David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Neunzehntes Kapitel.

Prickett hatte in seinem abenteuerreichen Leben so viel Erstaunliches erfahren, daß es nicht leicht war, ihn in Verwunderung zu setzen, und er war so gewöhnt, seine Gefühle zu verbergen, daß es noch schwerer hielt, ihm ein Wort, einen Ausruf, einen Blick der Ueberraschung zu entlocken. Die Begegnung mit Fräulein Harcourt und ihrem Gefangenen verlief daher so ruhig und gemessen, als ob sie ein längst verabredetes Ereignis wäre, und von der Bewunderung, die ihn im innersten Herzen erfüllte, bekam die junge Dame wenig zu sehen und zu hören. Sein Verhalten den Gefangenen gegenüber entsprach allen Regeln der Kunst und fachmännischer Etikette, bis auf einen Augenblick, wo ihm Engel gegenüber die Galle überlief.

»Sie hatten einen Mord vor,« bemerkte Prickett, das Deckblatt einer Cigarre beleckend und einen kleinen Schaden zuklebend, »Mord und zwar grausamen, langsamen Mord. Darüber nachzudenken sollen Sie jetzt Muße bekommen, und zwar an einem Ort, wo Heulen und Zähneklappern ist.«

Er ärgerte und schämte sich aber sofort über diesen ungeschäftsmäßigen Ausbruch persönlicher Gefühle.

»Niemals zu gackern, wenn einem die Sache nach Wunsch geht, das lehrt man ja jeden Anfänger,« hielt er sich selbst vor. »Als Privatmann habe ich natürlich so gut wie jeder andre das Recht, meine Meinung zu äußern, und als Privatmann würde ich meine Meinung Engel gegenüber am liebsten ohne Rock und mit aufgekrempelten Aermeln dokumentieren. Wenn ich dann mit ihm fertig wäre, könnte er meinetwegen im übrigen frei ausgehen. Das sind so meine Gefühle als Privatmann, als Beamter aber darf ich weder Gefühl für noch gegen ihn haben, da muß ich ein Kieselstein sein! Aber der Mensch ist halt Mensch, selbst wenn er fünf Jahre in Uniform und zwanzig in Zivil der Polizei gedient hat, und wenn uns einer halb totgeschlagen hat und uns langsam verdursten und verhungern lassen wollte, dann wird man leicht etwas giftig. Eine Entschuldigung ist das natürlich nicht, denn Dienst ist Dienst und Anstand ist Anstand, aber wer von uns wäre vollkommen?«

Diese Erkenntnis seiner Unvollkommenheit wurmte Prickett tief, und seine Behandlung der Gefangenen war von da an wirklich interessant zu beobachten – höflich wie ein Hofmarschall, fühllos wie ein Thürpfosten!

Das vorläufige Verfahren war bald erledigt. Prickett legte seine Haftbefehle der Behörde vor, die ihre Auslieferungspflicht anerkannte und ihm die Ueberführung der Gefangenen nach England übertrug. Ein paar Polizisten wurden ihm als Begleitung zugewiesen, und die Bewachung der drei Herren war Tag und Nacht eine scharfe. Prickett und Fräulein Harcourt waren auf der Eisenbahn häufig beisammen; er begegnete ihr höchst achtungsvoll, aber zurückhaltend, bis an dem Tage, wo der Zug Ottawa erreichte und ein Ereignis kund wurde, das großen Einfluß auf beide und ihr gegenseitiges Verhalten hatte.

Der Inspektor hatte auf dem Bahnhofe dieser Hauptstadt den Gefangenen seinen Pflichtbesuch gemacht und gerade noch gesehen, wie einer von seinen jetzigen Untergebenen eine Zeitung kaufte. Der Mann hatte noch nicht lange hineingesehen, als er einen Ruf der Ueberraschung ausstieß.

»Donnerwetter!« sagte er. »Ich denke mir, das wird Sie interessieren.«

Damit reichte er Prickett das Blatt, mit dem Daumen die Aufschrift einer Spalte bezeichnend. »Klondyke. Erstaunlicher Bericht!« stand in gesperrtem Druck darüber.

Prickett steckte sich erst noch eine Cigarre an, faltete dann die Zeitung, daß sie bequem zu halten war, schlug die Beine übereinander und las:

»Ein in Seattle wohlbekannter Bergmann, Namens Joseph Willcox, ist soeben in unsrer Stadt angelangt und macht Mitteilung über den Fund eines unglaublichen Goldschatzes, wohl des größten, der je gemacht wurde, solange die Welt steht. Er hat Goldstaub und Goldkörner im Wert von dreiviertel Millionen Dollars mitgebracht und auf der Staatsbank in Verwahrung gegeben, sagt aber, dies sei nur ein verschwindend kleiner Teil des Fundes. Willcox ging mit zwei andern nach Klondyke, um Gold zu suchen: etwa vierzig Meilen nördlich von der neu eingerichteten Hauptstation der berittenen Nordwestpolizei entdeckten sie unmittelbar unter dem Fall eines schmalen Flusses, der noch nicht bezeichnet und auf keiner Karte angegeben ist, eine Höhle. In der ganzen Umgebung fanden sich deutliche Spuren, daß hier früher Gold ausgegraben und ausgewaschen worden war. Außerdem stießen Willcox und seine Genossen auch auf natürliche Lager des edlen Metalls. Da das Wetter sehr veränderlich war, benutzten sie diese Höhle als Wohnung und brachten volle acht Tage darin zu, ehe sie in einer seitlichen Vertiefung ein Menschengerippe entdeckten. Es muß sehr lange hier gelegen haben, denn die vollständige Bekleidung, die es trug, zerfiel bei der ersten Berührung in Staub. Das Gerippe lag auf einem kleinen Hügel, der sich bei näherer Untersuchung als ein ungeheurer Haufen Goldstaub und Goldkörner erwies. Die drei Männer ließen dem toten Goldfinder ein christliches Begräbnis angedeihen und bestimmten dann durchs Los, welcher von ihnen in die zivilisierte Welt zurückkehren solle, um Mittel zur Beförderung dieses unglaublichen Reichtums zu beschaffen.

»Das Los entschied für Willcox, dessen Kameraden jetzt und im Notfall den ganzen Winter über Wache bei ihrem Fund halten. Sie waren bei seiner Abreise reichlich mit Nahrungsmitteln versehen, und da sie mit dem Klima und all seinen Gefahren vertraute, kräftige, kühne Leute sind, zweifelt er nicht im mindesten an ihrem Wohlergehen. Pflichtschuldig hat er den Behörden Anzeige von seinem Fund gemacht, und sobald die Zugänge eisfrei sind, wird es ohne Zweifel gelingen, die Goldschätze in Sicherheit zu bringen.

»Unsre Stadt ist in unbeschreiblicher Aufregung über diese Kunde. Viele, die früher ernüchtert und enttäuscht von Chilcoot und dem Weißen Paß zurückgekehrt sind, bereiten sich jetzt zu einem erneuten Kampf gegen die Naturgewalten vor. Die Wahrhaftigkeit des Berichterstatters wird nirgends angezweifelt, obwohl er beteuert, daß er nach mäßigster Schätzung nicht einmal den zwölften Teil der Goldmasse mitgebracht habe. – Willcox ist ein zurückhaltender, schweigsamer Mensch, seiner Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit halber allgemein geachtet. Er führte früher einen kleinen Handelsschoner, der von unserm Hafen lief, und war als Eigentümer daran beteiligt. Sein ungeheures Glück trägt er kaltblütiger, als die meisten die Nachricht davon aufnehmen. Schon hat er der Kirche, zu der er gehört, zehntausend Dollars für Schulzwecke überwiesen und versprochen, sie noch reicher zu bedenken.«

Mit steinernem, unbewegtem Gesicht las Prickett die ganze Spalte durch, obwohl die gemischtesten und widersprechendsten Gefühle sein Herz bewegten.

»Sie leihen mir's doch?« fragte er den Besitzer des Zeitungsblattes und ging dann von Wagen zu Wagen, bis er Marie Harcourt fand.

»Wollen Sie, bitte, das lesen,« sagte Prickett, ihr die Zeitung hinhaltend.

Sie blickte verwundert zu ihm auf, denn trotz der äußeren Ruhe kam ihr sein Gesicht seltsam verändert vor, und mit einem gewissen Bangen griff sie nach der Zeitung.

»Hier ist die Stelle,« sagte Prickett, diese mit dem Finger bezeichnend, indem er sich über Marie beugte.

Seine Stimme und seine Hand zitterten leicht – kam das wohl von der Bewegung des mit rasender Geschwindigkeit dahinsausenden Zugs? Sie sah ihn ängstlich von der Seite an. »Lesen Sie,« befahl er, sich ihr gegenüber setzend.

Und sie las, rasch, hastig, ihre Augen schienen die Zeilen zu verschlingen, mit erstaunlicher Schnelligkeit den Inhalt aufzusaugen. Dann fiel die Hand mit dem Zeitungsblatt kraftlos auf ihre Kniee, ihr Gesicht wurde aschgrau, die Augen füllten sich mit Thränen.

»Ein Zweifel ist gar nicht möglich, finden Sie nicht auch?« fragte Prickett mild, beschwichtigend.

Das Gesicht in den Händen verbergend, brach sie in leidenschaftliches Schluchzen aus.

»Mein Vater!« rief sie in herzbrechendem Jammer. »Mein Vater!«

Prickett schneuzte sich heftig und ging im Wagen auf und ab. Die Zahl der Reisenden war um diese Jahreszeit überhaupt gering und auf dieser Strecke waren die beiden sogar die einzigen.

»Der Tausend!« sagte Prickett vor sich hin. »Wenn die für einen andern ein Herz haben könnte, wie für den alten Schwachkopf, was für eine Frau das wäre!«

Er wartete lange und geduldig. Der Zug rollte und rollte weiter und weiter; das einförmige Geräusch der Räder ließ die Zeit noch länger erscheinen. Allmählich ließ das heftigste Schluchzen nach, und Prickett wagte sich wieder in Maries Nähe.

»Es ist schade, furchtbar schade!« bemerkte er. »Sie haben auch keinen Zweifel, daß es der Schatz ist?«

»Wie wäre da ein Zweifel möglich? Die Höhle, der Wasserfall, das Gerippe auf dem Goldhügel!«

»Furchtbar traurig!« wiederholte Prickett. »So viele Jahre hat Ihr Vater die beiden Silberscheiben und versucht nicht einmal sie zu entziffern, bis er zu spät kommt!«

»Mein Vater!« – die Thränen strömten aufs neue – »mein armer Vater!«

»Kannst du das Maul nicht halten, wenn beim Reden doch nichts herauskommt?« fragte sich Prickett, beschämt über sein ungeschicktes Eingreifen. So leid hatte ihm in seinem ganzen Leben noch niemand gethan wie dieses weinende Mädchen.

»Sorgen Sie sich doch nicht so um ihn! Es drückt Ihnen ja das Herz ab!« setzte er trotz des Vorsatzes der Schweigsamkeit hinzu. »Man wird ihn aus seiner jetzigen mißlichen Lage schon herauslotsen. Ich hatte in New Jork schon den Eindruck, daß man ihm wohl will, und jetzt, da wir Engel haben, soll die Geschichte laufen wie auf Gummirädern. Verlassen Sie sich darauf, er wird ganz entlastet.«

Marie verließ sich auf alles, was Prickett sagte, und fühlte sich sehr getröstet.

In Montreal sollten sich ihre Wege trennen; der ihrige führte nach New York, der seinige nach Liverpool. Die Reise wäre über New York kürzer gewesen, aber die Gefangenen durch fremdes Gebiet zu führen, hätte überflüssige Scherereien mit sich gebracht. Als die Zeit da war, wollten sie sich verabschieden, Prickett sagte aber etwas mehr als Lebewohl.

»Ich bin gerade kein gebildeter Mann, Fräulein Harcourt,« begann er, »ich bin durchaus nicht, was Sie gewöhnt sind, als einen ›Gentleman‹ zu betrachten ...«

»Natürlich sind Sie das,« entgegnete sie beinah heftig, ohne zu ahnen, was sie damit heraufbeschwor. »Was ist der Begriff eines ›Gentleman‹, wenn nicht Zuverlässigkeit, Ehrgefühl, Redlichkeit, Güte? Und das alles habe ich an Ihnen kennen gelernt.«

»Ist mir lieb zu hören – sehr lieb sogar. Es liegt mir außerordentlich viel an Ihrer guten Meinung und aus Furcht, sie zu verscherzen, wäre ich eigentlich gern meiner Wege gegangen, ohne Ihnen zu sagen, was mein Herz erfüllt – ich bringe es aber nicht fertig. Jedenfalls will ich's kurz machen! Fräulein Harcourt, ich bin ein lediger Mann, bin mir aber bewußt, in Beziehung auf Verträglichkeit ein musterhafter zu sein. Ich habe in meinem Beruf, der sonst harte Arbeit und geringen Lohn bedeutet, mehr Glück gehabt als andre, außerordentliches Glück sogar, so daß ich vermöglich zu nennen bin. In meinem ganzen Leben habe ich das Wort, das mir jetzt auf der Zunge schwebt, noch nie ausgesprochen – wenn Sie sich entschließen könnten, Frau Prickett zu werden, würde ich redlich mein Bestes thun, Sie glücklich zu machen. Der Gedanke, Sie jetzt ziehen zu lassen, ist mir unerträglich. Ich habe in meinem ganzen Leben kein so schneidiges kleines Vollblut getroffen wie Sie – entschuldigen Sie den Ausdruck –, und Mut imponiert mir nun einmal vor allem. Daß es für Sie ein Herabsteigen bedeutet, ist mir ja klar....«

»Nein, nein! Ganz und gar nicht.«

»Doch, es ist und bleibt so, aber wenn Sie's trotzdem wagen wollen, bekommen Sie einen guten Ehemann. Wollen Sie – hm – wollen Sie? – – Es ist doch nicht so schwer, ja oder nein zu sagen – wollen Sie?«

Sie sagte nicht ja und nicht nein, sie murmelte nur etwas, und als Prickett sie daraufhin an seine Brust zog, leistete sie nicht den geringsten Widerstand.

»So!« sagte er strahlend, wie er noch nie gestrahlt hatte. »Und jetzt will ich dir etwas sagen. Ich habe es selbst nicht gewußt bis zu diesem Augenblick – aber das hätte ich thun mögen, schon als ich dich zum allererstenmal sah!«

Ende


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