David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Achtzehntes Kapitel.

Die Expedition hatte ihre erste Tagesreise zurückgelegt. Das Ziel war ein roh gezimmertes Stationshaus, wie ihrer auf einer Strecke von etwa vierhundert Meilen noch verschiedene anzutreffen waren. Ein junges Indianerpärchen, noch nicht lange aus der Lehrzeit der Missionsschule entlassen, besorgte das Geschäft. Es waren aufgeweckte Leutchen, die in der Schule rührig und willig gewesen waren, aber rasch wieder den angeborenen Trieben anheimfielen und das Erbübel ihrer Rasse, die Augenentzündungen, schon wieder dadurch bekämpften, daß sie Fenster, Thüren und Rauchfang verstopften, als ob es sehr heilsam wäre, sich wie Heringe räuchern zu lassen. Gegen eine Entschädigung überließen sie den drei »Kavalieren« des Zuges, Engel, Vogel und Anise, ihre Hütte für die Nacht, und nachdem man die Fenster geöffnet und die einzige Stube einigermaßen bewohnbar gemacht hatte, ließen diese sich darin nieder. Jones sorgte für die Unterkunft seiner Leute, das Absatteln und Füttern der Maultiere und Pferde und begab sich dann verabredeterweise zu seinen Gebietern, die ihre Mahlzeit schon beendigt hatten und auf ihren Decken vor dem Kaminfeuer ausgestreckt lagen, jeder mit einer gewaltigen Zinnkanne Grog neben sich. Eine einzige Kerze beleuchtete den Raum, und Engel benutzte ihren Schein, um ein Notizbuch zu studieren.

»Whisky, Kapitän?« fragte er den Eintretenden.

»Bin durchaus nicht abgeneigt.«

Er trank mit Maß, setzte sich dann auf den einzigen Stuhl der Herberge und steckte seine Pfeife an.

»Wir müssen nun einmal Kriegsrat halten!« begann Engel. »Unser Ziel ist nämlich nicht nur Klondyke, und ich kann noch nicht sagen, wie weit unser Weg mit dem der Expedition zusammenfällt. Hier ist die neueste Karte dieser Gegend, nehmen Sie die zur Hand! Die roten Linien und alle rot eingezeichneten Namen sind der letzten amtlichen Aufnahme entnommen, die noch nicht veröffentlicht ist. Jetzt suchen Sie einmal den Fluß Yukon – haben Sie's?«

Jones verkündete, daß sein Finger die Mündung des Stromes decke, und nun gab Engel aus seinem Notizbuche einen Weg an, den der Kapitän von Punkt zu Punkt mit dem Finger nachzeichnete.

»Jawohl, ganz richtig,« bemerkte er. »Da sind die Stromschnellen und, jawohl, jawohl, das muß unbedingt die Sandbank des Toten Manns sein! Ganz richtig, das ist die Unterstelle bei dem großen Felsen – da bekamen wir damals frisches Fleisch zu kosten, denn ich erlegte einen Bären ... stimmt genau.«

Engel las immer weiter in seinen Notizen, und die zwei Freunde, die sich in sitzende Stellung aufgerichtet hatten, sahen mit wachsender Spannung des Kapitäns Finger auf der Karte vorrücken.

»So, das müssen wir genau feststellen,« sagte Jones. »Wir gehen also von Klondyke nördlich ...«

»Wie weit?« fragte Engel.

»Mindestens vierzig Meilen meiner Schätzung nach.«

»Ist man je so weit vorgedrungen?«

»Nein, meines Wissens war noch keine Seele dort.«

»Also von hier aus müssen wir Klondyke durchqueren?« fragte Engel.

»Um dorthin zu kommen? Ganz gewiß.«

Engel klappte sein Buch zu und steckte es in die Rocktasche. Aus seinen Augen leuchtete das Hochgefühl des Triumphs und seine Begleiter waren nicht minder erregt. »Daß sich einer um diese Jahreszeit zufällig dorthin verliefe, ist nicht sehr wahrscheinlich,« bemerkte er befriedigt. »Und Sie halten die Reise für ausführbar, Kapitän?«

»Ausführbar? Warum soll sie denn nicht ausführbar sein?« sagte Jones offenbar gekränkt über den Zweifel. »Natürlich führen wir sie aus.«

Engel füllte des Kapitäns Zinnkrug ein zweites Mal. Jones trank ihn aus und empfahl sich.

»Soweit läßt sich ja die Sache nicht übel an,« warf Vogel hin, sobald die Drei unter sich waren.

»Meiner Meinung nach stünde sie noch viel besser, wenn du nicht wärst,« bemerkte Anise trocken.

»Was soll das heißen?« fragte Vogel gereizt.

»Du brauchst dich gar nicht aufzuregen,« entgegnete Anise in demselben trockenen Geschäftston. »Wenn du so vernünftig gewesen wärest, unsern Freund Prickett zu lassen, wo und wie er war, hätte ich etwas mehr Vertrauen in meine eigene Zukunft. Ein sehr wahres Wort sagt, daß Tote nichts ausplaudern.«

»Nichts ausplaudern?« wiederholte Vogel mit einem häßlichen Auflachen. »Kein Lebender redet so laut wie Tote!«

»Ich hätte gedacht, über Ammenmärchen wärst du hinaus!«

»Hör' einmal,« sagte Vogel, sich auf den Ellbogen stützend und eine Hand auf des Kameraden Knie legend, »ich will nicht prahlen, aber mit meinem Gewissen werde ich so gut fertig als irgend einer; aber etwas gibt's, womit ich womöglich nichts zu schaffen haben will. Du weißt, was ich meine – nennen will ich's lieber nicht. Es ist ein widerliches Wort, das man besser nicht in den Mund nimmt. Und weil ich nun einmal dran bin, von der Leber weg zu reden – die Geschichte hat mein Zutrauen zu euch beiden nicht gerade gestärkt. Solange wir uns zu der Expedition halten, weiß ich mich sicher und ich werde dabei bleiben, denn mit keinem von euch möcht' ich allein in der Einöde sein. Und wenn's ans Abkochen geht, werde ich mein eigener Koch sein. Engel versteht viel zu viel von Chemie, um ein angenehmer Reisegefährte zu sein.«

»Was ist denn das wieder für ein dummes Geschwätz?« brauste Engel auf.

»Schon gut,« sagte Vogel, sich zum Schlaf ausstreckend. »Ich bin kein Heimlichthuer und nehme kein Blatt vor den Mund. Solange wir unter all den Leuten sind, bin ich in Sicherheit, und in Sicherheit will ich bleiben. Meint ihr, daß ich der Esel sei, zu glauben, ihr würdet irgend etwas mit mir teilen, wenn es nicht sein muß? Nein, so dumm bin ich nicht.«

»Und mit dir würde Anise gerade so wenig teilen, Engel, wenn er nicht müßte! Nein nein, ich bin auch nicht von heute.«

»Er hat die ganze Woche stark getrunken,« bemerkte Anise entschuldigend. »Die frische Luft wird ihm den Unsinn aus dem Kopf treiben.«

Engel, dessen Gesicht vor Wut und einer noch stärkeren Leidenschaft kreideweiß geworden war, schoß einen giftigen Blick auf die ausgestreckte Gestalt und legte sich dann auch.

»Du bist ja ein gelehrtes Haus, Hansel,« fuhr Vogel fort, indem er sich auf die Seite wälzte, um Anise ins Gesicht sehen zu können, »und hast die Geschichte sicherlich gelesen. Es waren einmal drei Spitzbuben, die fanden einen großen Schatz, aber einer davon hätte ihn gern für sich allein gehabt. Drum kaufte er sich Gift und that's in eine Flasche Schnaps. Während er fort war, verabredeten die beiden andern, ihn totzuschlagen, und thaten's auch. Dann sagte der eine: ›Wir wollen uns stärken, eh' wir ihn verscharren‹, und tranken des Toten Schnapsflasche aus. Da mußten sie beide ins Gras beißen.«

»Ja, die Geschichte ist mir allerdings bekannt,« sagte Anise lächelnd. »Sie findet sich bei Chaucer, aber deine Lesart ist mir lieber; sie ist anerkennenswert klar und kurz. Und du meinst, das sei so ungefähr der Geist, der uns beseele?«

»Zwei von uns sicherlich.«

»Was redest du noch mit dem Narren?« rief Engel, in dessen erdfahlem Gesicht jeder Muskel zuckte.

»Freundchen, warum nimmst du denn sein Geschwätz so tragisch? Wir haben doch wahrhaftig noch Ehrgefühl, und muß auch so sein, sonst würde ja das Sprichwort zu schanden. Was mich betrifft, so sind mir unsres jungen Freundes Hirngespinste einfach lächerlich. Der Entdecker des Schatzes schätzte ihn auf rund zwei Millionen Pfund Sterling – ein Drittel davon ist reichlich genug für mich. Zwanzigtausend Pfund im Jahre ist alles, was sich ein Junggeselle wünschen, und mehr als er ausgeben kann. Mit mehr möchte ich gar nicht belastet werden!«

Vogel richtete sich auf und nahm noch einen Schluck aus der am Boden stehenden Flasche.

»Ich muß frische Luft schöpfen,« rief Engel, aufspringend und seinen Pelzrock umlegend. »Mit dem Rum sollte man übrigens ein wenig vorsichtig umgehen – wir müssen von Anfang an unsre Vorräte zusammenhalten.«

»Ohne Sorge,« gab Vogel mit einem vielsagenden Blick zurück. »Von morgen an schwöre ich dem Alkohol ab. Heute nacht wirst du ja doch nicht an die Arbeit gehen wollen – es wäre gar zu verdächtig, oder?«

Mit einem Wink gegen Anise hin, ging Engel ohne ein weiteres Wort hinaus und kurz darauf folgte ihm Anise. Die Nacht war hell und die Luft für Jahreszeit und Breitegrad ungewöhnlich mild, aber als Anise dem Kameraden die Hand auf die Schulter legte, fühlte er, daß dieser zitterte, als ob ihn bis ins Mark hinein fröstelte.

»Laß dich doch von dem besoffenen Esel nicht ins Bockshorn jagen,« bemerkte er.

Das Lager der Expedition war ein paar hundert Schritte entfernt. Die weißen Zelte schimmerten im Dunkel und wurden da und dort von rotem Feuerschein warm angeglüht, denn Holz war hier in Menge aufgespeichert und man hatte sich's behaglich gemacht. Ungefähr in der Mitte zwischen Posthütte und Feldlager blieben die nächtlichen Spaziergänger stehen.

»Alterchen,« begann Anise in einem beschwichtigenden Ton, der beinahe zärtlich klang, »du solltest dich nicht derart von Gemütsbewegungen überwältigen lassen. Laß das aufgeregte Biest doch ausschlagen!«

Doch Engel schüttelte die Hand, die sich wieder auf seine Schulter legte, ungeduldig ab.

»Der Kerl ist ein Kaffer durch und durch,« fuhr Anise fort, »ein polternder, ungebildeter, unverschämter Hund. Wenn seine Vermutungen über deine Absichten richtig wären, würde ich im Grunde wenig dagegen einzuwenden haben – weit weniger, als wenn sie zum Beispiel mir gälten.«

Engel suchte sich in der Dunkelheit über den Gesichtsausdruck des Genossen bei diesen Worten klar zu werden, konnte aber nicht daraus klug werden; Anise erschien ganz gemütsruhig.

»Nun komm, mein guter Engel,« setzte Anise immer noch in dem einschmeichelnden gedämpften Ton hinzu. »Ist eigentlich etwas daran?«

»Der Teufel hole ihn,« stieß Engel mit den Zähnen knirschend heraus. »Wenn er mich noch lange reizt, kann's noch wirklich dahin kommen.«

»Nun, nun ... solang keine thätliche Beteiligung von mir gefordert wird, will ich – ich finde nämlich auch, daß einem der Kerl verdammt im Weg ist.«

Engel zitterte, als ob er vom Schüttelfrost befallen wäre; in der tiefen Stille ringsum konnte man seine Kleider rascheln hören.

»Komm, komm!« ermahnte der Tröster. »Nimm dir's doch nicht so zu Herzen.«

»Wenn die blödsinnige Narrheit dieses Burschen nicht wäre,« knirschte Engel mit rauher, unsicherer Stimme, »könnten wir unbedingt sicher sein, während wir jetzt, Dank seiner Eselei, den geriebensten von den verfluchten Henkersknechten auf den Fersen haben. Er macht gemeinsames Spiel mit dem Mädel, der Harcourt, die unsern Plan und die Richtung, nach der wir steuern, zum Teil kennt. Angenommen, wir finden den Schatz,« brach es leidenschaftlich aus ihm heraus, »so genügt die Thatsache, daß wir ihn haben, uns in den Mund der Leute zu bringen, die Augen der ganzen Welt werden auf uns gerichtet sein, und der Kerl hat es in der Hand, jeden auf solche Weise plötzlich zu so enormem Reichtum Gelangten überwachen zu lassen!«

»Dieser Gefahr setzen wir uns natürlich aus,« bemerkte Anise ruhig. »Aber meinst du, daß sie vermindert würde, wenn du deinen Plan gegen Vogel ausführtest?«

»Meinen Plan gegen Vogel?« wiederholte Engel, wiederum am ganzen Leibe zitternd wie Espenlaub. »Was verstehst du denn darunter?«

»Ich verstehe darunter,« erwiderte Anise mit schneidender Verachtung, »daß du ihn aus dem Wege räumen willst, und da meine ich nur, daß wenn etwas Derartiges geschehen soll, es offen ...«

»Weiter!« herrschte ihn Engel an.

»Es offen und ehrlich zwischen uns besprochen werden sollte.«

»Du würdest doch wohl nicht wagen dürfen, deine Kenntnis davon gegen mich zu verwerten, denn ...«

Engel vollendete den Satz nicht.

»Es kommt nicht viel dabei heraus, derartiges zu erörtern,« entgegnete der andre gelassen. »Unsre Interessen fallen zusammen, und ich verstehe und kenne deine Lage vollständig. Wollen wir nicht lieber hineingehen, jetzt?«

Engel hatte gerade kein Bedürfnis, den Mann zu sehen, über den sie eben so kaltblütig das Los geworfen hatten. Er war ein Verbrecher, aber die Fähigkeit, vor seinen eigenen Thaten zu erschrecken, hatte er noch nicht eingebüßt. So setzten sie denn ihren Spaziergang fort und gesellten sich eine Weile zu den Leuten am Lagerfeuer. Erst spät kehrten sie zu ihrer Schlafstätte zurück. Die Rumflasche war leer und Vogel lag laut schnarchend am Boden. Mit einem stummen Blick auf die ausgestreckte Gestalt machten auch die beiden andern Anstalten zur Nachtruhe, doch Engels Schlaf war unruhig und von schweren Träumen beängstigt. Einmal hörte er dumpfen Hufschlag vor der Hütte, achtete aber nicht weiter darauf.

»Ich muß schlafen,« sagte er sich. »Für diese Art von Arbeit bin ich schon ziemlich bei Jahren und ich muß sorgen, meine Kraft zusammenzuhalten.«

Obwohl ihm vor den Traumgesichten graute, legte er sich wieder zurecht und schlief ein; bald darauf ertönte der Hufschlag wieder, brach aber jählings vor dem Blockhaus ab. Jetzt wurde die Thür rücksichtslos aufgerissen, und ein Mann mit einer Laterne in der Hand stieß Engel ungestüm mit dem Fuß an und erteilte ihm den kurzen Befehl: »Ihr da! Aufgestanden!«

Verblüfft und geblendet riß Engel die Augen auf. Ein halbes Dutzend Polizisten, bis an die Zähne bewaffnet, drang herein. Halb bestürzt, halb entsetzt sprang Engel auf die Füße und hatte, ehe er sich's versah, Handschellen angelegt; die Bestürzung war zu groß, um Widerstand zu leisten. Auch Anise war im Nu gefesselt, und was Vogel anbetrifft, so war der viel zu verschlafen und betrunken, um den Vorgang zu begreifen; er hielt willig die Hände hin.

»Wo ist die Dame?« fragte jetzt der Befehlshaber.

»Hier,« erwiderte einer von den Leuten, und im nächsten Augenblick standen sich Engel und Marie Harcourt Aug' in Auge gegenüber. Die gefesselten Arme in die Höhe werfend, wollte er auf sie zuspringen, aber einer von der Mannschaft riß ihn zurück, während ihm ein andrer die Arme um den Leib schlang, so daß ihm nichts übrig blieb, als in ohnmächtiger Wut innerlich zu schäumen.

»Das sind die Richtigen, Fräulein?«

»Ja,« versetzte Marie. »Dieser heißt Engel, dieser Vogel, dieser Anise. Inspektor Prickett führt die Haftbefehle für alle drei bei sich.«

»An die Arbeit, Jungens!« lautete jetzt der Befehl, »Dieser kommt zuerst dran.«

Sie wurden nach Waffen durchsucht und dann scharf bewacht bis zu Tagesanbruch.


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