussicht vorhanden, daß ich Verwendung für Ihren Beistand haben könnte. Ich werde einstweilen ganz gut allein und mit Beistand der Freunde, die ich kenne, fertig. Nochmals besten Dank für Ihre Freundlichkeit.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebener
E. H.

Das war doch ein netter liebenswürdiger Brief?

XXXI

H., den 4. November.

Lieber Emil!

Daß ich so lange nicht an Dich geschrieben habe, wirst Du wahrscheinlich nicht unbegreiflich finden. Dein letzter Brief an mich war in einem solchen Ton abgefaßt, daß ich wirklich allen Ernstes einen Augenblick dachte, der Brief ist sicher im Rausch geschrieben. Ich finde es tragikomisch, daß ein junger Bursche wie Du, der eben aus der Schule gekommen ist, sich berechtigt – ja verpflichtet – glaubt, über alles zwischen Himmel und Erde eine selbständige Ansicht zu haben. Und doch ließe ich es mir noch gefallen, wenn Du Deine Ansichten, von denen Du doch wissen mußtest, daß sie mich betrüben würden, in einer Deinem Alter und dem Respekt, den Du mir schuldest, angepaßten Art und Weise vorgebracht hättest. Statt dessen gestaltetest Du Deinen Brief zu einer Klageschrift gegen mich.

Es kam Dir nicht in den Sinn, Dich zu entschuldigen, daß Du mir diesen herben Schmerz auf so schonungslose Weise bereitetest, nein, Du betrachtestet es als etwas ganz Selbstverständliches, daß einem Sohn, der fast noch ein Knabe ist, die Freiheit zusteht, alles das, was sein Vater ihn gelehrt hat, für altes Vorurteil, Aberglauben, Erdichtung, falsche Lehre zu erklären, und Du erblicktest in meinen Bemühungen, Dir Liebe zu dem Wahren, Edeln, Erhabenen einzuprägen, nur eine tyrannisch selbstsüchtige Bestrebung, eine bornierte Verstocktheit. Ja, mein Junge, wenn Du mir nicht einräumen willst, daß dies die umgekehrte Welt ist, so weißt Du wahrhaftig nicht mehr, was oben und unten, was recht und unrecht ist.

Hatte ich eine kurze Weile glauben können, daß Dein Brief an mich in einem Augenblick der Verwirrung geschrieben sei, so mußte Dein Brief an Deine Mutter mich auch dieser Illusion berauben. Offen gestanden, mein lieber Emil, verstehe ich nicht, wie Du es hast übers Herz bringen können, einen solchen Brief an Deine Mutter zu schreiben, die eine so weiche feine Natur ist und die alle Gemütsbewegungen so schlecht verwinden kann. Wenn Du nicht im voraus Herz genug besaßest, den schmerzlichen Eindruck zu bedenken, den Dein Brief auf sie machen mußte, so will ich nicht versuchen, Dich durch eine Schilderung des Zustandes zu rühren, in den Du sie versetzt hast. Überhaupt wird es mir schwer, in Dir noch den liebevollen, guten, braven Sohn zu erblicken, über den Deine Mutter und ich so glücklich, auf den wir so stolz waren. Wenn ich das Bild, das ich früher von Dir hatte, mit demjenigen vergleiche, das mir aus Deinen letzten Briefen entgegentritt, so will es mir scheinen, als habest Du bisher eine Maske getragen, die Du jetzt hast fallen lassen, um mir ein fremdes, kaltes und – so entsetzlich es klingen mag – ein fast gehässiges Antlitz zu offenbaren. Finden wir uns darein, daß Du selber kein Vertrauen zu meinen Ansichten hast, daß Du Dich darüber erhaben glaubst, noch länger Rücksicht auf mich nehmen zu müssen, – finden wir uns darein, obwohl es schwer zu fassen ist! – – Daß Du aber Deine Mutter noch obendrein verhöhnst, weil sie als pflichtgetreue, liebevolle Gattin bestrebt gewesen ist, in Übereinstimmung mit mir zu sein, das ist, gelinde gesagt, ein starkes Stück.

Zu alle diesem kommen nun noch gewisse Nachrichten, die ich vorgestern durch einen Brief von Tante Kathinka erhielt. Was ich hieraus erfuhr, traf mich nach Deinen letzten Briefen nicht ganz unvorbereitet, und es reifte in mir die Überzeugung, daß Du noch zu jung und unentwickelt für einen Aufenthalt in Kopenhagen bist, falls Du nicht unter steter Familienaufsicht stehst. Deswegen habe ich beschlossen, daß Du nur noch bis zum 1. November bei Frau Petersen wohnen sollst. Falls es mir bis zu dieser Zeit nicht gelingt, Dich in Verhältnissen unterzubringen, die ich für völlig beruhigend halte, so beabsichtige ich, Dich vorläufig wieder nach Hause zu nehmen und Dich hier, so gut es sich machen läßt, unter meiner oder eines andern Anleitung zum Philosophicum arbeiten zu lassen. Dies Arrangement wird Dir wohl kaum gefallen; aber, mein lieber Emil, hierauf habe ich nur die Antwort: Wie man sich bettet, so liegt man. – Du hast nicht im Guten verstehen wollen, daß Du, solange Du nichts bist und, wenigstens pekuniär, von mir abhängig bist, Dich nicht so ohne weiteres von allen Rücksichten und Verpflichtungen gegenüber Deinen Eltern und andren, denen Du zur Last liegst, befreien kannst. So muß denn diese Wahrheit Dir auf eine fühlbare Art und Weise eingeprägt werden.

Doch sollst Du auch wissen, daß meine Liebe zu Dir trotz alledem unverändert ist. Ja, wenn ich Dich nicht so lieb hätte, würde ich mich, das mußt Du doch begreifen, nicht so für das ereifern, was ich für Dein wahres Wohl halte. So ist es denn auch meine aufrichtige Hoffnung, daß, wenn Du nun dem unheilvollen Einfluß entrückt bist, unter dem Du Dich offenbar momentan befindest, Du wieder unser guter, lieber Emil werden wirst. Ich lege eine Abschrift des Teils von Tante Kathinkas Brief ein, der Dich betrifft, u. a., damit Du daraus ersehen kannst, daß sie sich nur in der liebevollsten Weise über ihre Dich betreffenden Sorgen ausgesprochen hat.

Auch Deine Mutter hat mir die herzlichsten Grüße für Dich aufgetragen.

Dein treuer
Vater.

Beilage zu Brief XXXI

(Auszug aus Tante Kathinkas Brief.)

– – Wenn ich nun, mein lieber Bruder, dazu übergehe, Dir etwas über Emil zu erzählen, so geschieht dies infolge einer Verabredung mit der übrigen Familie.

Als wir vorgestern abend bei Paulsens zusammen waren, wurde es mir, als der Ältesten in der Familie, übertragen, diese ein wenig fatale Angelegenheit zu Deiner Kenntnis zu bringen. Nach Deinem letzten Brief scheinst Du ja in dem Glauben zu sein, daß Emil noch immer Mittagsgast der Familie ist. Ich muß Dir nun sagen, daß dies eigentlich nicht der Fall ist. Wohl bleibt unser Anerbieten Emil gegenüber nach wie vor in Kraft, und wir wünschen nichts sehnlicher, als daß er Gebrauch davon machen möchte; aber während des letzten Monats hat niemand von uns – Deine Schwester Caroline vielleicht ausgenommen, – das Vergnügen gehabt, ihn zu sehen. Ich will indessen sogleich bemerken, daß er uns niemals vergebens hat warten lassen. Er sendet seine Absage regelmäßig rechtzeitig durch einen Dienstmann, ein Telegramm oder einen Brief; dadurch aber wird dies Mittagessen bei der Familie für ihn ja freilich nur eine Ausgabe, statt Ersparnis für ihn zu sein.

Überhaupt ist es uns allen unbegreiflich, wie es Emil möglich ist, mit seinen Mitteln auszukommen. Von verschiedenen Seiten hören wir, daß er sich in teuren Cafés und Vergnügungslokalen in Gesellschaft flotter Freunde sehen läßt, und das tut uns allen sehr leid. Ich glaube auch, daß er vor einiger Zeit den Versuch gemacht hat, von Paulsen Geld zu leihen, doch darüber mußt Du nicht reden, denn Paulsen betrachtet das wohl als Geschäftsgeheimnis und hat es nur seiner Frau anvertraut, die es mir wiedererzählt hat.

Doch das alles ist nicht so schlimm wie der Umstand, daß man ihn des Abends in Damengesellschaft gesehen hat, einmal sogar in einer offenen Droschke. Auch weiß ich durch Frau Petersen, die mich neulich besuchte, daß Emil oft nicht vor dem hellen Morgen nach Hause kommt.

Lieber Schwager, wir alle haben Emil so lieb, aber wir fürchten, daß es ihm schlecht ergehen kann, wenn er so fortfährt, wie er begonnen hat; und deswegen meinten wir, daß Du wissen müßtest, wie es mit ihm steht, damit Du rechtzeitig einschreiten kannst. Aber vielleicht tun wir ihm unrecht, und das würde uns allen eine große Freude sein. –

XXXII

H., den 6. November.

Hierdurch teile ich Dir mit, daß ich nicht länger mit Dir verlobt sein will. Ich bitte Dich, überzeugt zu sein, daß ich dies erst nach reiflicher Überlegung schreibe. Aber Du kannst Dich nicht darüber wundern, daß ich nicht an einen Mann gebunden sein kann, der stets das Entgegengesetzte von dem findet, was ich finde, der alles verhöhnt, was mir heilig ist. Ich sende Dir also Deinen Ring zurück und auch die Briefe, die Du mir geschrieben hast. Daß ich Dir nicht auch die Gipsfigur zurückschicke, die Du mir zu meinem Geburtstag geschenkt hast, bitte ich Dich zu entschuldigen, aber ich habe sie neulich zerbrochen. Von dem Augenblick an fühlte ich, daß sich etwas Betrübliches zwischen uns ereignen würde; ich war fest überzeugt, daß es ein böses Omen sei, und das ist denn ja auch eingetroffen.

Ich habe mit diesem Brief gewartet, bis ich ganz ruhig war. Ich wollte nicht in Heftigkeit und Zorn von Dir scheiden. Jetzt habe ich drei Tage geheult und alle die Tränen ausgeweint, die ich auf Lager hatte, und nun bin ich vernünftig. Eigentlich ist es mir ganz wunderbar, daß ich die Sache so ruhig auffassen kann. Es ist beinahe, als ginge mich das Ganze gar nichts an.

Siehst Du, Emil, wir sind ja beide noch sehr jung; es würde schrecklich lange währen, bis wir uns verheiraten können. Wenn wir nun aber viele Jahre lang verlobt sein sollten, ohne uns jemals einigen zu können, so würden wir einander sicher gar bald überdrüssig werden. Du sagst ja freilich in Deinem letzten Brief, daß wir es unterlassen könnten, über Religion und dergleichen zu reden, früher aber sagtest Du gerade das Gegenteil, was Du selber aus Deinen Briefen ersehen kannst, die ich Dir anbei zurücksende. Früher sagtest Du, wenn man einander liebe, so solle man offen und ehrlich über alles sprechen, und darin hattest Du recht. Wenn Du jetzt also sagst, daß es Dinge gibt, über die wir nicht zusammen reden wollen, so geschieht das, weil Du mich nicht mehr so liebst, wie Du es früher tatest.

Sonst hättest Du es auch nicht übers Herz bringen können, so spöttisch und höhnisch zu schreiben wie in Deinen letzten Briefen. Das war sehr häßlich von Dir, ich hätte niemals geglaubt, daß Du so boshaft sein könntest. Aber ich merke sehr wohl, daß Du dort in Kopenhagen ein ganz anderer geworden bist. Ich kenne Dich gar nicht mehr.

Was nun aus mir werden soll, weiß ich wirklich nicht. Es ist ja schrecklich für ein junges Mädchen, wenn ihre Verlobung aufgehoben ist. Dir kann es ja einerlei sein, aber auf mich werden sie alle mit Fingern zeigen, denn was nützt es, daß wir nur heimlich verlobt waren, – alle Menschen hier in H. wissen Bescheid, und jeden Tag muß ich eine Menge anzüglicher Bemerkungen herunterschlucken. Hier in H. kann ich wirklich nicht bleiben. Wenn ich dann doch wenigstens einen großen, edlen Wirkungskreis hätte! Am liebsten würde ich mich als Krankenpflegerin ausbilden lassen; wenn dann nur die Cholera käme, damit ich als barmherzige Schwester wirken könnte!

Ich möchte Dich noch bitten, mir meine Briefe zurückzusenden. Wenn Du mir dabei schreiben solltest, so versuche bitte nicht, mich versöhnen zu wollen. Mein Beschluß steht unerschütterlich fest. Gott gebe, daß Du einstmals auf andere Gedanken kommen mögest.

Emilie.

XXXIII

Kopenhagen, den 7. November.

Lieber Vater!

Dein Brief war klar und deutlich. In wenige Worte zusammengefaßt, würde er lauten: Du bist pekuniär von mir, Deinem Vater, abhängig, ergo hast Du blindlings zu gehorchen und zu glauben, was ich glaube. Du hast nicht die Mittel, Dein Leben auf eigene Rechnung zu leben.

Ich will ebenso deutlich antworten: Ich danke Dir für die Zeit, da ich Deine 35 Kronen per Monat genossen habe; ich wünsche sie nicht länger zu empfangen. Wie ich fernerhin existieren werde, das ist meine Sache. Das, worauf es ankommt, ist, daß Du fortan keine Unbequemlichkeit durch mich haben sollst; ich will Dir nicht länger zur Last fallen. Und damit fällt Dein schöner, pädagogischer Plan, mich aus der Hauptstadt mit ihren Verlockungen und ihrer Gottlosigkeit zu entfernen, von selber in sich zusammen.

Gleichzeitig mit diesem Schreiben sende ich Tante Kathinka einen Brief, in welchem ich ihr als der offiziellen Bevollmächtigten der Familie mitteile, daß ich mich mit gebührendem Dank von der wohltätigen Mittagspeisung zurückziehe. Offen gestanden, hingerissen von Dankbarkeit bin ich dieser Armenhilfe gegenüber eigentlich niemals gewesen, mußte ich sie mir doch auf langen Expeditionen in die verschiedensten Teile der Stadt verdienen und mit einem bescheidenen, tadellosen Lebenswandel honorieren. Wenn ich nun obendrein noch erfahre, daß die Familie sich berechtigt glaubt, in ihrer Eigenschaft als meine Mitversorger mein Leben auch außerhalb der Mittagszeit zu kontrollieren, und daß man Anstoß daran nimmt, daß ich, der ich gratis abgefüttert werde, »feine Cafés« besuche, ja sogar in einer Droschke gesehen worden bin, so – das gestehe ich – vergeht mir der Appetit völlig.

Ich wünsche nach keiner Richtung hin irgend etwas zu beschönigen. Ja, Tante Kathinka hat recht: ich habe Onkel Paulsen um ein Darlehen gebeten. Daß ich es nicht erhielt, führe ich nicht als mildernden Umstand an, sondern um Dir zu beweisen, daß der Kohlenhändler Herr Paulsen in der Beziehung wirklich ein Mann von festen Grundsätzen ist. Dahingegen solltest Du Dich doch nicht so ganz unbedingt auf Tante Kathinkas Versicherung verlassen, daß Herr Paulsen die Gesuche um ein Darlehn als Geschäftsgeheimnis behandelt.

Was nun die berüchtigte Droschke mit weiblicher Begleitung anbetrifft, so muß ich auch hier die Richtigkeit der Anklage zugeben. Ich bin wirklich vor einigen Wochen eines Abends in einer offenen Droschke gefahren, in der u. a. eine Dame saß. Außer der Dame und mir befand sich in besagtem unmoralischen Beförderungsmittel der junge Herr Svane, und die Dame war – seine Schwester. Wir kamen von einer unanständigen Belustigung, – wir hatten nämlich den »Orpheus in der Unterwelt« im Volkstheater gesehen.

Im übrigen will ich mich durchaus nicht damit rühmen, daß ich nur mit so feinen Damen wie Fräulein Svane verkehre. Aber dies gehört in engstem Sinne zu meinem Privatleben, und ich habe keineswegs die Absicht, mich in bezug darauf in detaillierte Rechtfertigung einzulassen.

Schließlich will auch ich mein Herz sprechen lassen. Obwohl Du mich ja als scheinbar kaltes und verhärtetes Gemüt stempelst, kannst Du Dich doch nicht entschließen, zu glauben, daß alle besseren Gefühle bei mir völlig erloschen sein sollten. Nein, lieber Vater, darin hast Du recht. Du brauchst mich nicht auf ciceronianische Weise als einen Catilina zu behandeln. Mein Herz steht allen guten, liebevollen Worten offen, es verschließt sich aber störrisch der Rede, die sich Eintritt erzwingen will, indem sie auf selbstangemaßte Forderungen pocht.

In Wirklichkeit ist mein Herz voll Kummer über die Bitterkeit und den Streit, der zwischen uns getreten ist. Nachgeben kann und will ich jedoch nicht, denn jetzt kämpfe ich buchstäblich um mein Leben.

Ich glaubte, der Streit würde sich vermeiden lassen. Ich glaubte, Du würdest meinen Anspruch auf persönliche Selbstbestimmung verstanden und anerkannt haben. Von diesem Glauben ausgehend, schrieb ich seinerzeit den Brief, der Dich – zu meiner großen Überraschung und Enttäuschung – so erbittert hat.

Jetzt sehe ich ein, daß wir beide zwei verschiedene Sprachen miteinander reden, in denen die Worte dieselben sind, stets aber mit einer verschiedenartigen Bedeutung. Von einer gegenseitigen Verständigung kann natürlich keine Rede sein.

Für mich kommt jetzt ja eine ernste, angestrengte Zeit. Aber ich fühle mich stark und energisch genug, um auf eigenen Füßen stehen zu können. Ich habe bereits verschiedene Pläne gemacht, um das erforderliche Geld zu verdienen. Ob ich meine Wohnung bei Frau Petersen behalten werde, weiß ich noch nicht. Natürlich erhaltet Ihr Nachricht, sobald etwas Bestimmtes abgemacht ist.

Herzliche Grüße an alle.

Dein treuer Sohn
Emil.

XXXIV

Den 9. November.

Liebe Emilie!

So ist es denn also vorbei! Ja, Du hast gewiß recht, es ist so am besten – für Dich und für mich. Wir sind jung, zu eckig, zu eifrig, zu halsstarrig, um mit unsern verschiedenen Ansichten zusammen in demselben Gespann zu gehen. Wir würden unsere jugendliche Verliebtheit sich in Bitterkeit darüber verzehren lassen, daß der eine nicht so ist wie der andere.

Und doch, – nicht wahr – es ist schwer zu scheiden. Meine liebe, kleine Mis – zum letztenmal nenne ich Dich so – es tat mir ein klein wenig weh, zu sehen, wie besorgt Du in Deinem »Absagebrief« warst, Deinen Gefühlen Luft zu machen. Ich stimme völlig mit Dir darin überein, daß wir Abschied voneinander nehmen müssen; aber ich kann nicht mit einem kühlen, fremden Gruß von Dir gehen. Wenn ich Dich bei mir hätte, würde ich Dich auf meinen Schoß ziehen, ich würde Deine kleine, warme Hand lange in der meinen halten, ich würde noch einmal in Deine dunklen, graublauen Augen schauen, die so kindlich leicht vom Lächeln in Betrübnis übergehen, und ich würde, selbst wenn Du ein klein wenig Widerstand leistetest, Deinem Mund und Deinem Hals und Deinen neugierigen kleinen Ohren einen Abschiedskuß geben, der Dir sagen sollte: Leb' wohl und hab' Dank! Leb' wohl und auf Wiedersehen! Denn, wenn wir uns jetzt auch trennen, so ist es doch nicht notwendig, daß wir uns niemals wiedersehen sollen. Wenn Jahre darüber hingegangen sind, wenn das Leben einen jeden von uns an seinen Bestimmungsort geführt hat, sollen wir einander da nicht in freundlicher Erinnerung an diese unsere Frühlingssonne begegnen können, an die Zeit, als wir uns in leichten, glücklichen Sonnenschein-Hoffnungen fanden und von schweren Frühlingsschauern auseinandergetrieben wurden, die uns freilich nicht allzuarg zerzausten, so daß wir unsern Federschmuck schnell wieder in Ordnung bringen konnten?

Du sagst, Dein Leben sei zerstört. Das kannst Du nicht im Ernst meinen. Natürlich verstehe ich Deinen Wunsch, eine Wirksamkeit zu haben, die Deine Gedanken beschäftigen und Dein Leben ausfüllen kann. Aber selbst ohnedem wirst Du, frisch und gesund wie Du bist, wieder zu Kräften kommen. Und Du sollst sehen, Du wirst bald einen andern, einen »Würdigeren« finden, der Dir das ruhige Glück, das hilfreiche Verständnis zu bieten vermag, das Du bei mir hast entbehren müssen, – wird es mir selber doch schwer genug, mich hindurchzuringen.

Mir wird die nächste Zeit viel Ernst und viel Arbeit bringen. Ich gehe ihr mit frohem Mut entgegen. Mich erfüllt eine heiße Sehnsucht, mich mitten in die Wellen des Lebens hineinzustürzen, ich brenne vor Ungeduld, mir einen möglichst großen Teil der Welt zu erobern. Ich würde lügen, wenn ich leugnen wollte, daß ich es für das beste für mich halte, ohne Band, ohne Verpflichtungen in die Welt hinauszuziehen. Gleichzeitig aber bin ich voll Dankbarkeit in Erinnerung alles dessen, was Du für mich gewesen bist. Wenn ich Dir, meiner Kinderbraut, Lebewohl sage, so geschieht es mit tiefer Wehmut. Es ist mir, als wäre ich im Begriff, eine große Seereise anzutreten, während mir vom Lande her ein liebes, süßes Antlitz Lebewohl zunickte, und ein weißes flatterndes Taschentuch mir einen letzten Gruß aus einer Zeit brächte, die nie wiederkehren wird. Zum erstenmal fühle ich, daß ich etwas verlasse; daß ich anfange, eine Vergangenheit zu haben, daß ich mit der Zukunft geizen muß.

So leb' denn wohl, mein süßes Lieb, hab' Dank für alles Gute!

Dein
Emil.

XXXV

Den 15. November.

Lieber Svane!

Dein Billett mit der Nachricht, daß Du nach Jütland gereist bist, um die goldene Hochzeit Deiner Großeltern zu feiern und acht Tage fortzubleiben, war mir eine große Enttäuschung. Ich wollte gerade in diesen Tagen gern über eine sehr wichtige Angelegenheit mit Dir sprechen. Es scheint mir, als fühltest Du Dich ein wenig dadurch gekränkt, daß Du so lange nichts von mir gesehen hast. Aber ich hege die Hoffnung, daß Du mir verzeihen wirst. Ich bin in dieser ganzen Zeit nicht normal gewesen. Ich habe mich in einem recht peinlichen Kampf mit mir selber und meinen nächsten Angehörigen befunden, in einem Kampf, der alle meine Kräfte in Anspruch genommen hat. Wie ein Rechtsanwalt habe ich mich in zahlreichen, langen Schriftstücken verteidigen müssen. Schließlich wurde die Verhandlung – was noch weit anstrengender war – mündlich geführt, indem mein alter Vater mich neulich morgens im Bett überraschte.

Du weißt, daß das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater in letzter Zeit sehr gespannt war, und Du kennst die Gründe. Es kam zu einer großen Auseinandersetzung, bei der wir beide hartnäckig auf unserer Ansicht bestanden; es wurden harte und bittere Worte zwischen uns gewechselt. Schließlich kündigte ich ihm Treue und Ergebenheit. Ich erklärte, daß ich in Zukunft mein eigener Herr sein wolle, auch insofern, als ich fortan für mich selber sorgen würde. Nach diesem Salut hing der alte Hüne sein Fell über die Schulter und zog nach der Hauptstadt, um seinen widerspenstigen Sohn durch einen coup de main zum Gehorsam zu zwingen. Dies mißlang vollständig. Nach einer ebenso betrübenden wie häßlichen Szene schieden wir in Unfrieden voneinander. Ich aber behauptete die Walstatt.

So weit habe ich meinen Willen durchgesetzt. Und im Grunde bereue ich auch nicht, was geschehen ist. Aber was nun? Ich lasse meinen Blick über die Walstatt gleiten, die ist öde und leer. Als kläglicher Sieger stehe ich da, aller Hilfsmittel entblößt. Diesen Monat habe ich freilich noch ein Dach über dem Haupte; vom 1. Dezember an bin ich aber darauf angewiesen, von den 20 Kronen monatlich zu leben, die ich in meiner Schule verdiene. Bei den Neigungen, die mir von Natur angeboren sind und bei den Gewohnheiten, die ich mir allmählich zugelegt habe, und die ich infolge meiner Neigungen sehr schwer und sehr ungern ablegen werde, wirst Du begreifen, daß diese 20 Kronen nur gleichsam ein Tropfen im Meere sind. Daß meine Lage von vornherein recht bedrückt war, weißt Du. Außer meiner Angelegenheit mit dem Biedermann Carlsen habe ich bedeutende – wenn auch weniger drängende Verpflichtungen, dem Schneider, dem Schuster und andern barmherzigen Samaritern gegenüber; daneben hier und da noch kleinere Klackerschulden, die mit andern kleinen Bächen zusammen einen ganz ansehnlichen, unüberkommbaren Fluß bilden.

Also: ich soll und muß Geld verdienen, und zwar gar nicht so wenig. Ich habe folgenden Überschlag gemacht: Ich ziehe in ein Pensionat; für 60 Kronen monatlich kann ich wohl eine einigermaßen gemütliche Bude und eine nicht ganz ungenießbare Kost bekommen. Das macht 720 Kronen im Jahr. Für Kleider, Taschengeld und »unberechenbare« Ausgaben veranschlage ich 580 Kronen. Meinst Du nicht auch, daß ich damit auskommen kann? Aber von den 1300 Kronen habe ich vorläufig nur 240. Es fehlen mir also noch 1060 Kronen.

Weißt Du irgendeine anständige Art und Weise, wie ein Student 1060 Kronen verdienen kann? Meiner Familie gegenüber habe ich mir den Anschein gegeben, als sei es eine Kleinigkeit für mich, ganz bedeutende Summen zu verdienen. Dir kann ich es aber gestehen, daß es Prahlerei war. Ich habe gesonnen und gesonnen; des Nachts mache ich Pläne, die mir großartig erscheinen, bis der Morgen kommt und sie beleuchtet; da grinsen sie mich denn ganz lächerlich an. Einige von diesen Plänen indessen kehren mit einer wahren Unermüdlichkeit wieder und wieder. Obgleich ich darauf vorbereitet bin, daß auch Du mich auslachen wirst, wenn Du sie vernimmst, so will ich sie Dir doch in meiner Herzensnot mitteilen.

Der eine Plan ist, Deinen Vater zu fragen, ob er nicht in seinem Kontor Verwendung für mich hat. Ich bin ja freilich nicht für den Handelsstand erzogen und ich möchte ja auch ungern den ganzen Tag gebunden sein. Aber trotzdem! Glaubst Du nicht, daß er einen »akademisch gebildeten« jungen Mann als Privatsekretär oder dergleichen gebrauchen könnte? Würdest Du ihm eventuell einmal auf den Zahn fühlen?

Mein zweiter Plan ist, – nun ja, ich will nur lieber gleich mit der Tür ins Haus fallen – Journalist zu werden. Du kennst ja diesen oder jenen meiner dichterischen Versuche, Du hast Dich mit wohlwollender Nachsicht über meine Fähigkeit die Feder zu führen, ausgesprochen. Ich selber habe stets eine brennende Lust gehabt, unters »Federvieh« zu gehen, – doch dem lege ich keine große Bedeutung bei, da ich weiß, daß ich diese Lust mit den meisten jungen Studenten teile; auch würde ich nur dann Journalist werden, wenn ich wirklich Aussicht hätte, es zu etwas Tüchtigem zu bringen.

Was sagst Du nun hierzu? Und hast Du einen Begriff davon, wie man es anfängt, Journalist zu werden? Ich bin in der Beziehung grenzenlos naiv. Soll man ohne weiteres zu dem Herrn Redakteur gehen und sagen: »Gestatten Sie einem jungen Manne jährlich 1060 Kronen zu verdienen, indem er für Ihr wertes Blatt schreibt? Hochachtungsvoll ergebenst Emil Holm« – – oder was soll man tun?

Ach, wenn Du doch nur hier in der Stadt wärest! Ich bedarf, wie Du siehst, gar sehr eines Freundes und Ratgebers.

Von fröhlichen Dingen ist nichts zu berichten. Selbst in bezug auf die Liebe steht es traurig um mich. Infolge aller dieser ernsten Scherereien, von denen mir der Kopf ganz eingenommen war, habe ich die kleine Amalie gänzlich vernachlässigt, sie ist hierüber beleidigt und gibt ihrer Verstimmung Ausdruck in zahlreichen Briefen, mit deren Beantwortung ich es nur so ganz sachte angehen lasse. Offen gestanden, ich bin ihrer ein wenig überdrüssig. Es ist gewiß unrecht gegen sie, aber ich kann nichts dabei machen: ihre Leidenschaft für gebratene junge Hühner und schwedischen Punsch, sowie ihre orthographischen Fehler verderben mir in gleichem Maße die Laune.

Grüße Deine Schwester herzlichst, laß ihr gegenüber aber, bitte, nichts von meinen Nöten verlauten.

Dein getreuer
Emil Holm.

XXXVI

Kragholm bei Viborg, den 17. November.

Lieber Freund!

Das also ist das Ende vom Liede! Nun denn, in Gottes Namen! Möge es für Dich zum Segen werden. – – Du mußt Dich nicht daran stoßen, daß ich Dir gegenüber in diesen biblischen Ton verfalle! Du selber hast mich dazu veranlaßt. Du übst überhaupt immer einen religiösen Einfluß auf mich aus. Zu sehen, wie sich ein Vater und ein Sohn, den gebildeten Klassen angehörig, heutzutage um ihres Glaubens willen gegeneinander erheben, das ist für mich etwas so Fremdartiges, Feierliches, daß mich eine förmliche Bewegung dabei überkommt.

In meiner Familie, die ja doch auch eine ganz nette Familie ist, und in der selbst mit Bischöfen und Propsten ein flotter Verkehr unterhalten wird, könnte ich mir einen Streit über Anschauungen – weder in religiöser noch in moralischer Beziehung – überhaupt gar nicht vorstellen. Papas Verhältnis zur Kirche äußert sich darin, daß er alljährlich dreimal – an den Festtagen erster Rangklasse – in die Frauenkirche geht, und daß er mindestens ebensooft seinen Seelsorger zu einem besseren Mittagessen bei sich sieht. Was mich selber anbetrifft, so bin ich nach jeder Richtung hin standesgemäß getauft und konfirmiert, und ich stehe auf dem allerbesten Fuß mit Sr. Hochwürden, der auf unserm letzten Diner, nachdem er mir in einem kleinen bescheidenen Whist zu 10 Öre, 10 Kronen 50 Öre abgeknöpft hatte, auf mein spezielles Wohl trank und mir versicherte, ich sei einer seiner liebsten Konfirmanden gewesen. Ich kenne die Kirche und alles, was dazu gehört, überhaupt nur von der liebenswürdigsten Seite. Daß wir unsere häusliche Gemütlichkeit durch aufreibende Streitigkeiten über das, was wir glauben oder was wir nicht glauben, aus dem Gleichgewicht bringen sollten, wäre ebenso undenkbar, als daß Papa die Nerven meiner Mama durch seine Geschäftsangelegenheiten beunruhigen könnte.

Mein einziger – wenn ich mich so ausdrücken darf – kirchlicher Konflikt mit Papa entstand bei meiner Schwester Konfirmation, als ich auf ihrer Seite war mit meiner Ansicht, daß sie zu dieser Feier eine weiße Crepe de Chine Robe tragen müsse, während Papa mit wirklich imponierender Heftigkeit behauptete, es sei unpassend, wenn junge Mädchen in etwas anderem als in einem schwarzen seidenen Kleid konfirmiert würden.

Du mußt diese ganz persönlichen Bemerkungen verzeihen. Aber jetzt wirst Du mein Erstaunen über Deinen Fall besser begreifen können.

Gehen wir nun über zu der Erwägung dessen, was Du tun mußt.

Vorerst eine kleine Frage. Wenn Du sagst, daß Du von 1300 Kronen jährlich leben willst, alles einberechnet, so ist das doch wohl nur ein liebenswürdiger Scherz? Du erwähnst selber Deine keineswegs sparsamen Neigungen und Gewohnheiten. Ja, wahrlich, die Anerkennung muß man Dir zollen, daß Du Dich mit überraschender Geschwindigkeit zu einem Kulturmenschen mit außerordentlich feinem Verständnis für die Güter des Lebens entwickelt hast. Aber für 1300 Kronen erhält man in unserem betrügerischen Zeitalter nur ein sehr kärgliches tägliches Brot. Du weißt, daß ich im innersten Innern meiner unsterblichen Seele ein fanatischer Sozialdemokrat bin. Ich begreife so gut die Erbitterung darüber, daß neun Zehntel des Menschengeschlechts ein elendes Dasein fristen müssen, während das eine Zehntel mit dem fetten Bissen davongeht. Ich sympathisiere durchaus damit, daß diejenigen, die wenig haben, mehr haben wollen. Und ich finde es unsagbar komisch, wenn mein Papa und andere Matadore sich über die zunehmende Genußsucht der unteren Klassen aufregen. Wenn die Arbeiter und diese Art Leute trotzdem einigermaßen zufrieden sein können, so hat das seinen Grund darin, daß sie niemals einen Begriff davon gehabt haben, was es heißt, gut zu leben. Aber ein Mensch wie Du, der mit gesundem Appetit von der Frucht am Baume der Erkenntnis gekostet hat, würde elend und unglücklich werden, wenn man ihn plötzlich auf schmale Kost setzen wollte. Selbst wenn Du die allerbesten Vorsätze in bezug auf Sparsamkeit hast, wenn Du jetzt auch fest entschlossen bist, Dein knappes Budget innezuhalten, so wirst Du es gar bald überschreiten. Du wirst nicht die Resignation einer armen Arbeiterfrau besitzen, die, nachdem sie sich in den leckeren Anblick aller der Herrlichkeiten vertieft hat, die im Fettwarenkeller ausgestellt waren, ruhig – und ohne einen Einbruch zu verüben – nach Hause geht zu ihrem kärglich besetzten Tisch, fest überzeugt, daß das Fette in dieser Welt nicht für sie geschaffen ist.

Also, ich glaube nicht daran, daß Dein Budget sich halten wird. Aber, kommt Zeit, kommt Rat. Kannst Du Dir nur eine einigermaßen feste Einnahme verschaffen, so wirst Du Dich mit Hilfe von Kredit, der ja ebenso wie andere Annehmlichkeiten dieser Welt für die besseren Stände und für die hoffnungsvollen Kinder dieser besseren Stände eingerichtet ist, schon zu behelfen wissen, bis Dir bessere Zeiten lächeln.

Wenn Du Dich nun in bezug auf Deine Geldspekulationen u. a. auf meinen Papa vertröstet hast, da rate ich Dir gleich von vornherein ganz energisch, diesen Gedanken aufzugeben. Papa hat allerdings Verwendung für eine ganze Reihe von jungen Menschen, aber für Leute wie Du und Deinesgleichen ist sein Kontor nicht eingerichtet. Er ist ein prächtiger Kerl, – ich, der ich ihn beerben soll, klage nicht über ihn – ein Sozialdemokrat aber er ist nicht. Seine Geschäftsprinzipien, die seiner Überzeugung nach im schönsten Einklang mit dem Willen Gottes und den staatserhaltenden Ideen stehen, könnte man in den kurzen Satz zusammenfassen: so viel wie möglich und so billig wie möglich zu kaufen. Diese Grundsätze hält er auch unerschütterlich in Ehren, wo es sich um Anschaffung seines Kontorpersonals handelt. Vielleicht liegt dieser Auffassung ein schöner, moralischer Gedanke zugrunde. Das steht fest: er kann es durchaus nicht leiden, wenn seine jungen Leute träge sind, deswegen fesselt er sie täglich 10 Stunden ans Pult und er bezahlt diese Arbeit in einer Weise, daß er sicher sein kann, daß die Betreffenden des Abends in ihren Mußestunden kein schwächendes, zügelloses Leben führen. Ich weiß, daß Du sein Herz gewonnen hast. Aber gerade deswegen würde er sich niemals entschließen können, Dich auf sein Kontor zu nehmen. Er ist, wie gesagt, ein prächtiger Kerl.

Aber ganz im Ernst, es wäre auch wirklich nichts für Dich. Du eignest Dich gar nicht für das Geschäftsleben. Nein, – aber für die Journalistik bist Du wie geschaffen. Ich glaube, Du hast hier das Richtige gefunden.

Es soll dies kein Hohn sein. Ich weiß sehr wohl, daß die Journalistik heutzutage für eine ganze Menge junger Leute, die zu sonst nichts zu gebrauchen sind, das gelobte Land geworden ist. Aber die Leichtmatrosen der Presse zähle ich nicht zu den Journalisten. Sie kommen und gehen, ohne eine Spur zu hinterlassen, sie können an einer Zeitung ja zu einer Art Arbeit verwendet werden, die weder Kenntnisse, Ernst noch Kunst erfordert, aber sie werden niemals etwas anderes als Statisten. Ich weiß auch, daß die Journalistik oft auf höchst unappetitliche Weise betrieben wird. Ich habe zwei Journalisten gekannt, beides ursprünglich ein paar tüchtige Burschen, die etwas zu werden versprachen. Der eine arbeitet jetzt träge an einem Blatt, über das er sich in offenherzigen Augenblicken – wenn er ein paar Gläser getrunken hat – mit der ganzen Verachtung seines bessern Menschen äußert. Er gibt zu, daß er in Wirklichkeit mit den Personen sympathisiert, die er, der Parole seines Blattes folgend, angreifen muß; er schlägt mit der Faust auf den Tisch und schwört, daß das jetzt ein Ende haben soll. Am nächsten Morgen aber schleicht er mit seinem Katzenjammer wieder auf die Redaktion und fährt fort, sich alle Ehre und alles Anstandsgefühl von der Seele zu schreiben. Der andere gehört zu den bösartigeren Spezies. Er verkauft sich aus kalter Berechnung dem Meistbietenden und bedeckt seine Schande nicht einmal mit einem Feigenblatt. Er trägt sie vor aller Welt offen zur Schau. Im Laufe eines Jahres hat er die Runde in allen Anschauungen gemacht und er wird fortfahren, Karussell zu fahren, solange es noch Ringe zu stechen gibt.

Lieber Holm, wenn ich nicht glaubte, daß Du Talent hättest, und wenn ich Dich nicht für einen grund-anständigen Menschen hielte, so würde ich zu Dir sagen: Bleibe um Gotteswillen der Journalistik fern, sie kann das schönste, aber auch das häßlichste Metier sein.

Die größte Schwierigkeit liegt in Deiner Jugend. Hättest Du wenigstens nur einen Dr. phil., den Du auf Deine Visitenkarte setzen könntest! Auch bist Du natürlich in Politik und allen den öffentlichen Verhältnissen, die ein Journalist kennen muß, wohl nicht gerade sehr bewandert. Aber das könntest Du wohl alles allmählich lernen. Vorläufig handelt es sich für Dich ja nur darum, den betreffenden Herrn Redakteur davon zu überzeugen, daß Du die nötige Bildung und Federgewandtheit besitzest. Hast Du erst einen Fuß im Steigbügel, so hängt es nur von Deiner eigenen Energie und Tüchtigkeit ab, wie fest Du im Sattel sitzen wirst.

Was meinst Du, wenn Du der betreffenden Zeitung als Probe einen Auszug Deiner Briefe aus dem ersten Universitätsjahr sendetest? Es müssen sich zweifelsohne sehr lesenswerte und pikante Sachen darunter befinden.

Dies ist ja selbstredend nur ein Scherz, aber irgend etwas müßtest Du doch wohl herausfinden können, wodurch Du das Interesse des Redakteurs gewinnen könntest.

In wenigen Tagen bin ich wieder zurück; da können wir die Sache mündlich weiter bereden. Bis dahin halte den Kopf nur hoch! Hunger sollst Du auf alle Fälle nicht leiden, solange Konferenzrat Svane noch etwas mehr als das trockene Brot zur Verfügung hat.

Meine Schwester erwidert Deine Grüße auf das freundlichste. Sie hat es schon lange kommen sehen, daß Du als Poet oder dergleichen enden würdest, seit dem Moment nämlich, als sie Dein allerliebstes Vielliebchen-Gedicht erhielt, in dem Du ihre »Sammetaugen« besangest. Das naive Kind ahnt nicht, daß diese Sprachblüte aus dem Kräutergarten der landläufigen Poesie gestohlen war, und da sie schöne Kleider über alles liebt, ist sie ganz entzückt von ihrem Sammet.

Die goldene Hochzeit wurde im stillen Familienfrieden und mit gesunder, ländlicher Beköstigung gefeiert. Diese acht Tage, fern von den Aufregungen des hauptstädtischen Lebens, haben auf mich dieselbe Wirkung wie eine gelinde Karlsbader Kur.

Dein getreuer Freund
William Svane.

XXXVII

Den 17. November.

Liebe Amalie!

Es tut mir leid, daß Du mich mehrmals vergebens aufgesucht hast. Ich war in letzter Zeit sehr in Anspruch genommen. Deine Pläne, von Hause fortzuziehen und zusammen mit Deiner Freundin Augusta ein paar Zimmer zu mieten, billige ich nicht so ganz. Du sagst freilich, daß Du Dich durch Mäntelnähen ernähren kannst; aber selbst wenn Du durch Augustas Verlobten Arbeit bekommst, wie Du es hoffst, so ist es doch allemal eine riskante Sache. Natürlich würde es angenehm sein, wenn wir uns ungenierter treffen könnten; aber ich kann ein so großes Opfer von Dir nicht annehmen. Eine andere Sache wäre es, wenn ich so gestellt wäre, daß ich Dir eine einigermaßen sorgenfreie Existenz sichern könnte. Nun trifft es sich aber leider so unglücklich, daß ich gerade in der nächsten Zeit selber große Schwierigkeiten haben werde, mich durchzuschlagen. Infolgedessen bin ich auch so beschäftigt, daß ich leider nicht oft werde mit Dir zusammen sein können. Ich muß meine Zerstreuung nach jeder Richtung hin einschränken und muß, wie leid mir es auch tut, darauf verzichten, so häufig mit Dir zusammen zu sein wie bisher.

Ich rate Dir deswegen eindringlich, zu Hause wohnen zu bleiben und ein gutes Verhältnis mit Deinen Eltern zu bewahren. Wenn wir uns nicht mehr so oft sehen, wird das ja auch sehr viel leichter für Dich sein. Und selbst wenn es nicht immer so amüsant für Dich ist, zu Hause zu sein, so hast Du doch einen Anhalt – bis Du einmal einen braven Mann findest, mit dem Du Dich verheiraten kannst.

Überlege Dir nun meine Ratschlage, und wenn Du ein vernünftiges kleines Mädchen bist, so wirst Du mir recht geben. Ich habe Dich so von Herzen lieb, und Du bist so gut gegen mich gewesen, daß es mich aufrichtig betrüben würde, wenn es Dir jemals im Leben schlecht gehen sollte.

Während der nächsten 8–14 Tage wird es mir wohl kaum möglich sein, Dich zu sehen. Zu all meiner Arbeitslast kommt noch die Unbehaglichkeit eines Umzuges. Ich werde Dir indessen bald einmal wieder schreiben.

Freundlichst
Dein Emil.

P. S. Du sagtest neulich, daß Du jetzt, wo es Winter wird, gern eine Muffe haben möchtest. Willst Du vielleicht 15 Kronen zu der Erfüllung dieses kleinen Wunsches benutzen? D. O.

XXXVIII

Pilesträde 89 III links, den 20. November.

Wenn ich Dir schreibe, so geschieht es nur, um Dir zu sagen, daß Du mir keinen Brief wieder in die Sölvgade senden sollst. Ich bin gestern von Hause fortgezogen und wohne nun zusammen mit Guste in der Pilesträde, was Du aus der Adresse ersehen kannst.

Du hast Dich recht ordinär gegen mich benommen, und ich hätte niemals geglaubt, daß Du so ordinär sein könntest. Denn selbst wenn ich nur ein armes Mädchen bin, so hast Du mich doch verführt und mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Aber das wäre alles ganz egal, wenn Du mich nur noch lieb haben wolltest. Aber ich habe es schon lange gemerkt, daß ich Dir über bin, und es war auch furchtbar dumm von mir, daß ich Dir Deinen Willen tat. Und seit jenem Abend, als wir mit Svane zusammen waren, von dem ich lieber nicht sagen will, was er ist, bist Du schlecht und häßlich gegen mich gewesen.

Ich weiß auch recht gut, weshalb Du willst, daß ich bei meinen Eltern bleiben soll, aber das ist mir ganz egal, denn selbst wenn Du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, so gibt es genug andre, die mich gern haben wollen, und ich bin zu stolz, um zu Hause zu bleiben und mich von Mutter hunzen und von Vater schimpfen zu lassen, weil ich Dich gekannt habe, und das würde noch viel schlimmer werden, wenn Du nichts mehr mit mir zu tun haben willst.

Du brauchst auch nicht zu glauben, daß Du mir einbilden kannst, daß Du nur, weil Du so viel zu tun hast, nicht mehr mit mir zusammen sein willst. Ich will Dir nur sagen, daß ich vorgestern vor Deinem Haus aufgepaßt und Svanes alte Liebste, Toinette, zu Dir hinaufgehen sah. Daß Du Dich aber mit der Dirne abgeben magst, verstehe ich wirklich nicht. Sie ist, wie alle Welt weiß, nicht wählerisch in ihrem Umgang, und ich kann nicht begreifen, was Du an der haben kannst. Denn sie ist doch der reine Seelenverkäufer, und ihr Benehmen ist mehr als roh. Aber man sagt ja, daß Du Svanes abgelegte Kleider trägst, wozu ich mich an Deiner Stelle wirklich zu gut halten würde.

Was aus mir werden wird, weiß ich noch nicht, aber das ist mir auch ganz egal. Es ist ja recht hübsch von Dir, daß Du jetzt so besorgt bist, daß es schief mit mir gehen könnte, aber das hättest Du lieber damals bedenken sollen, als Du mich verführtest, und als ich noch ein anständiges Mädchen war. Damals aber sagtest Du, es wäre dumm von mir, wenn ich mich nicht amüsieren wollte, solange ich noch jung wäre, und ich konnte ja auch nicht auf den Gedanken kommen, daß Du, der Du so süß und so lieb warst, Dich so gegen mich benehmen würdest. Ach, Emil, wie kannst Du doch nur so häßlich gegen mich sein, ich hab' Dich ja doch immer so lieb gehabt, und habe alles getan, was Du wolltest.

Aber ich will Dir wünschen, daß Dir nie im Leben ein solcher Kummer zustoßen möge, wie Du mir ihn jetzt bereitet hast, und ich möchte Dich bitten, hin und wieder einmal mit Liebe an Deine kleine Male zu denken, wie ich trotz allem auch an Dich denken will. Und wenn Du mich mal besuchen willst, so komme am liebsten zwischen 3 und 5 Uhr, denn dann ist Gusta aus.

Jetzt nur noch einen Gruß, dann will ich Dich auch nicht weiter belästigen.

Amalie.

Nachschrift. Deine 15 Kronen sende ich Dir anbei zurück. Ich kann die Muffe, die ich habe, gut noch tragen.

D. O.

XXXIX

Rosenvänget, Villa Pax, den 20. November.

Lieber Emil!

Das sind ja nette Sachen, die in der Familie über Dich kursieren! Mir summen die Ohren noch von all dem Schrecklichen, das Du begangen hast, und das ich gestern erfuhr, als ich Paulsens besuchte.

Ja, ja, mein Freund, trotz alledem spreche ich Dir meine Glückwünsche aus. Ich will nicht darüber urteilen, ob Du Deinem Vater gegenüber wirklich ein so großes Unrecht begangen hast, wie man sagt. Daß Du Dich jugendlich und leichtsinnig benommen hast, daran zweifle ich nicht. Aber das gefällt mir nun gerade. Ich glaubte schon, daß unsere Familie auf dem besten Wege sei, vor lauter Tugend und Artigkeit zu verkümmern. Niemals werde ich den trübseligen Eindruck vergessen, den ich, als ich Euch das letztemal in H. besuchte, von der blinden Untertänigkeit des Hauses gegenüber dem von den Vätern Ererbten erhielt. Ihr alle schlichet auf Filzschuhen um den Thron Eures Vaters herum und lauschtet mit gespannter Andacht den weisen Worten, die von dort ausgingen. Und, Du lieber Gott, was für entsetzte Gesichter Ihr machtet, wenn ich einmal mit einem kleinen Donnerwetter dazwischen platzte!

Du magst nun recht haben oder nicht, – jedenfalls hast Du das Herz Deiner rebellischen Tante gewonnen. Und das war's, was ich Dir sagen wollte. Und obwohl ich mir habe erzählen lassen, daß Du Dich allein durchkämpfen willst, so möchte ich Dir trotzdem mitteilen, daß die 300 Kronen, die ich Dir vor einiger Zeit abschlug, für Dich in meiner Schatulle liegen. Du kannst sie Dir abholen, wann Du willst. Nur stelle ich die Bedingung, daß Du mir gleichzeitig einen Abend schenkst, an dem wir beide ein Gläschen auf Dein Wohl trinken wollen.

Deine Dich liebende Tante
Caroline.

XL

H., den 23. November.

Lieber Emil!

Fürchte nicht, daß dieser Brief die »Attentate« auf Deine Freiheit zu erneuern beabsichtigt. In der Beziehung habe ich mich nach unserer Unterredung in Kopenhagen resigniert. Als Du mich schließlich noch verstehen ließest, daß Du über das Alter hinaus seiest, in dem ich Dich »mit juristischem Recht und unter Zuhilfenahme der Polizei« zwingen könnte, fühlte ich, daß alles verloren war: Du warst der Stärkere.

Das fühlte ich, nicht weil Du das Gesetz und die Polizei auf Deiner Seite hattest, sondern weil Deine Worte von einer Jugend Zeugnis ablegten, die sich selber genügt und rücksichtslos alles beiseite drängt, was sie beengt; – weil Du meiner, Deines Vaters, nicht mehr bedarfst, während ich immer noch an Dir hänge.

Ja, mein Junge, das ist der Unterschied zwischen uns. Für mich bist Du Teil meines Fleisches und Blutes gewesen und wirst es auch stets sein, Du bist aus mir herausgeschnitten, und ich entbehre Dich beständig; ich aber, was bin ich Dir? Du schildertest selber einmal in einem Brief den Eindruck, den Du von mir bewahrtest. »Der Schatten der Kinderjahre« nanntest Du mich, mit andern Worten: das Schreckbild. Sollte aber Deine Erinnerung nicht doch vielleicht ein wenig ungerecht gegen mich verfahren? Hast Du die guten Zeiten aus Deiner Kindheit, wo Du bei mir auf dem Sofa spieltest, wo ich Dir Geschichten erzählte, denn ganz vergessen? Oder wenn Du Kindergesellschaft hattest und Du mich dann immer holtest, damit ich Eure Spiele in Gang bringen sollte?

Nein, dessen erinnerst Du Dich wohl nicht mehr, denn die Sache ist die: alles, was wir Eltern unsern Kindern an Liebe geben, das nehmen die Kinder als etwas Selbstverständliches hin, auf das sie einen rechtmäßigen Anspruch haben. Wir machen Euch das Nest so gemütlich und traulich wie nur möglich; kaum aber fangen Euch die Schwingen an zu wachsen, als Ihr auch schon vor Ungeduld flattert, auf eigene Hand hinauszukommen, selber zu bestimmen, die Wege zu fliegen, die Euch die anziehendsten zu sein scheinen. Und Gott sei uns gnädig, wenn wir es versuchen, Euch Hindernisse in den Weg zu legen. Da werden wir, so wie ich jetzt in Deinen Augen, Despoten oder altmodische Pedanten, die kein Verständnis mehr für die Jugend und für die Forderungen der Jugend haben. Da vergesset Ihr all die Liebe und alle die Liebkosungen, alle die Fürsorge, alle die Mühen, mit denen wir Euch überschüttet haben, Ihr entsinnt Euch nur noch der Strafen, der Zurechtweisungen, des Ernstes, der Autorität.

Ich hoffe, Du wirst nicht in Zorn geraten, wenn ich noch einmal Dein jugendliches Alter berühre. Du schärftest mir mit vielen und schneidigen Worten ein, daß Du kein Kind mehr seiest. Nein, mein lieber Emil, ein Kind bist Du freilich nicht, aber Deine Besorgnis, als reifer Mann dazustehen, ist doch nicht ohne Kindlichkeit. Wie kannst Du Dich nur darüber wundern, daß ich, Dein Vater, gern die Erlaubnis haben möchte, Dir noch ein Stück Wegs das Geleite zu geben? Und findest Du es denn so unbegreiflich, daß ich, wenn ich Dich auf alles das zusteuern sehe, was ich infolge meiner Lebenserfahrung für verkehrt und häßlich halte, meinen jungen Sohn beim Arm erfasse und ihn bitte, sich doch zu besinnen? Ist es wohl so sehr merkwürdig, wenn ich ein wenig bitter räsonniere: Jetzt habe ich meinem Jungen, seit er in der Wiege lag, alle meine Liebe geopfert; ich habe ihn zu dem erzogen, was ich für wahr und gut halte; ich habe mich über die Fortschritte gefreut, die er gemacht hat; ich hegte von ganzem Herzen die Hoffnung, alles das, was ich ihn lehrte, was ich ihm einschärfte, in seinen Jugend- und Mannestaten Blüten und Früchte treiben zu sehen, – und dann: kaum ist er meinen Händen entronnen, als andere schon in wenigen Tagen alles das herunterreißen, was ich im Laufe langer und vieler Jahre aufgebaut habe. Kaum wird meinem Sohn die Wahl zwischen seinem Vater und fremden Menschen gestellt, als er mir, ohne sich zu besinnen, Lebewohl sagt und sich den Fremden anschließt.

Du führtest während unserer letzten Unterredung ein Argument gegen mich an, das Du selber völlig überzeugend fandest, und das Dir für den Augenblick plausibel erscheinen mochte. Du erinnertest mich daran, daß auch ich ja in meiner Jugend meine eigenen Wege gegangen sei; daß ich, obgleich mein Vater Rationalist war, mich der starken neuen Bewegung angeschlossen hatte. Freilich tat ich das, und das hatte nicht den Beifall meines Vaters. Aber das möchte ich denn doch behaupten, irgendwelchen Kummer, irgendwelche angstvolle Sorge verursachten meine Anschauungen meinem Vater nicht. Wie wäre das auch möglich gewesen? Er glaubte freilich nicht, daß meine Anschauungen die rechten seien, aber er konnte meinetwegen nicht die Angst empfinden, die ich nun um Deinetwillen hege, – die Angst vor der ewigen Verdammnis. Das ist der tiefe Unterschied zwischen der Freigeisterei und dem Christentum.

Ja, Emil, dies war ein kleiner Epilog, den unter unsere große Abrechnung zu setzen ich das Bedürfnis empfand. Erst jetzt habe ich die Bedeutung eines Wortes erfaßt, das mir vor langen Jahren bei irgendeinem Schriftsteller aufstieß, ein Wort, das mir in dieser Zeit lebhaft vor der Seele gestanden hat: »Ein Vater, der seine Kinder liebt, haßt sich selber.«

Mein Sohn, ich rede nicht so in der Absicht, Dein Mitleid wachzurufen. Ich rechne überhaupt nicht darauf, daß Du in einer naheliegenden Zukunft diesen Brief verstehen wirst. Ich bitte Dich nur um eins! Hebe ihn auf! – Und wenn viele Jahre vergangen sind, wenn Du selber erst Vater geworden bist und die Vaterangst empfunden hast bei der Entdeckung, daß die Kinder alles das im Stich lassen, was Du sie einst lehrtest, – da nimm meinen Brief zur Hand, und Du wirst milder und liebevoller urteilen über

Deinen
Vater.

XLI

H., den 29. November.

Mein lieber Emil!

Jetzt kommt die Zeit heran, in der ich glaubte, daß ich mich auf Dein Kommen freuen würde. Aber in diesen Weihnachtsferien sehe ich Dich also nicht. Wann wirst Du denn wiederkommen? Ja, wann?

Ich kann es nicht fassen, daß zwei so herzensgute Menschen wie Du und Dein Vater so uneinig sein können. Ihr wollt ja beide das Rechte und das Gute, das ist doch die Hauptsache. Das Unglück ist aber, daß Ihr beide ein paar hitzige Naturen seid und stets auf Eurem eigenen Kopf bestehen wollt. Ja, mein lieber Emil, ich hätte wirklich nicht geglaubt, daß Du Dich so auf die Hinterbeine stellen könntest, und obwohl ich eigentlich nicht umhin kann, Dich zu bewundern, weil Du den Mut hattest, Deinem Vater zu trotzen, so hätte ich doch gewünscht, daß Du einen etwas nachgiebigeren Charakter hättest. Er ist ja doch Dein Vater und ein älterer Mann.

Und das will ich Dir nur sagen, die ganze Sache hat Deinen Vater sehr mitgenommen. Er will es ja freilich nicht zugeben, und wenn er mit uns über Dich spricht, so versucht er sich stark und kalt zu machen. Aber ich versichere Dir, er ist im Laufe dieser Wochen um viele Jahre älter geworden. Er sieht wirklich zeitweise recht müde und elend aus, und des Abends kann ich hören, wie er unablässig in seinem Zimmer auf und nieder wandert. Und da kann ich denn nicht umhin, das tiefste Mitleid mit ihm zu empfinden, obwohl ich einräume, daß er selber nicht ohne Schuld daran ist, daß alles so gekommen ist. Aber mit Gottes Hilfe werdet Ihr Euch bald wieder in Liebe gegenübertreten. Wenn Du älter wirst und zeigst, daß Du ein tüchtiger Mensch bist, auf den wir alle stolz sein können, wird sich das Herz des Vaters erweichen, und er wird auch geneigter sein, zu verstehen, daß Dir das Recht zusteht, Dein Leben so zu regeln, wie Du selber es am richtigsten findest. Und auch Du, mein lieber Junge, wirst im Laufe der Jahre Deinen Vater milder beurteilen, und es wird Dir leichter werden, ihm Rücksicht zu erweisen.

Bis es so weit ist, wird das Haus hier trübe und traurig sein. Ach, mir graut förmlich vor diesem Weihnachtsabend, wo Dein Platz leer steht, wo Dein Name nicht genannt werden wird, während unsere Gedanken doch alle bei Dir weilen. Denke auch Du ein wenig an uns, denke nicht zum wenigsten an Deinen Vater, der Dich trotz alledem so unaussprechlich liebt, und wenn sich dann unsere Gedanken in der schönen Christnacht begegnen, da wird diese Begegnung uns allen die Vorbedeutung für ein gesegnetes neues Jahr sein.

Ja, in jungem Alter hast Du den Ernst des Lebens kennen gelernt, nach verschiedenen Richtungen hin. Mit Emilie Schmidts Benehmen kann ich mich gar nicht aussöhnen. So leicht darf ein junges Mädchen ihre Gelöbnisse und Verpflichtungen nicht aufgeben. Du schriebst mir freilich, Du billigtest ihre Handlungsweise, Du hättest ihr nichts vorzuwerfen. In dem Punkt bin ich nun aber einmal altmodisch. Ich würde vielleicht gar nichts dazu gesagt haben, wenn dies mit dem Hilfsprediger nicht wäre. Aber hier behaupten alle Leute, daß Emilie und Pastor Möller sich miteinander verloben wollen. Als sie mich nun vor acht Tagen besuchte, konnte ich mich nicht enthalten, ihr meine Ansicht recht deutlich zu sagen. Seither habe ich sie nicht wieder gesehen.

Und nun leb' wohl, mein treuer Emil, und vergiß nie, wie es Dir auch ergehen mag, gut oder schlecht, es nimmt stets den gleichen Anteil in Treue und Liebe an Deinem Schicksal

Deine alte Tante
Meta.

XLII

Den 29. November.

Herrn Peter Nansen!

Hochgeehrter Herr!

Ich wende mich an Sie, da ich weiß, daß Sie ein Freund meines Vetters Fritz Holm sind, der sich seit einigen Jahren im Ausland befindet. In dieser Vetterschaft zu einem Ihrer Freunde suche ich einen mildernden Umstand, wenn ich Sie mit beifolgendem Päckchen belästige, das einen Auszug aus der Korrespondenz enthält, die ich im Laufe meines ersten Universitätsjahres geführt habe. Würden Sie sich der Mühe unterziehen, diese Briefe zu lesen und mir Ihre Ansicht darüber zu sagen? Ich wüßte gern, ob sie irgendwelches Interesse für Unbeteiligte haben könnten, und, falls Sie dieser Ansicht sind, ob Sie glauben, daß ich diese Briefe auf irgendeine Weise veröffentlichen könnte?

Wahrscheinlich werden Sie fragen: Ist das wirklich eine richtige Korrespondenz? Ist das nicht etwas, was Sie selber gemacht haben?

Hierauf will ich ganz ehrlich antworten, wie sich die Sache verhält. Die Korrespondenz ist in allem Wesentlichen so geführt, wie sie hier vorliegt. Doch habe ich, um ihr eine Art künstlerischer Form zu geben, hie und da etwas gestrichen und hinzugefügt, wie ich auch den Stoff in einzelnen Punkten ein wenig umgearbeitet habe.

Seien Sie nun so liebenswürdig, mir so bald wie möglich ein paar Stunden zur Durchsicht der Briefe zu opfern und mir Ihre Ansicht ohne jeden Vorbehalt mitzuteilen.

Vom 1. Dezember an ist meine Adresse: Stormgade 77.

Hochachtungsvoll ergebenst
Emil Holm.

XLIII

Den 1. Dezember.

Herrn stud. Emil Holm.

Sehr geehrter Herr!

Ihrem Wunsche gemäß habe ich das mir von Ihnen zugesandte Manuskript »Aus dem ersten Universitätsjahre« gelesen und möchte mir folgende Bemerkungen darüber erlauben:

Vom literarischen Standpunkt aus steht der Veröffentlichung Ihrer Briefe nichts im Wege; inwiefern aber private Rücksichten hier hinderlich sein könnten, müssen Sie selber beurteilen. Der Vorzug Ihres »Romans in Briefen« liegt meiner Ansicht nach gerade in dem Stempel der Wirklichkeit, den er trägt. Doch hat er nach dieser Richtung hin einen sehr in die Augen fallenden Fehler. Sie lassen sich im Laufe von wenigen Monaten einen Entwicklungsprozeß abspielen, der sich schwerlich in einem geringeren Zeitraum als ein paar Jahren vollziehen könnte. Jedenfalls würde es eine starke Ausnahme sein, wenn ein junger Student aus der Provinz, der im August naiv und unselbständig in die Hauptstadt kommt, sich im Laufe von 3–4 Monaten zu einer selbstbewußten, sicheren Persönlichkeit entwickelte. Vom künstlerischen Standpunkt aus hat dies indessen wenig zu bedeuten. Ob die Entwicklung in ein paar Monaten oder in ein paar Jahren vor sich geht, dürfte künstlerisch betrachtet ganz unwesentlich sein. Das, worauf es ankommt, ist, ob die Entwicklung an und für sich wahrscheinlich ist und einen wahrscheinlichen Eindruck macht. Und insofern will es mir scheinen, daß Sie Ihren Zweck erreicht haben.

Ich werde mit Vergnügen die Verantwortung der Veröffentlichung übernehmen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Peter Nansen.


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