David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Fünftes Kapitel.

Pricketts Gedanken waren in der nächsten halben Stunde fast ausschließlich mit Frau Harcourt beschäftigt, und merkwürdigerweise mischte sich in alle Vorstellungen, die er sich von ihrem Thun machte, ein gewisses Mitleiden. Dieses Mitgefühl war ihm durchaus nicht geläufig, denn er hatte die Jagd auf Menschen so lange als Beruf betrieben, daß all sein Empfindungsvermögen in der Lust des Sports aufgegangen war. Er hatte eine hohe Meinung von sich und seinen Fähigkeiten und hatte sie oft genug durch die That gerechtfertigt. Bei seinem Rücktritt vom Amt hatten ihm die Kollegen ein Abschiedsfest gegeben, und der höchste Vorgesetzte war auf eine halbe Stunde dabei erschienen und hatte eine Rede gehalten, worin sein Bedauern, einen so erfahrenen, tüchtigen Beamten zu verlieren, zu beredtem Ausdruck gekommen war.

»Ich scheue mich nicht, einzugestehen,« hatte der Polizeipräsident gesagt, »daß ich in meinem Leben keinen geriebeneren Mann kennen gelernt habe, als den Inspektor Prickett.«

Der »Geriebene« hatte dieses glänzende Zeugnis mit höchster Bescheidenheit abgelehnt, im Grund seines Herzens aber war er durchdrungen von dessen Richtigkeit. Er ging ja nicht so weit, zu behaupten, daß es keinen Geriebeneren geben könne, aber den Besten, die er kennen gelernt hatte, war er gewachsen gewesen.

Man braucht sich deshalb Prickett nicht als Renommisten und eitlen Narren vorzustellen; er sprach im Gegenteil nie von seinen Verdiensten und rühmte sich niemals der errungenen Erfolge. Aber Jahr um Jahr hatte er mit Aufbietung all seines Scharfsinns mit den abgefeimtesten Schurken der Welt den Kampf aufgenommen, und wenn er auch hie und da eine Partie verloren hatte, sie meist doch matt gesetzt. Dieses Bewußtsein gibt dem Menschen natürlich Selbstvertrauen, und Prickett war innerlich überzeugt, daß er den Besten seiner Zeit genug gethan habe.

Gerade diesem Selbstgefühl entsprang in gewissem Sinne sein Mitleid mit der kleinen Witwe. Sie war so sichtlich ein Neuling, gab sich jeden Augenblick derart preis, daß, ihr eine Falle zu stellen, Kinderspiel war und er sich dem ohnmächtigen Gegner gegenüber des Siegs beinahe schämen müßte. Andererseits hatte er manche Beobachtungen gemacht, die deutlich verrieten, daß diese Jagd nicht unter seiner Würde war. Der General hatte die Hand im Spiel – wie, das wußte Prickett zwar noch nicht – und der General war ein würdiger Gegner, ein Feind nach seinem Herzen, ein Schurke durch und durch, ebenso schlau als kühn, und nicht der Mann, sich mit Kleinigkeiten zu verplempern.

Als Frau Harcourt mit dem Ersatz für das verunglückte Frühstück erschien, nahm Prickett mit Vergnügen wahr, daß sie ihm gefaßter, selbstbewußter gegenüberstand, als je bisher. Er nahm sofort an, daß sie sich einen Feldzugsplan zurecht gemacht habe und zum Handeln entschlossen sei. Die Ausführung sollte ihr folglich leicht und bequem gemacht werden.

»Bitte, bestellen Sie der Frau Perks, daß ich vor Mitternacht nicht heimkommen werde,« sagte er, »und daß es ganz unnötig sei, aufzubleiben und auf mich zu warten. Den Hausschlüssel habe ich ja – du liebe Zeit! Da wäre ich ja um ein Haar ohne einen Pfennig Geld ausgegangen und obendrein auf eine Landpartie! Schrecklich, wie zerstreut ich nachgerade werde. ...«

Dabei griff er nach ein paar Goldstücken und steckte sie in seine Westentasche, warf das übrige Häufchen samt der Silberscheibe wieder in seine kleine Kasse und schlug den Deckel zu, daß es klirrte.

»So, das wäre sicher eingesperrt!« warf er lachend hin, indem er das zierliche Schlüsselchen umdrehte. »Nun heißt's aber eilen! Guten Morgen, Frau Harcourt!«

Die Kasse gleichmütig auf den Kaminsims stellend, eilte er in heiterster Stimmung davon. Frau Harcourt spähte, hinterm Vorhang versteckt, durchs Fenster hinaus und sah ihn auf die Straße treten. Er schritt, ohne sich umzusehen, rüstig aus, und an der Straßenecke sah sie ihn den fest gefalteten schlanken Schirm hochhalten und gleichzeitig in Laufschritt übergehen, gerade als ob er einer herbeigewinkten Droschke entgegenliefe. Der heimtückische Mensch hatte diese kleine Pantomime nur ausgeführt, weil er mit Sicherheit annehmen konnte, daß er beobachtet werde; kaum daß er außer Sicht war, schlenderte er in gemächlichem Schritt seines Weges.

Kein Mensch konnte etwas davon merken – denn der Plan war schon gestern ausgearbeitet worden und eine Verständigung darum nicht mehr nötig –, daß einige Straßenjungen, die sich die Zeit mit Purzelbäumen kürzten, nur auf sein Erscheinen gewartet hatten, um dann ihren Tummelplatz vor sein eben verlassenes Haus zu verlegen. Prickett selbst trat einstweilen in ein anständiges Weinhaus – merkwürdig, in wie viel anständigen Weinhäusern er ein geschätzter Gast war – und setzte sich mit einem Glas Wein, einer Cigarre und einem Bündel Zeitungen in ein Privatzimmer. Vor der Thüre stand eine gut bespannte Droschke, deren Kutscher er im Vorbeigehen grüßend zugenickt hatte. Eine halbe Stunde verging, der Wagen stand immer noch vor dem Haus, Prickett las immer noch in der Zeitung, als einer von den Jungen die Thür aufriß und rief, noch keuchend vom eiligen Lauf: »Die Barlowstraße hinunter!«

»Zu Wagen?« fragte Prickett.

»Nein, zu Fuß,« versetzte der Junge.

Prickett nahm seinen Hut, ging hinaus und stieg in die wartende Droschke.

»Barlowstraße,« verständigte er den Kutscher. »Keine Eile nötig.«

Der Mann nickte und das Pferd setzte sich in gemächlichen Schritt. Die Barlowstraße war menschenleer, aber nach etlichen hundert Schritten tauchte ein Junge auf, und bei einer kleinen Biegung der Straße wurde die Gestalt der jungen Witwe sichtbar, die eine schwarze Ledertasche in der Hand trug und sehr rasch ging; der Wagen war noch etliche fünfzig Meter von ihr entfernt.

»Die Burschen werde ich aufwecken, wenn ich heimkomme,« sagte Prickett vor sich hin. »Sind Schlafmützen!«

Näher und näher kam die Droschke der schlanken, eilig dahingleitenden Gestalt, bis auf ein Zeichen mit dem Schirm der Kutscher dicht an den Fußsteig fuhr. Als sie die Räder in unmittelbarer Nähe kreischen hörte, wandte Frau Harcourt unmittelbar den Kopf und sah Pricketts herausgebeugtes Gesicht dicht vor sich. Der Wagen hielt, sie aber stand leichenbleich, die Hand gegen ihr Herz pressend, still.

»Guten Tag,« sagte ihr Zimmerherr freundlich. »Ich habe mich in elfter Stunde anders besonnen und die Landpartie aufgegeben. Darf ich Sie vielleicht irgend wohin fahren? Es würde mir nur Vergnügen machen.«

Diesen Blick des in der Schlinge gefangenen Wildes hatte er schon auf manchem Menschenantlitz gesehen, er hatte die Angst in Trotz oder Verzweiflung übergehen, er hatte Mordgedanken aufblitzen sehen. In seiner Jugend war ihm dieser Blick zu Herzen gegangen, hatte ihn tief zu erschüttern vermocht, nach und nach aber hatte die Gewohnheit eine Rinde um sein Herz gebildet, die indes vor diesem Angstblick keinen Schutz gewährte.

»Ich bringe Sie in jede beliebige Stadtgegend,« wiederholte er sanft.

»Nein, ich danke,« erwiderte sie, und er sah einen leisen Hoffnungsstrahl in ihrem Blick – einen Strahl der Hoffnung, daß er am Ende doch arglos sei und sie ihres Wegs ziehen lassen werde!

»Nun, irgend wohin gehen Sie ja doch – also steigen Sie ein,« sagte er dringlich und nahm ihr dabei die schwarze Ledertasche einfach aus der Hand.

Sie widerstrebte auch nicht, sondern sah ihm nur angstvoll und flehend in die Augen. Er hielt ihr die Hand hin, um ihr beim Einsteigen zu helfen, aber sie schwang sich ohne seinen Beistand in den Wagen.

»So, und welche Adresse soll ich dem Kutscher angeben?« fragte er. »Mir ist's vollkommen gleichgültig, in welcher Richtung Ihr Ziel liegt.«

Wieder sah er das schwache Fünkchen Hoffnung in ihrem Blick aufflackern, gerade als ob sie sich sagte, daß sie am Ende nur Gespenster gesehen habe.

»Charing Croß,« erwiderte sie mit einem mühseligen Lächeln.

»Schön – Charing Croß, Kutscher!« befahl Prickett.

Er setzte sich, die Ledertasche sorgsam auf den Knieen haltend, neben sie. Diese Tasche war so leicht, daß man sie für leer halten konnte, und nur mit der Klappe geschlossen, Prickett strich spielend mit der Hand über den Bügel, die Tasche sprang auf – seine eigene Geldkasse lag darin. Er nahm sie heraus, warf einen Blick auf seine Gefährtin und legte die Kasse wieder hinein. Frau Harcourt war in sich zusammengesunken und verdeckte das Gesicht mit den Händen; ihr ganzer Körper zitterte wie Espenlaub.

»Ich glaube, wir fahren lieber nicht nach Charing Croß,« erklärte Prickett und rief dem Kutscher den Befehl zu: »Nach Hause!«

Seine Gefangene verhielt sich schweigend, wenn das seltsame Zittern nicht gewesen wäre und ihre Brust nicht so stürmisch gewogt hätte, hätte man denken können, sie schlafe. Er ärgerte sich über sich selbst, daß ihm ihr Zustand solches Mitleid einflößte.

»Du wirst dich doch durch ein Paar hübscher Augen nicht aus dem Konzept bringen lassen, alter Esel?« redete er sich im stillen an. »Sie drängt sich mit schwindelhaften Empfehlungen ins Haus einer anständigen Frau, ist die Helfershelferin eines der schnödesten Halunken unter Gottes Sonne, nimmt ohne alle Ziererei deine Geldkasse an sich, weil sie den Inhalt haben möchte – ein würdiger Gegenstand des Mitleids, das muß man sagen, und nur ein Schafskopf könnte da gerührt sein!«

Mit derartigen Schmeicheleien setzte er sich selbst den Kopf zurecht, und als die Droschke vor seiner Wohnung hielt, war er beinahe wieder mit sich selbst zufrieden. Er trennte sich von dem Kutscher ohne die Förmlichkeit der Bezahlung, schloß selbst die Hausthür auf und ließ die Witwe vorangehen. Sie führte keinerlei hysterische Komödie auf, aber er sah wohl, daß sie sich kaum auf den Füßen halten konnte.

»Nun, Sie benehmen sich wenigstens verständig,« bemerkte er, sobald sie sein Zimmer erreicht hatten, »und ich will um Ihretwillen hoffen, daß Sie's auch ferner thun werden. Ich habe ein paar Fragen an Sie zu stellen und rate Ihnen, mir ehrlich Bescheid zu geben, denn sobald Sie mir etwas weismachen wollten, müßte ich ohne jede Schonung vorgehen. In erster Linie bitte ich um Ihren Namen?«

»Marie Harcourt,« war ihre Antwort.

»So – dabei bleiben Sie? Nun, wenn Sie so heißen, so ist's ja recht, aber wenn Sie glauben, mir ein X für U vormachen zu können, so täuschen Sie sich gründlich. Sie heißen also Marie Harcourt?«

»Ja, so heiße ich.«

»Verheiratet oder ledig?«

»Ledig.«

»Also gut – Marie Harcourt, ledig. – Wovon bestreiten Sie Ihren Unterhalt?«

»Ich bin mittellos.«

»Das kann nicht sein – wovon würden Sie denn leben?«

Sie schwieg.

»Heraus mit der Sprache – wovon ernähren Sie sich? Sie müssen einsehen, daß Verstocktheit Ihre Lage nur verschlimmern kann! Ihr Schweigen ist im höchsten Grade verdächtig, das liegt doch auf der Hand; je verschlossener Sie sind, desto mehr reiten Sie sich hinein.«

Prickett war nicht leicht in Verwunderung zu setzen, aber Marie Harcourt bereitete ihm trotzdem eine Ueberraschung. Sie hatte den Stuhl, den er ihr angeboten hatte, nicht angenommen, sondern war vor ihm stehen geblieben, beide Hände gegen die Tischplatte stemmend, als ob sie einer Stütze bedürfte. Jetzt richtete sie sich hoch auf und ging mit ausgebreiteten Armen einige Schritt auf ihn zu, schlug aber dann mit wildem Schmerzenslaut die Hände vors Gesicht.

»O Herr Prickett!« rief sie unter Schluchzen. »Ich habe viel von Ihnen gehört – wie gut und wie gescheit Sie seien – stehen Sie mir bei! Helfen Sie mir, Herr Prickett!«

»Oho!« dachte Prickett für sich. »Eine neue Falle und weiter nichts.«


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