David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Siebentes Kapitel.

»Sie haben sich jetzt wohl überlegt, daß die Sache ernsthaft ist,« begann er, sobald die junge Dame erschienen war. »Wenn Sie nicht ehrlich und offen gegen mich sind, kann es sehr kitzlich werden für Sie, das werden Sie begriffen haben?«

»Vollkommen.«

»Wenn der Hergang so ist, wie Sie sagen, kann ich Ihnen dagegen von Nutzen sein.«

»O, Herr Prickett, das hoffe ich ja!«

»Nun, wir werden ja sehen. In erster Linie muß ich Ihren Vater sprechen, vorausgesetzt, daß an der Geschichte, die Sie mir aufgetischt haben, ein Körnchen Wahrheit ist ...«

»O, Herr Prickett!«

»Was ich bis jetzt von Ihnen weiß, spricht nur zu Ihren Ungunsten, bedenken Sie das, und ich kann nur auf Grund meiner Erfahrung handeln, selbst wenn ich persönlich Lust hätte, einen Engel in Ihnen zu sehen. Das aber kommt hier gar nicht in Frage. Also – immer in der Voraussetzung, Ihre Geschichte sei wahr – Engel spioniert Ihren Vater aus?«

»Ich bin davon überzeugt.«

»Und Ihr Vater hat die andere Münze?«

»Ja.«

»Und die Uebersetzung der Inschrift?«

»Nein. Nur die eine, die Sie haben, wurde entziffert.«

»Können Sie ihm eine Botschaft zukommen lassen, ohne daß Engel davon erfährt? Antworten Sie nicht über Hals und Kopf – überlegen Sie sich's.«

»Einen unbedingt sichern Weg habe ich nicht.«

»So? Sie müssen ihm schreiben und mir den Brief anvertrauen. Verabreden Sie eine Zusammenkunft mit ihm.«

»Wo?«

»Ueberall, nur nicht in diesem Haus. Hier ist Schreibzeug.«

Sie nahm sofort die Feder zur Hand und ihr blinder Gehorsam befriedigte Prickett.

»Ich will Ihnen diktieren – geben Sie nur Ihre Wohnung hier an und dann schreiben Sie: ›Mein lieber Vater!‹ ... haben Sie's? ... ›Herr Prickett weiß alles und ich bin vollständig in seiner Gewalt. Ich machte den Versuch, mit seiner Geldkasse durchzugehen, weil ich das Gesuchte darin vermutete, er faßte mich aber ab und wird mich verhaften lassen, wenn Du nicht ganz genau thust, was er will. Er will Dich morgen Mittag punkt zwölf Uhr an der Achillesstatue im Hydepark treffen. Diesen Brief schreibe ich nach seiner Angabe, und ich soll Dir sagen, daß meine Lage sehr bedenklich würde, falls Du Dich nicht willig zeigtest. Du wirst Herrn Prickett an hochgelben Handschuhen erkennen, die er in der linken Hand tragen wird ...‹«

»Raucht Ihr Vater?« unterbrach sie Prickett.

Marie nickte.

»Gut, schreiben Sie weiter: ›Du sollst ein Cigarre in der Hand halten und ihn um Feuer bitten, und zwar indem Du ihn mit seinem Namen anredest.‹ So, jetzt können Sie im übrigen dazu schreiben, was Sie mögen, aber dann müssen Sie den Brief mir übergeben.«

Marie setzte nichts hinzu als eine liebevolle Unterschrift, schob den Brief in einen Umschlag und überschrieb ihn. Die Wohnung lag in einer entlegenen, armseligen Gasse.

»Gewarnt sind Sie jetzt,« erklärte ihr Prickett. »Ich muß ausgehen, um den Brief auf sichere Weise zu befördern, aber Sie werden trotzdem bewacht, als ob ich da wäre. Sollten Sie unter irgend einem Vorwand aus dem Haus schlüpfen oder mit jemand von draußen verkehren, so hätten Sie sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Sie verstehen mich?«

»Vollständig, Herr Prickett,« sagte sie, mit einer gewissen Zuversicht zu ihm aufsehend.

Es lag keine Furcht mehr in ihrem Blick, nur ein Flehen; dieser Blick hatte etwas von dem eines treuen Hundes, der über die Meinung des Herrn nicht recht im klaren ist. Er ging Prickett so tief zu Herzen, daß er sich darüber ärgerte. Niemand freut sich, wenn ihm etwas weh thut, und Prickett war der letzte, Geschmack an Schmerzen zu finden.

Der sichere Bote, dem er den Brief übergeben hatte, brachte gegen Abend Bescheid.

»Sie wollen wissen, ob dem Herrn aufgelauert werde,« setzte er hinzu, »ja das ist der Fall und – das werde ich Ihnen übrigens kaum zu sagen brauchen – Sie werden auch beobachtet.«

»Schon gut,« sagte Prickett.

Am andern Tag fand sich der Mann mit dem unergründlichen Gesicht pünktlich bei der Achillesstatue ein. Mit dem Zwölfuhrschlag trat ein alter Herr mit weißem Haar und Schnurrbart durchs Parkthor ein. Er war anständig gekleidet und sah auch so aus, nur die Augen hatten einen unsteten, scheuen Blick. Zwischen dem zweiten und dritten Finger hielt er eine Cigarre, und als er in Pricketts Nähe kam, griff er in die Tasche, zog ein kleines silbernes Feuerzeug heraus und schien überrascht zu sein, es leer zu finden.

»Darf ich Sie vielleicht um Feuer bitten, Herr Prickett?« sagte der alte Herr, genau wie ausgemacht auf Prickett zutretend.

»Mit Vergnügen, mein Herr,« erwiderte Prickett.

»Man folgt mir,« flüsterte Maries Vater kaum hörbar.

»Stecken Sie Ihre Cigarre an,« versetzte Prickett ebenso leise.

Er zuckte nicht mit der Wimper, als er jetzt Engel in Person durch das Parkthor treten und lässig schlendernd näher kommen sah. Der militärische Schnurrbart und die Narbe auf der Nase waren verschwunden. Im übrigen war seine Erscheinung nicht wesentlich verändert, doch immerhin so weit, daß ein Bekannter des »Generals Felthorn« leichtlich an ihm vorübergegangen wäre.

»Steigen Sie in eine Droschke und fahren Sie nach meiner Wohnung,« befahl Prickett seinem neuen Bekannten. »Niemand außer mir wird Ihnen folgen – warten Sie an der Straßenecke auf mich.«

Der alte Herr steckte seine Cigarre an, gab das Feuerzeug zurück, lüftete den Hut und entfernte sich. Er war totenbleich und seine Hände zitterten, aber er bewies immerhin Selbstbeherrschung genug, daß einem Unbefangenen die Besprechung mit Prickett rein zufällig hätte erscheinen müssen. Prickett erwiderte seinen Gruß und blieb noch eine Weile in der Haltung eines harmlosen Müßiggängers vor der Statue stehen. Engel, der ihn erst jetzt bemerkte, war einen Augenblick starr, als ob ihn ein elektrischer Schlag getroffen hätte. Er wollte mit abgewendetem Gesicht, scheinbar irgend etwas in der Ferne beobachtend, vorübergehen, aber Prickett redete ihn ganz gelassen an.

»Guten Morgen – ein schöner Tag, nicht?« bemerkte er.

Engel schnitt ein Gesicht und gab keine Antwort, aber Prickett schloß sich ihm einfach an.

»Ich wünsche Ihre Begleitung nicht,« knurrte Engel.

»Das glaub' ich Ihnen aufs Wort,« versetzte Prickett ruhig. »Man hat mir gesagt, Sie hätten London verlassen? Ein Freund sagte mir sogar, er hätte Sie abreisen sehen – nach Berlin zurück?«

»Ich wünsche Ihre Begleitung nicht,« wiederholte Engel, »und lasse mir keine Gesellschaft aufdrängen.«

»Aber, lieber Freund, daß ich mir von Ihnen keine Ungezogenheiten gefallen lasse, könnten Sie doch wissen.«

»Und ich mir ebenso wenig von Ihnen,« gab der andere, seinen Schritt beschleunigend, zurück. »Sie haben so wenig das Recht, sich an meine Fersen zu hängen, als Sie irgend einen Fremden, der sich in Geschäften oder zu seinem Vergnügen hier aufhält, belästigen dürften.«

»Wenn Sie Händel suchen, mir auch recht. Mir eilt es nicht damit, aber ganz nach Ihrem Belieben.«

Prickett richtete seinen Schritt genau nach dem des widerstrebenden Gefährten.

»Unverschämter Esel!« schrie Engel, stehen bleibend. »Was wollen Sie denn eigentlich?«

Dabei folgte sein Blick unablässig der rasch entschwindenden Gestalt des alten Herrn, was Prickett höchlich ergötzte.

»Ich will Sie gebeten haben,« sagte Prickett mit erhobenem Zeigefinger, »sich nicht mehr als mein Schatten aufzuspielen, keine jungen Leute mehr auszusenden, die mir den Hut vom Kopf schlagen, keine jungen Witwen mit sehr wenig überzeugenden Empfehlungsbriefen in mein Haus zu schicken, kurz und gut, mich ungeschoren zu lassen.«

Ein Vorübergehender, der trotz des gedämpften Tons ein paar Worte verstanden haben mochte, blieb stehen.

»Gehen Sie ruhig Ihres Weges, junger Mann,« beschied ihn Prickett und setzte zu Engel gewendet hinzu: »Haben Sie die Güte, auf ein paar Minuten mit mir zu kommen. Ich habe Ihnen noch etliches zu sagen.«

»Aber ich habe Ihnen nichts zu sagen,« entgegnete Engel barsch. »Sie wollen mich ins Bockshorn jagen und thun, als ob Sie noch irgendwelche Gewalt in Händen hätten, während Sie rein nichts mehr bedeuten!«

»Meinen Sie?« sagte Prickett, die Hand ein wenig erhebend, worauf sogleich ein Schutzmann herantrat.

»Glauben Sie, ich schere mich um Ihre Polizei?« rief Engel zornbebend. »Meinen Sie, ich lasse mich übertölpeln?«

Der Schutzmann grüßte militärisch.

»Sehen Sie sich den Herrn an und behalten Sie ihn im Auge,« befahl Prickett.

»Ich bin mit so gutem Recht hier als irgend jemand,« erklärte Engel mit unterdrückter Wut. »Das werde ich Ihnen eintränken! Wie können Sie es nur wagen, einen harmlosen Spaziergänger im öffentlichen Park anzureden und zu bedrohen?«

Pricketts Zweck war mittlerweile erreicht; die schmächtige Gestalt des weißhaarigen Herrn war vollkommen verschwunden.

»Der Herr ist gewarnt,« sagte er zu dem Schutzmann. »Wenn er sich irgend etwas zu schulden kommen läßt, so wissen Sie, was Sie zu thun haben.«

Ob der Schutzmann aus dieser Weisung klug werden konnte, mag dahin gestellt bleiben, aber er kannte Prickett und hatte von jeher verehrungsvoll zu dieser »Zierde seines Berufes« aufgeblickt. Der Exbeamte wandte sich gelassen ab, und ging seines Weges, und da Engel voraussehen konnte, daß sich binnen kurzem ein Menschenauflauf bilden würde, zog er vor, Aufsehen zu vermeiden und seine Wut zu meistern. Ganz schweigen konnte er aber doch nicht.

»Dieser Mensch,« knirschte er, die Faust hinter Pricketts Rücken schüttelnd, »ist ein verfluchter Narr!«

»Da täuschen Sie sich aber,« wandte der Schutzmann lächelnd ein. »Das ist der geriebenste Beamte der Londoner Polizei.«

»Es soll ihm hingerieben werden!«

»Schon gut – jetzt entfernen Sie sich aber!«

Engel ging, denn trotz seiner Wut sah er ein, daß jeder Widerstand unnütz gewesen wäre.

Prickett fuhr mittlerweile nach Hause und entdeckte sofort seinen neuen Bekannten, der in der Nähe seiner Wohnung auf und ab ging.

»Sie sind Hans Harcourt,« begann Prickett, nachdem er ausgestiegen war, »zeitweise Jakob Walter oder Johann Hardy?«

»Mein Name ist Harcourt,« versetzte der alte Herr, in der Sprache wie im Aeußern ein gebildeter Mann, der Pricketts barsches Wesen peinlich zu empfinden schien.

Die beiden traten zusammen ins Haus und in Pricketts Zimmer.

»So, jetzt reden Sie und ich will hören. Eine junge Person, die sich Ihre Tochter nennt, hat mir eine lange Geschichte erzählt.«

»Die junge Dame,« sagte der Gast mit Nachdruck, »ist meine Tochter.«

»Nun möchte ich diese Geschichte auch von Ihnen hören.«

»Was wünschen Sie zu wissen?«

»Die junge Dame hält sich unter einem Vorwand hier auf. Sie hat mir Gründe dafür angegeben – nun möchte ich hören, wie Sie die Anwesenheit Ihrer Tochter in diesem Haus erklären.«

»Hat sie Ihnen von dem Menschen erzählt, der mich heut verfolgte und mit dem Sie sprachen?«

»Sie brauchen sich gar nicht darum zu kümmern, was sie mir erzählt hat,« sagte Prickett im Tone, wie man ein ungebärdiges Kind beschwichtigt. »Sie ist hier und ist in Gefahr, das allein haben Sie zu bedenken. Wie kam sie hierher? Was will sie hier?«

Es kostete geraume Zeit, den alten Herrn zum Reden zu bringen; was er aber schließlich sagte, stimmte genau mit der Aussage der Tochter überein.

»Nach dem, was Sie mir sagen, werden Sie also in den Vereinigten Staaten von den Behörden gesucht?« fragte Prickett.

»Ich will die Wahrheit nicht bemänteln – ich werde steckbrieflich verfolgt.«

»Und Engel nicht?«

»Selbstverständlich, er auch.«

»So so, selbstverständlich. Sie sind Ihrer Meinung nach unschuldig, verstecken sich aber trotzdem und lassen sich von einem offenkundigen Dieb und Betrüger wie Engel verfolgen und ängstigen?«

»Er hat ein solches Lügennetz um mich gesponnen, daß ich ganz hilflos bin!« rief der arme Mann.

»Ja, hilflos sind Sie freilich,« bemerkte Prickett wegwerfend, »das brauchen Sie mir nicht erst unter die Nase zu reiben! Wie wär's aber, wenn Sie nach Amerika zurückkehrten? Haben Sie die Mittel, Ihren Gläubigern gegenüber zu treten?«

»Nein, ich bin ein Bettler,« sagte Harcourt mit zuckendem Gesicht und thränenfeuchten Augen. »Von meinem ganzen Vermögen habe ich fünfhundert Pfund gerettet. Ist die Summe verbraucht, so weiß ich nicht, was aus mir werden soll. An mir ist wahrhaftig nicht viel gelegen. Ich war ein schwacher, thörichter Mensch und muß dafür büßen, aber was soll aus meiner Tochter werden?«

»Falls Sie von mir Rat annehmen,« sagte Prickett, »so stellen Sie sich den Gerichten und lassen dem Prozeß seinen Lauf. Machen Sie genaue Angaben über Engels Verfahren – dann brauchen Sie sich wenigstens nicht mehr zu verkriechen.«

»Das kann ich nicht, das kann ich nicht!« klagte der Unselige. »Ich habe keinerlei Beweismittel gegen ihn. Der Mann ist ein Teufel an Schlauheit – jetzt sehe ich klar, aber damals habe ich ihm vertraut ...«

Die Worte kamen stoßweise heraus, die Stimme klang so matt und mutlos, daß den Hörer etwas wie Mitleiden beschlich.

»Jedenfalls kenne ich meine Pflicht,« erklärte Prickett. »Ich habe mein Leben im Dienst der Gerechtigkeit verbracht und weiß, was ich zu thun habe – ich muß Sie angeben.«

»Sind Sie Vater, Herr Prickett?« fragte Harcourt einfach.

»Gott sei Dank, nein,« entfuhr es Prickett.

»Ja, Sie mögen Gott wohl dafür danken,« seufzte der andere, in sich zusammensinkend.

»Ich weiß, was ich zu thun habe,« wiederholte Prickett, aber es lag eine merkwürdige Unsicherheit in seinem Ton, »was ich wenigstens hätte thun müssen, wenn ich zwei Monate früher von der Sache erfahren hätte – doch nein! Daran hat sich gar nichts geändert. Es ist Pflicht jedes Bürgers, dem Gesetz zur Erfüllung zu helfen, geschweige denn eines Mannes, der so lange sein Brot gegessen hat! Herr Harcourt, ich muß der Londoner Polizei Ihren Aufenthalt angeben und von der Ihrer eigenen Aussage nach über Ihnen schwebenden Anklage Mitteilung machen. Ich bin jetzt fest entschlossen dazu, aber ich gebe Ihnen noch einmal den Rat – stellen Sie sich selbst den Gerichten. Ich werde mit Ihnen gehen, mich für Sie verwenden und dafür sorgen, daß Engel in den nächsten vierundzwanzig Stunden festgenommen wird. Das ist ein wohlgemeinter, ehrlicher Rat!«

»Darf ich meine Tochter sprechen?« fragte Harcourt.

Er war blaß und zitterig wie zuvor, aber angesichts des entscheidenden Streichs schien doch eine gewisse Mannhaftigkeit in ihm zu erwachen und er machte nicht mehr so ganz den Eindruck des Feiglings. Prickett klingelte und Marie Harcourt kam selbst, um nach seinen Befehlen zu fragen. Ihr rasches Erscheinen verriet, daß sie offenbar vor der Thür gestanden haben mußte. Ihre ersten Worte gaben auch offen kund, daß sie gehorcht hatte.

»Herr Prickett hat vollkommen recht,« sagte sie nämlich, »und du weißt, wie oft ich dich schon dringend bat, zu thun, was er dir rät. Geh mit ihm – laß dir diese Last vom Herzen wälzen. Was auch daraus entstehen mag, alles wird leichter zu ertragen sein, als dieses schmähliche Verkriechen.«

»Es ist ja nur deinetwegen ...«

»Das war von Anfang an unrichtig gedacht,« entgegnete sie ohne Vorwurf im Ton, »du hättest auf gar nichts bedacht sein sollen, als auf deinen ehrlichen Namen.«

»Aber was soll aus dir werden?« rief Harcourt kläglich. »Herr Prickett! Sie sprachen davon, daß meine Tochter in Gefahr sei; sie schrieb mir ja auf Ihre Weisung von ernsten Gefahren. Ach! Die Treue gegen ihren erbärmlichen Vater wird sie zu Grunde richten! Was sie auch gethan haben mag, sie that es ja nur mir zuliebe!«

»Ich gelobe Ihnen, keine Anklage gegen Ihre Tochter zu erheben,« sagte Prickett zögernd. »Aber falls ich von ihr und von Ihnen zum Besten gehalten werde, sollen Sie's teuer zu bezahlen haben.«

Der schwache Mann brach beinah zusammen: daß Prickett die Tochter zu schonen versprach, erfüllte ihn mit solcher Dankbarkeit, daß er ihm die Hände küssen wollte.

»Unsinn!« rief Prickett heftig, und zwar um so heftiger, als er dem Alten nicht halb so böse sein konnte, als er für schicklich gefunden hätte.

Er hielt dessen Erregung für wahr und ehrlich und glaubte, seinem Urteil und seinen Erfahrungen darin trauen zu dürfen. Auch flößte ihm diese Rührung an sich Achtung ein, so lange sie mit männlicher Kraft gemäßigt wurde, ihre laute Aeußerung aber fand er peinlich, und peinlich fand er auch, daß er, der Inspektor Prickett, sich nicht noch heftiger davon abgestoßen fühlte.

»So lassen Sie doch das Geflenne,« herrschte er ihn an, »und betragen Sie sich wie ein Mann, nicht wie ein Wickelkind! Ist Ihre Erzählung wahr, so wird mein Rat gute Früchte tragen, haben Sie mich belogen, so wird Ihnen mit dem, was daraus entstehen mag, nur Ihr Recht. Sie haben sich die Suppe eingebrockt und müssen sie auslöffeln.«

»Ach, Herr Prickett,« sagte Marie abbittend, »Sie können sich ja nicht vorstellen, was mein Vater durchgemacht hat, nicht ermessen, wie diese monatelange Angst und Spannung ihn heruntergebracht haben!«

Dabei schlang sie ihre Arme um die geknickte von Schluchzen erschütterte Gestalt und bettete sein Haupt an ihrer Brust, als ob er wirklich ein »Wickelkind« gewesen wäre.

»Herzenspapa! Väterchen! Beruhige dich doch!«

»Wenn Sie sich noch etwas zu sagen haben, so nützen Sie die Zeit,« warf Prickett hin.

Sein innerstes Gefühl machte mildernde Umstände für den gebrochenen Mann geltend, doch nur mildernde Umstände, erwärmen konnte er sich aber beim besten Willen nicht für ihn.

»Es gibt einmal ungewöhnlich thörichte Waschlappen auf dieser Welt, und dieser scheint mir einer von der Sorte zu sein,« sagte er sich.

Aber die Tochter? Ja, Prickett wußte selbst nicht zu sagen, weshalb er von der Tochter entschieden eine höhere Meinung hatte.

»Der Alte hat das junge Ding in seine Narrheit hineingezogen,« überlegte er, »und sie hat aus lauter Liebe dumme Streiche gemacht.«

Wie »dumm« diese Streiche gewesen waren, konnte er ja am besten beurteilen, aber es lag auch etwas Gewinnendes darin. Prickett war ein Theaterfreund, ein eifriger Besucher des Schauspiels, dessen Genuß ihn ja natürlich nie Geld gekostet hatte. Er hatte von den Schauspielern sogar viel für seinen Beruf gelernt und glaubte, wirkliche Gemütsbewegung unfehlbar von gemachter unterscheiden zu können. So unbestreitbar echt, wie sie ihm hier erschien, war sie ihm selten im Leben begegnet.

»Das ist nicht Kunst,« sagte er sich, rücksichtsvollerweise zum Fenster hinaussehend, »das ist Natur.«

»Du wirst ja tausend, tausendmal glücklicher sein,« fuhr die zärtliche, beschwichtigende Stimme in seinem Rücken fort. »Deine Unschuld wird an den Tag kommen – ich weiß es gewiß. Denke nicht an mich – oder ja, denk' an mich! Denke immer, daß ich dich kenne, daß ich weiß, wie gut, wie ehrenhaft du bist! Ich würde nicht an dir zweifeln, und wenn die ganze Welt dich verdammte! Sie wird dich aber nicht verdammen, sie wird dich freisprechen, glaube mir! Ich bin jetzt so froh, daß alles so gekommen ist, wie's kam – ganz seelenfroh, sage ich dir.«

»Das nenn' ich vernünftig gesprochen,« sagte Prickett, sich umwendend. »Die einzig richtige Auffassung! Sie gehen hin und stellen sich. ›Ich bin ein ehrlicher Mann,‹ sagen Sie, ›dem der Schrecken die Sinne verwirrt hat. Mittlerweile bin ich zur Besinnung gekommen und ich will dies Leben in Acht und Bann nicht weiterschleppen.‹ Begreifen Sie denn nicht, wie stark ein solcher Entschluß für Sie spricht? Natürlich sehen Sie's ein! Ich kann den Prozeß in seinen Einzelheiten nicht beurteilen, das ist nicht meines Amtes. Aber Engel ist ein mehrfach überwiesener Schurke; kein Unbefangener wird sein Wort gegen das Ihrige gelten lassen. Sie waren ja doch früher nie in ... in Ungelegenheiten?« setzte er hinzu.

»Mein ganzes Leben war Kummer und Leid,« erwiderte Harcourt.

Prickett lächelte; die Antwort war entweder rührend einfältig, oder herzlich ungeschickt.

»Ich meine, ob Sie je in Anklagestand waren, verurteilt wurden?«

»Nein, nein, niemals! Ich durfte mein Haupt frei erheben bis zu dieser unseligen Zeit.«

»Um so mehr rate ich zur Offenheit. Verheimlichen Sie gar nichts und nehmen Sie einen tüchtigen Anwalt, dann gehen Sie reingewaschen aus der Sache hervor. Haben Sie noch mit Ihrer Tochter zu verhandeln, so ist es höchste Zeit.«

Harcourt raffte sich ein wenig auf. Er zog eine Brieftasche hervor und legte sie auf den Tisch.

»Darin ist alles, was ich besitze – etwas über fünfhundert Pfund – darf ich's meiner Tochter übergeben?«

»Na, na – ich will nicht hinsehen.«

Das war nicht berufsmäßig von Prickett, war vielleicht eine Pflichtverletzung, die er sich aber schon gönnen durfte, da er ja sein Gewerbe nur noch aus Liebhaberei betrieb.

»Und hier ist noch etwas,« sagte Harcourt, wieder in die Tasche greifend und ein Silberstück herausziehend. »Wertlos für jeden, der die Bedeutung nicht kennt – so viel ich weiß, ist der Kamerad dazu in Ihren Händen, Herr Prickett?«

»Ja, so verhält sich's.«

»Wer beide Stücke besitzt und entziffern kann, dem bedeuten sie ein ungeheures Vermögen.«

»Oder auch nicht!«

»Oder auch nicht – aber ich glaube daran. Gestatten Sie mir, diese Münze meiner Tochter zu geben, oder soll ich sie Ihnen anvertrauen?«

»Ich will beide aufbewahren, wenn es Ihnen recht ist,« versetzte Prickett. »Bei mir sind sie sicher und Fräulein Harcourt kann sie jederzeit haben – paßt Ihnen das?«

»Gewiß, ich danke Ihnen. Und jetzt bin ich bereit. Noch eines aber gestatten Sie mir zu sagen, Herr Prickett – Sie erfüllen Ihre Pflicht und ich lehne mich nicht dagegen auf – wie Sie deutlich erkannt haben, bin ich ein armer schwacher Mensch, aber doch nicht so thöricht, meine Schuld auf andre abzuwälzen. Aber während – während meiner Abwesenheit, kann meine Tochter in Gefahr kommen, denn Engel hat Helfershelfer. Diese werden das Geheimnis immer noch bei uns vermuten; sie nehmen mit Recht oder Unrecht an, der Schlüssel zu unerhörtem Reichtum sei in meiner Hand. Ich selbst glaube das ja auch, glaube es von ganzem Herzen. Jetzt büße ich meine Freiheit ein – auf unabsehbare Zeit, Sie aber haben Macht und Einfluß genug, um meine Tochter zu beschützen. Steht sie unter Ihrem Schutz, Herr Prickett?«

»Es sollte mich sehr wundern, wenn Meister Engel sich mausig machen könnte, ohne daß ich's erführe,« erwiderte Prickett. »Was ihn betrifft, so ist's um so besser, je freier die junge Dame sich zeigt. Sobald er sich rührt, erfahren wir's.«

»Und ihre Sicherheit?« fragte Harcourt angstvoll.

»Dafür verbürge ich mich. Unsre Leute werden Fräulein Harcourt bewachen. Die Königin von England wird nicht sicherer sein!«

»Ich danke Ihnen!« sagte Harcourt einfach.

Er war jetzt voll Selbstbeherrschung, und wenn seinen Zügen auch der Ausdruck mannhafter Entschlossenheit abging, so leuchtete doch Herzensgüte und edle Gesinnung aus seinem Blick.

»Ich fühle wohl,« sagte er in bedeutend freierem Ton, »daß Sie es gut mit mir meinen und meinem Wort bis auf einen gewissen Grad trauen. Ich bin jetzt im Unglück, aber mein Verhalten und meine Gründe dafür mögen gerechtfertigt werden. Wenn das geschieht und wenn ich die Freiheit wiedererlange, so mag dies Silberstück« – er ließ es über den Tisch rollen – »immerhin noch etwas zu bedeuten haben und mich in stand setzen, Ihnen nicht nur mit Worten zu danken.«

»Gut, daß Sie sich diesen Trumpf bis zuletzt aufgespart haben, Herr Harcourt!« warf Prickett lachend hin. »Denn das ist ja nichts mehr und nichts weniger als ein Bestechungsversuch! Meinen Sie nicht, wir sollten jetzt zum Schluß kommen? Darf ich einen Wagen herbeirufen?«

Prickett trat vor die Hausthüre und ließ mit Hilfe seines Hausschlüssels einen fachmännisch schrillen Pfiff ertönen. Er wartete dann noch den Erfolg seines Kunststücks, die Ankunft einer Droschke, draußen ab, um Vater und Tochter eine längere Frist zum Abschied zu gönnen, ein Zartgefühl, das ihm selbst beinahe unheimlich vorkam, und das ihn sogar veranlaßte, seine Rückkehr ins Zimmer durch ein vorsichtiges Klopfen anzumelden. Die beiden hielten sich noch umschlungen, als er eintrat, trennten sich aber willig.

»Leb' wohl, mein Herzenskind! Wir werden ja voneinander hören. – Herr Prickett, ich übergebe Ihnen mein Kind als ein heiliges Pfand!«

»Hat sich was mit der Heiligkeit!« rief Prickett mit gutmütigem Spott. »Sie soll gut behütet werden, da braucht's gar keine Beschwörungen. Hier hinaus, Herr Harcourt...«

Die beiden Männer stiegen ein und fuhren davon.


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