David Christie Murray
Die Jagd nach Millionen
David Christie Murray

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Achtes Kapitel.

In der Nacht, die auf diesen wichtigen Tag folgte, sollte der Exgewaltige, der geriebene, schlaue, gewitzigte, kühne Inspektor Prickett, der Schrecken aller Schurken in London, zur tiefsten Demütigung seines ganzen Lebens erwachen.

Er befand sich in pechschwarzer Finsternis; er war an den Fußknöcheln und an den Knieen, an den Handgelenken und an den Ellenbogen gefesselt, und sein Blut sauste und schwirrte in dem wahnsinnig schmerzenden Kopf. Im übrigen befand er sich in einem Bett, und die Berührung mit der Wange ließ ihn erkennen, daß dessen Bezug aus feiner Leinwand bestand. Dies war aber auch die einzige Beobachtung, die er anzustellen vermochte, bis er von der Straße herauf Hufschlag und Räderrollen vernahm. Er konnte daraus erkennen, daß er sich in einem hochgelegenen Vorderzimmer befand und daß die Straße mit Asphalt belegt war.

Jetzt versuchte er's mit dem Nachdenken, aber sein Gehirn versagte eine geraume Weile den Dienst. Nur seine Kopfschmerzen und seine Fesseln waren Gewißheit für ihn. Wahrscheinlichkeit war, daß er sich noch in London befand. Allmählich lichtete sich's ein wenig in ihm und er konnte sich auf einiges besinnen – viel war's freilich nicht. Er war die Gowerstraße entlang gegangen, die zwar heute nicht mehr zu den vornehmen zählt, aber doch einem höchst anständigen, ruhigen Quartier angehört und die jeder Londoner zu den sichersten rechnen würde. Einer der ersten Herbstnebel war gefallen, nicht so dicht, daß man sich nicht mehr ausgekannt hätte, aber immerhin dick genug, daß die Wagen gespenstisch an einem vorüberhuschten und man die Häuser auf der andern Seite der Straße nicht erkannte. Er nahm auch zu an Dichtigkeit, und es wurde dabei so kalt, daß Prickett stehen blieb, um seinen Ueberzieher zuzuknüpfen. Er entsann sich jetzt, einen raschen Schritt hinter sich gehört zu haben – dann ein betäubender Schlag, Schwindel, tanzende Feuerfunken – das war alles.

Die Thatsache ließ sich nicht wegleugnen. Er war auf offener Straße überfallen, zu Boden geschlagen und geknebelt worden, er, der Inspektor Joseph Prickett. Das erste, was ihm völlig zum Bewußtsein kam, war der gallenbittere Geschmack dieser Demütigung. Wenn das einem andern zugestoßen wäre, würde er sich kaum gewundert haben, denn in einer Stadt wie London geschehen derartige außerordentliche Dinge mehr als einmal im Jahr, und er hatte so oft damit zu thun gehabt, daß sie ihm ganz alltäglich vorkamen. Aber daß er – er – Joseph Prickett in dieser Weise hatte behandelt werden können, das war erstaunlich, so erstaunlich, daß man den Verstand darüber verlieren konnte! Er war sich ja wohl bewußt, Hunderten von Menschen während seiner Amtstätigkeit Grund zum Haß gegeben zu haben, und jeder wieder in Freiheit gelangte Bandit, der das Halsabschneiden als Gewerbe betrieb, konnte seinen Groll auf diese Weise ausgelassen haben. Naturgemäß fiel aber sein erster Verdacht doch auf Engel. Engel war der Letzte, dem er bös mitgespielt hatte, und Engel suchte einen Gegenstand, den er besaß. Engel war auch ruchlos und tollkühn genug, jeder Schlechtigkeit fähig.

Soweit das greuliche Sausen im Kopf es zuließ, überlegte er in ungestörter Stille und Dunkelheit, was man wohl gegen ihn beabsichtigt haben mochte. Es gehörte Mut dazu, diese Frage ins Auge zu fassen, aber nach dieser Seite hin kannte Prickett keine Schwachheit. Was Furcht heißt, hatte er im Verlauf des Lebens beinahe vergessen, und so elend und auch hilflos er dalag, waren doch Zorn und Selbstverhöhnung weitaus vorherrschend über das Bangen.

Er war überzeugt, daß es noch Nacht war, ja noch nicht einmal Mitternacht vorüber. Trotz des Ohrensausens konnte er in einiger Entfernung noch Wagenverkehr unterscheiden, dann und wann rollte auch ein einzelnes Gefährt über den Asphalt seiner Straße. Es mußte um die Zeit sein, wo man von den Theatern nach Hause fährt. Im Haus selbst rührte sich nichts, und in seinem Zimmer war es so still, daß er das Ticken seiner Taschenuhr deutlich vernehmen konnte. Jetzt hörte er eine Turmuhr schlagen – drei Viertel. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie wieder ansetzte! Seine Voraussetzung bestätigte sich; sie schlug jetzt Mitternacht.

Er war furchtbar durstig. Das war ihm schon öfter im Leben begegnet, aber die eigentlichen Qualen des Durstes hatte er noch nicht kennen gelernt. Sobald er an etwas Trinkbares dachte, steigerte sich diese Qual ins Maßlose; er gab sich also alle Mühe, nicht daran zu denken. Jetzt schlug die Turmuhr ein Viertel, dann halb, dann drei Viertel und dann hörte er in der Totenstille seines Gefängnisses einen Schlüssel im Schloß der Hausthüre kreischen. Er sagte sich, daß er trotz seiner Schmerzen ein wenig geschlummert haben müsse, denn Fußtritte hatte er nicht vernommen. Die Thür wurde leise geöffnet und wieder geschlossen, dann erklang ein Schritt auf dem Linoleumboden des Vorplatzes, ein unsicher tastender Schritt, wie wenn jemand ohne Licht seinen Weg sucht. Ein mit Geräusch umgestoßener Stuhl bestätigte diese Vermutung. Jetzt kam der Schritt, von einem dünnen Läufer gedämpft, die Treppe herauf bis zum ersten Stock, dann hörte man ein Zündholz anstreichen und das schrille Singen einer rasch angezündeten Gasflamme, die sofort heruntergeschraubt wurde. Nun ging der Schritt sicher und zielbewußt weiter.

»Ich liege im Dachstock,« überlegte Prickett. »Einer allein kann mich nicht heraufgeschleppt haben.«

Sein Herz klopfte hörbar, höchst unregelmäßig und stürmisch.

»Ruhig, Alter!« ermahnte er sich selbst. »Du mußt Ruhe zeigen. Was auch kommen mag, nur keine Angst verraten!«

Der Schritt kam näher, eine Thüre ging und ein schwacher Lichtschimmer strömte herein. Eine schwarze, vierschrötige Gestalt, kaum erkennbar, trat herein – jetzt flammte wieder ein Streichholz auf und er erkannte Engel. Der Schurke drehte den Gashahn auf und entzündete eine zischende Flamme, die Prickett nach der tiefen Dunkelheit derart blendete, daß er die Augen zudrücken mußte. Als er sie wieder aufschlagen konnte, sah er in Engels Gesicht, das forschend über das seinige gebeugt war.

»Aha! Dachte mir, daß Sie wieder zu sich gekommen wären!« bemerkte er.

Prickett wollte sprechen, brachte aber nur einen dumpfen Laut heraus. Er räusperte sich gewaltsam und sagte mühsam: »Sie sind's?«

»Ja, ich bin's. Sie haben viel bei mir auf dem Kerbholz, Herr Prickett, und ich denke, ich kann mich jetzt bezahlt machen.«

Pricketts flackernder Blick heftete sich auf Engel. Dieser griff nach einem Stuhl, zog ihn heran und setzte sich ans Bett, worauf er Pricketts Fesseln betastete.

»Ist gut!« brummte er, seine Cigarrentasche herausziehend, immer ohne den Blick von Pricketts Gesicht abzuwenden.

Er biß eine Cigarrenspitze ab, spuckte sie aus und begann zu rauchen.

»Sie waren heute früh sehr großmäulig und gewaltthätig,« bemerkte er auflachend, »jetzt scheinen Sie etwas gelindere Saiten aufzuziehen!«

»Das ist nicht zu leugnen.«

»Ich habe Schulden bei Ihnen und werde sie mit Zinsen heimzahlen, darauf können Sie sich verlassen.«

»Sie haben die Karten in der Hand – spielen Sie aus!«

»Werde ich! Haben Sie eine Ahnung, was für ein Spiel es gilt?«

»Nein,« gestand der Gefangene. »Mit der Zeit werde ich's ja merken.«

»Gewiß, gewiß. Ich bin Ihnen ja drei Jahre schuldig, das wissen Sie doch?«

Die Anspielung war verständlich.

»Die will ich Ihnen heimzahlen – nicht in zeitlicher Ausdehnung, aber sonst unverkürzt. Es paßt mir, Sie von Anfang an meine Karten sehen zu lassen. Unser Haus habe ich auf drei Monate gemietet – die Miete ist voraus bezahlt. Es ist keine Menschenseele darin, als Sie und ich, und von morgen an sollen Sie der einzige Bewohner sein – ich trete Ihnen meinen Mietvertrag ab. Begreifen Sie die Sache? Aha, Sie werden ja bleich! Erinnern Sie sich vielleicht, wie Sie mir einmal in Berlin in Ihrer hochnäsigen Weise sagten: ›Joseph Prickett einschüchtern, das lassen Sie sich nur vergehen, mein Bester!‹ Jetzt scheint mir Joseph Prickett doch etwas eingeschüchtert zu sein. Oder nicht, mein Gutester?«

»Nein. Das gelingt Ihnen nicht, nicht einem Dutzend von Ihrer Sorte!«

»Sie lügen! Sie stehen Todesangst aus!«

»Ich lasse mich auf kein Wortgefecht mit Ihnen ein,« versetzte Prickett, die verdorrten Lippen vergebens mit der Zunge anfeuchtend, die selbst trocken war. »Sie spielen das Spiel eines Tollhäuslers, das wissen Sie selbst. Soviel ich weiß, haben Sie acht Jahre gesessen, für dieses Stück Arbeit bekommen Sie auf alle Fälle Lebenslängliches oder, falls Sie's ganz durchführen, den Galgen.«

»Ach, mein Bester! Stellen Sie sich nur das nicht vor! So ungeschickt hab' ich's dieses Mal nicht angefangen! Gute Nacht jetzt, mein trefflicher Inspektor – wünsche Ihnen angenehme Träume!«

Damit stand er auf, stieß den Stuhl weit zurück und beugte sich mit höhnischem Grinsen über den Gefesselten. Jetzt hob er die Hand, als ob er ihm ins Gesicht schlagen wollte, aber sei's, daß er das überhaupt nicht ernsthaft gewollt hatte, sei's, daß er die Regung bereute, genug, er ließ die Hand sinken, drehte das Gas ab und ging. Die elende Nacht verstrich langsam. Die Fesseln schnitten allmählich immer tiefer ein, die Qual des gehemmten Blutlaufs wurde von Stunde zu Stunde empfindlicher, der Durst steigerte sich und das Sausen und Hämmern im Kopf wurde immer lauter. Die Geräusche der Außenwelt verstummten nach und nach, und trotz Schmerz und Bangigkeit versank der einsame Mann in dumpfen Schlaf. Ein grauer Herbstmorgen war angebrochen, als Prickett die Augen wieder aufschlug; er erkannte jetzt, daß das einzige Fenster des Zimmers durch einen aufgenagelten Teppich verdunkelt war. Dieser war indes nicht lang genug und darunter kam eine Gardine und ein Rollvorhang zum Vorschein. Unwillkürlich machte er den Versuch, die Glieder zu recken, aber die Fesseln hinderten jede Bewegung, und nun trat sein ganzes Elend, Durst, Kopfschmerzen, Krampfigkeit aufs neue in sein Bewußtsein. Trotzdem faßte er alle Möglichkeiten ins Auge, überlegte, wie lang es anstehen werde, bis er vermißt und von der Polizei gesucht werden konnte, aber sehr tröstlich waren die Aussichten nicht. Frau Perks war daran gewöhnt, ihn zu jeder Tages- oder Nachtstunde aus und ein gehen zu sehen, und beunruhigte sich längst nicht mehr, wenn er selbst eine volle Woche ausblieb. Er hatte sich früher alle Erkundigungen und Bemerkungen über seine Abwesenheit verbeten, und die gute Frau hatte sich längst begnügt, bei der Heimkehr einfach zu fragen, ob er noch etwas essen wolle.

Auch auf dem Polizeiamt konnte er nicht vermißt werden; er hatte ja keinen Bericht mehr zu erstatten! Folglich war er einfach von aller Welt abgeschnitten, hatte niemand, der nach ihm fragen, sich um ihn sorgen würde.

Diese trostlose Erkenntnis versetzte ihn in Wut, und er begann sich herumzuwälzen, aber seine Fesseln schnitten ihn derart ins Fleisch, daß er sich wohl oder übel bequemen mußte, geduldig zu bleiben.

Der Wagenverkehr hatte wieder begonnen und blieb nun ziemlich stetig im Gang, die Turmuhr schlug und schlug, das Tageslicht nahm zu, aber nichts unterbrach die Einförmigkeit seiner Lage, nichts kam, seine Beschwerden zu lindern. Prickett hätte laut stöhnen mögen, aber der Gedanke, daß der Feind ihn belauschen und sich daran weiden könnte, veranlaßte ihn, still und stumm liegen zu bleiben.

Endlich hörte er einen Fußtritt und Gläserklirren. Ein Brett mit einem Glas und einer Sodawasserflasche tragend, kam Engel herein.

»Ich pflege um diese Zeit etwas zu trinken und will's hier thun,« bemerkte er.

Er goß etwas Cognac ein, entkorkte das Sodawasser, das wild überschäumte und füllte das Glas damit.

»Ihre Kehle ist vermutlich gehörig trocken?« sagte er, indem er mit höhnischem Grinsen den Trunk hinuntergoß.

»Soll noch viel trockener werden mit der Zeit, das werden Sie sehen!«

Er setzte sich wieder einige Minuten ans Bett, stellte dann das geleerte Glas und die Flaschen auf sein Brett und ging damit ab. Daß dieser halsstarrige Geselle keinen Seufzer, kein Stöhnen verlauten ließ, trübte Engels Morgenfreude ein wenig.

Zwei Stunden verstrichen, wie Prickett auf der Turmuhr nachzählen konnte, dann kam Engel abermals.

»Drei Jahre der Schande, des Elends und der Langeweile hatte ich durch Sie,« redete er den Gefangenen an, »Sie haben jetzt noch keine vierundzwanzig Stunden – wie gefällt Ihnen der Scherz? Wie gesagt, nicht nach der Zeitdauer, aber im übrigen will ich pünktlich zahlen.«

Jetzt wurde laut und heftig an der Hausthüre geklingelt, und Engel schlich auf den Zehen hinaus. Prickett horchte angestrengt, als aber willig geöffnet und laut gesprochen wurde, schwand seine Hoffnung.

»Wir wollen uns den Burschen besehen,« sagte eine Stimme ganz deutlich, und nun kam es die Treppe herauf – es mußten drei Männer sein.

»Da liegt er,« sagte Engel, die Thür öffnend und seine beiden Begleiter einlassend.

Zu welchem Handwerk beide gehörten, war leicht zu erkennen, so verschieden sie auch in Einzelheiten waren. Der eine war über die Vierzig hinaus, der andre wohl ein Dutzend Jahre jünger. Der ältere hatte in Kleidung und Auftreten etwas vom Sportsman, der jüngere hätte ein verabschiedeter Offizier sein können. Beiden aber sah man die Gewohnheit nächtlichen Lebens und den Alkohol an, beider Augen waren frech und geistlos. Sie waren gut gekleidet und verrieten, daß sie einst zur guten Gesellschaft gehört hatten, wie, daß sie jetzt nichts mehr mit ihr zusammenhielt. Ihre Blicke waren so erbarmungslos, als man nur wünschen konnte, und doch schimmerte dem Gefangenen ein Hoffnungsstrahl auf. Engel hatte ihn mit dem Tode bedroht und war der Mann, Ernst zu machen, ein in Gemeinschaft verübter Mord ist dagegen ein seltenes Vorkommnis, und so ruchlos eine Gaunerbande sein mag, gewöhnlich zieht sie sich doch mit Grauen vor dem zurück, der Blutschuld auf sich nimmt. Zudem waren diese Männer für Prickett gänzlich fremd, und das hob seinen Mut.


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