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VI. Von der politischen Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland

Demosthenes wurde einst gefragt, welches das erste und wichtigste Erfordernis der Beredsamkeit sei; er antwortete darauf, nach dem Zeugnisse des Cicero und Quinctilian: es sei der Vortrag. Auf die Frage, welches das zweite Hauptstück der Redekunst sei, antwortete er abermals, der Vortrag; auf die Frage, welches das dritte, gab er dieselbe Antwort. Es sei nicht bloß das erste, sondern das einzige Erfordernis, schien er damit sagen zu wollen. – Wir, in der Verzauberung der Schrift Befangene, vernehmen diesen Ausspruch des großen Mannes nicht ohne einiges Befremden, und trösten uns über die darin enthaltene Paradoxie damit, daß wir annehmen, der Redner lege dieses ungebührliche Gewicht auf den Vortrag, weil dieser die Schwierigkeit gewesen sei, mit welcher er besonders zu kämpfen gehabt habe. Aber sollte das Geheimnis der Redekunst wirklich wo anders liegen, als in dem Momente, wo sie durch das Ohr in das Herz des Hörers überströmt? Von der dunklen, verborgnen Stelle an, wo der Gedanke des Redners entspringt, bis dahin, wo er in seiner vollendeten Klarheit und Majestät ans Licht tritt, geht er allerdings durch unzählige Verwandlungen hindurch; die mannigfaltigsten Gefühle erwachen, drängen sich durch Seitenwege ihm nach, ergießen sich in ihn, färben, erheben ihn. Aber die allergrößte Verwandlung erfährt er erst, wenn er nun wirklich als lebendiges Wort an die Brust des Hörers schlägt. – Die Verlegenheit, die jeder empfindet, der eine vorbereitete Rede vor einer Versammlung aussprechen will, ist höchst natürlich; sie enthält das einfache Geständnis: »Was ich euch sage, sollte frisch und lebendig aus meinem Herzen in das eurige übergehn, in jedem folgenden Gedanken sollte schon enthalten sein, sollte schon einfließen eure lebendige Antwort, und was wir Auge in Auge, an diesem Orte und zu dieser Stunde in einander finden und lesen, und was nur dieser unvorhergesehene Moment, und kein anderer, je wieder ebenso zusammenfügt. Statt dieser Frische nun bringe ich euch etwas kalt gewordenes, und deshalb schäme ich mich; statt daß meine Rede euch unmittelbar ergriffe, und fester und fester uns umstrickte in dem großen Gedanken, auf den ich es abgesehn, läuft sie nun neben euch her, berührt euch gelegentlich, und wo es etwa der Zufall will, verfehlt euch aber da, wo sie es bestimmt auf euch angelegt hatte, gewiß.«

Man kann eine Rede mit der größten Genugtuung niedergeschrieben haben; und da sie gehalten werden soll, findet man das meiste an der unrechten Stelle. Es ist ein Gefühl, wie es ein junges Mädchen bei der Toilette und bis zu dem Augenblick, wo sie in die Gesellschaft eintritt, haben mag; der Mut, die Zuversicht, die Vorstellung von dem Eindruck, von der bestimmten Wirkung, die sie machen werde, das ganze Gebilde einsamer Selbstgefälligkeit verschwindet vor der völlig unerwarteten, völlig unberechneten Wirklichkeit; was man mitbrachte, worauf man am sichersten baute, gilt wenig, wird überglänzt; man herrscht nicht, wie man geglaubt hat, man muß sich schicken, fügen; die Seele muß in der Geschwindigkeit, mitten in der Versammlung, eine ganz neue Toilette machen. Sie hatte unter den Träumereien am Spiegel vergessen, daß solch eine Versammlung antwortet und ihre besonderen Gedanken hat, und nicht die eigenen Phantasien wieder zurückgibt, wie der Spiegel. – So nun ist es mit der Rede; sie ist eigentlich nicht eher da, als bis sie leibhaftig vor denen ausgesprochen wird, die dadurch ergriffen werden sollen. Pronunciatio übersetzt Quinctilian das Wort des Demosthenes; das deutsche Wort Vortrag bezeichnet nur unvollständig was er meint. Seine eigentliche Meinung war: es redet ein Gott durch den Mund des Menschen, wo dieser wirklich redet; und der Gott soll nicht etwa auf die Hörer warten, sondern diese müssen erst zugegen sein, dann erscheint er. – Das ist der Zauber jener unwillkürlichen Beredsamkeit, welche der große Moment selbst herbeiführt; wenige abgerissene Worte, weil sie recht in die Gegenwart hineinfallen, und der Disposition des Redners, und seiner Versammlung gegeneinander, wie auch den Veranlassungen, dem Gemütszustande recht angemessen sind, können Wirkungen hervorbringen, welche die absichtliche Redekunst nie erreicht. Es gehört ein gewisses Zusammentreffen dazu, welches ganz außer dem Gebiete der einsamen menschlichen Kraft, oder auch der Verabredung liegt, einer Fügung, die, am natürlichsten, göttlichen Einflüssen zugeschrieben wird, wie auch die unerwartete Klarheit göttlicher Ideen, die solchen Wirkungen immer zum Grunde liegen, die Nähe des Überirdischen andeutet. Es ereignet sich dieses Höchste in allen Künsten; und so wird das Hauptstück der Beredsamkeit eine gewisse gehorsame Stimmung der Seele, wie der besonders tätigen Organe, der Stimme nämlich und des Ohrs sein, damit sie unmittelbar eingreifen können in solches Zusammentreffen, die Nähe des Göttlichen aussprechen und verkündigen können. Diese erhabene Gegenwart des Geistes, wie der Organe, – denn eines ist unzertrennlich von dem andern, – meint Demosthenes unter der pronunciatio; und wer will leugnen, daß, wenn irgendeines, so dieses das Hauptstück der Redekunst sei?

Erlauben Sie mir ein Beispiel, welches durch seine Eigentümlichkeit sich besonders empfiehlt, und um so mehr hierher gehört, weil zwei der größten Redner unsrer Zeit, Burke und Fox, die handelnden Personen sind. Bekanntlich war der britische Parlamentsredner Edmund Burke der erste Mensch in Europa, der den Charakter der französischen Revolution erkannte, der schon damals, als noch alle diejenigen, denen es vergönnt war, eine solche Begebenheit frei von allem Privatinteresse zu erleben, noch von ihr befangen und umstrickt waren, ihre Richtung, ihr Folgen nicht bloß erkannt, sondern ausgesprochen hatte. Er war in dem Augenblick der größten Gefahr, die sein Vaterland und diesen Weltteil bedrohte, ich möchte sagen, die einzige Schildwacht, die an ihrem Posten war. Eine beinahe zwanzigjährige Freundschaft, geschlossen an dem einzigen Ort in Europa, wo es der Mühe wert sein kann, Verbindungen auf Leben und Tod einzugehen, teils weil er nie entweiht worden, teils weil es ein ernsthafter Ort ist, und die meisten andern gegen ihn nur Lustörter, im Parlament von Großbritannien, verband mit jenem großen Manne den jüngeren Fox. Eine Verbindung, die auf nichts anderem beruhen konnte, als auf der Größe und Göttlichkeit ihres Gegenstandes, mußte erschüttert werden, als über das Wesen der bürgerlichen Freiheit, über den altbritischen und neufranzösischen Sinn dieses Wortes, erst ein Streit über die wörtliche Auslegung, dann über die praktische Anwendung sich erhob, und dann unmittelbar das ganze Gebäude dieser Freundschaft ergriff und verzehrte. Fox sah in der Revolution nichts, als den Triumph der Sache, für die sie beide gelebt hatten; Burke hingegen ihren Untergang, und mit einer Rührung, die zu menschlich ist, als daß sie sich nicht jedem Herzen von selbst darstellen sollte, das Opfer, welches sie ihm selbst abforderte in seinem Freunde. Es kostete ihm den schönsten Irrtum seines Lebens, die Meinung, die er zwanzig Jahre hindurch von Fox genährt hatte.

Die Trennung war beinahe ein Jahr hindurch undeklariert geblieben. Die Täuschung, einander selbst festzuhalten, nachdem der gemeinschaftliche Boden verschwunden ist, auf dem man miteinander gelebt, nährt jeder, so lange er kann, bewußtlos. – Beide Freunde hatten sich vermieden, und eine heilige Scheu, die solcher Bund, wie solche Trennung wohl verdient, hielt jeden Dritten von aller versöhnenden, wie von aller entzweienden Einmischung zurück. Es war in der Nacht vom 11. zum 12. Februar des Jahres 1791, als diese große Angelegenheit, als die Staatsangelegenheit dieser Freundschaft endlich im Parlamente zur Sprache kam.

Die Beredsamkeit hat nie größere Wunder getan, als in dieser Nacht; alles aber war unerwartet, wie von einer höheren Macht zubereitet. Die beiden Redner, und mit ihnen alle Zeugen, vergaßen sich selbst; die Ordnung des Parlaments, seit einem Jahrhunderte ununterbrochen, stand stille; wo man keinen Namen nennen darf, damit sich die Persönlichkeit nicht aus den großen Verhandlungen ungebührlich heraushebe, da galt es zehn Stunden hindurch nur die Persönlichkeit zweier Mitglieder. Der Anfang war kalt und ruhig; es betraf die Verfassung jenes Teils von Nordamerika, der England nach dem letzten Frieden verblieben war. Es lagen zwei Pläne auf dem Tische, der erste im altbritischen, der andere im neufranzösischen Sinne der Freiheit. Gleichgültige Redner sprachen lange, und die Nacht war schon sehr vorgerückt, als Burke das Wort nahm. Nach wenigen schneidenden Urteilen über den vorliegenden Gegenstand und die bisherige Erörterung, ging er mit einer kurzen Katonischen Wendung auf die größere Sache der französischen Revolution über. In der peinlichen Stimmung, in der die Fürsten und Helden von Troja die warnenden Verwünschungen der Cassandra angehört haben mögen, wartete das Parlament auf die Rückkehr des Redners zu dem vorliegenden Gegenstande über eine Stunde lang. Es schien kein Gefühl zu antworten, aber die Scheu der Ehrfurcht, wie vor einem großen Kranken, verhinderte die Unterbrechung; die prophetische Melancholie einer einzigen Seele lag drückend auf der ganzen Versammlung, bis eine Wendung der Rede eine neue, tiefere Erörterung der Folgen der Revolution ankündigte, und somit noch eine Stunde in Beschlag zu nehmen schien. Ein fast allgemeines Geschrei zur Ordnung unterbrach ihn; Fox schwieg; der große William Pitt, allein in der ganzen Versammlung, erklärte seine Meinung, daß der Redner sehr wohl in der Ordnung sei. Es ward über die Frage gestimmt, und das Parlament von England entschied, daß Burke in der Ordnung sei. Hierauf erhob er sich von neuem, und fuhr fort in einem Strom von Beredsamkeit, dem keine Feder folgen konnte. Die Zeitungsschreiber gaben angefangene Perioden, und bemerken zu mehreren Malen in dem Text ihres Berichts die Totenstille, die über der ganzen Versammlung ruhte. Plötzlich, da er das Gemälde der Wirkungen der französischen Revolution mit einem Zitat aus dem Macbeth vollendet hatte, stockte Burke. Es war Mitternacht; niemand wagte aufzustehen, und, mit verhaltenen Tränen, mit ungewöhnlich sanfter Stimme fuhr er fort, einen Blick auf Fox werfend: »Das Gift der Revolution ist mit gemeinen Opfern nicht zufrieden; sein Stachel sucht das Hohe auf Erden, das Stolze, das Schöne, das recht Erprüfte, die heiligsten Verbindungen des Lebens, und wird nichts verschonen. Ich selbst, am Rande des Grabes, müde nach dreißigjähriger rechtschaffener Arbeit für England und für die Freiheit, hatte mich umgesehen nach einem Erben, dem ich das Vermächtnis meiner Sorgen, meiner Hoffnungen, meiner geheimen Gedanken über dieses Jahrhundert, und über dieses mein Vaterland getrost übertragen, und dem ich sagen könnte: Vollende, du Glücklicher, was ich gewollt! – Ich habe ihn gefunden; achtzehn Jahre hat er mein Testament und mich, wie das Bild seines Vaters, am Herzen getragen; – die Revolution ist ausgebrochen, und ich habe ihn nicht mehr; ich bin allein, mein Blut ist ausgestorben in diesem Hause, ich sterbe unbeerbt.« – Bei diesen Worten hörte man vernehmlich, daß Fox, ohne aufzustehn, den Blick vor sich hingesenkt, sagte: Unsrer Freundschaft wird das nichts anhaben. – Lassen Sie es sich von Zeugen beschreiben, wie diese alltäglichen Worte, im Tone einer gewissen Beklemmung und Unsicherheit gesagt, die Versammlung getroffen haben. Fünfhundert Personen waren nunmehr in Zwei verwandelt, in Einen vielmehr; ganz England hing an den Lippen dieses Einen Menschen, der mit einer eiskalten Stimme fortfuhr: »Diese Freundschaft ist zu Ende!« – dann aber plötzlich, wie von dem ganzen Feuer seiner Jugend überkommen, Fox und seine Sorgen und seine Jahre abschüttelte, die alten, längst entschlafenen Helden der britischen Freiheit herbeirief, tröstend von der Freiheit sprach, die das Volk dieser unüberwundenen Inseln eigentlich meinte, er, der Einsame, eine große Partei aus dem britischen Altertum um sich her versammelte, und, wie von einer fernen sonnenhellen Zukunft seines Vaterlandes verklärt, die vierstündige Rede beschloß. Es war ein Viertel nach zwei Uhr morgens; die Versammlung erschrak, als er aufhörte; niemand war zum Reden gefaßt. Fox stand auf, und im Augenblicke war die Totenstille wieder da; ein Strom von Tränen brach ihm aus den Augen; er setzte sich sprachlos nieder. Das Parlament wartete einige Minuten; alle Augen gerichtet auf die beiden Freunde, die stumm einander gegenüber saßen. Man fand es unanständig, nach solchem Ereignis weiter zu reden; die Sitzung wurde aufgehoben. –

Ich behalte mir vor, die Geschichte jener merkwürdigen Nacht, in der, wenn je aus dem Gefühle einer Stunde Weltbegebenheiten herzuleiten sind, das Schicksal von England, und von mehr als England, entschieden worden ist, aus allen zerstreuten Materialien, Zeitungsberichten, Parlaments-Rapports, mündlichen Aussagen u. s. f. vollständig zusammen zu tragen.

Man hat in den Künsten die Erfahrung gemacht, daß die größte augenblickliche Wirkung, z. B. die des Schauspielers, die vergänglichste ist; und daß jede Kunst von der ewigen Gerechtigkeit der Weltordnung für die geringere augenblickliche Wirkung entschädigt wird durch die Dauer. Etwas Ähnliches wird der Beschreiber jenes großen Auftritts anerkennen müssen. Nur die äußeren Umstände lassen sich wiederherstellen und festhalten; das eigentliche Wunder der Beredsamkeit ist nur für die beneidenswürdigen Gegenwärtigen. Und wären uns alle Worte jener Nacht zurückgeblieben: wer kann die Töne wiedergeben? – Das ist der Vorzug des Dichters! Für alle Leiden, für alle Resignation, für das Entbehren der gegenwärtigen, anwesenden Majestät entschädigt ihn die Dauer. Eine Rede, wenn sie einmal erkaltet ist, wenn sie herausgenommen wird aus dem Zusammenhange ihrer Geburt, möchte ich sagen, niedergelegt in die Schrift, kann auf unzählig verschiedene Weise gelesen werden, weil sie eben, ohne ihren Autor, nichts ist, weil sie nicht unabhängig, nicht entlassen ist vom Verfasser, nicht emanzipiert, nicht freigesprochen, wie das Werk der Poesie: so muß der Vorleser den Mangel ergänzen, aus freier Kraft die Seele, die dazu gehört, die Persönlichkeit des Redners hinzutun; und so erhalten wir etwas andres, als die Rede. Ich glaube, eine Rede läßt sich deutlicher und wahrer beschreiben, als rezitieren, ein Werk der Poesie hingegen trägt seine Seele in sich; es ist völlig unverständlich ohne diese Seele, ohne diesen ganz eigentümlichen Ton und Bewegung: es kann unempfunden durch eine ganze stumme Generation hindurchgehn. Der erste Enkel, der es versteht, und, was ich voraussetze, und was von aller Bildung vorausgesetzt werden sollte, nur die Organe der Stimme und des Ohrs in Bereitschaft hat, kann es nur auf Eine mögliche Weise verstehen und lesen. Ort, Zeit, äußere Umstände, alles, was auf den Redner einwirkt (einen Akkord der äußeren Gegenwart möchte ich es nennen), treffen nie wieder so zusammen, hier nur flammt das Göttliche auf, es erscheint im Fluge. In der Poesie wohnt es; diese Akkorde stammen aus der Seele des Dichters; nichts Äußeres, Augenblickliches hat eingegriffen; jedes reine Gemüt, still in sich selbst, und auf die Kräfte, auf die Begebenheiten in seiner menschlichen Brust beschränkt, kann sie wiederherstellen.

Es ist also klar, daß der ganze Standpunkt für die Theorie der Beredsamkeit verrückt wird, wenn man ihr eigentliches Wesen, wie es die ganze neuere Rhetorik tut, in das Konzept setzt, in das vorbereitende häusliche Erdichten und Aufschreiben der Rede. Die Rede kann durchaus nicht eher vorhanden sein, als der ganze Akkord von Menschen und Umständen, in den sie eingreifen soll, wirklich da ist; also kann sie nicht eher vorhanden sein, als in dem Augenblicke, wo sie auch schon gesagt werden muß; folglich ist das Sagen, das Aussprechen der Rede nicht bloß das Haupterfordernis, sondern das einzige Erfordernis zur Beredsamkeit; folglich hat Demosthenes recht. – Im britischen Parlament schreibt bekanntlich nur der Anfänger seine Rede auf; und wer eine wahrhafte Rede niederschreiben will, vermag es nur, indem er alle äußern Verhältnisse durch eine poetische Fiktion hinzusetzt, die Rede selbst aber vielmehr durch die Feder ausspricht, als schreibt. – Dies ist die praktische Natur der Beredsamkeit!

Die Schule der Beredsamkeit eröffnet sich also mit der Übung und Bildung der Stimme, wie des Gehörs, und nicht etwa mit dem, was man in unsern Schulen sehr ungeschickt Stilübung nennt. Stil in der Rede ist jenes Unaussprechliche, und im gemeinen Wege völlig Unerlernbare, welches das lebendige Leben hinzutut. Der Charakter, den die Waffenübung der Seele, den die Heldengenossenschaft mit großen Männern, und ihrer selbst bewußten Meistern absetzt, klingt durch die Rede hindurch, dies ist die Seite, von welcher auch der späteste Vorleser einer Rede gebunden ist; dieser Grund der Rede ist ein bestimmter, der nicht verändert werden darf, nicht verändert werden kann. In den griechischen und britischen Rednern drängt er sich von selbst auf. – Mit dem erhabenen Wesen nun, mit jener freien Eigentümlichkeit einer ganzen Gemeinde von Rednern und Helden, denen sich der einzelne Redner, wenn er nach vielfältigen Kämpfen den Meridian seiner Kraft erreicht hat, mit ebenso freiem Bekenntnis, mit einer Art von männlichem Gelübde anschließt, – soll unsere früheste Jugend vertraut werden; zehnjährige Knaben sollen sich, die Feder in der Hand, diesen Stil des Geistes angewöhnen. Ein gewisses Gesichterschneiden der Seele wird ihnen gelehrt. Erst lernen wir lesen und schreiben, dann den Stil und wären nun ungefähr auf dem Punkte, wo die Griechen aufhörten, als ihre Nationalbildung erreicht war. – Wir aber treten nun erst ins Leben, und lernen stammeln, sprechen, wenn's glückt, reden wenige; überglücklich, wenn in den spätem, reiferen Jahren des Lebens uns etwas entschlüpft, was niedergeschrieben zu werden und zu bleiben verdient; überglücklich, wenn in dieser reiferen Zeit wir endlich einen der großen Autoren der Vorzeit verstehen lernen, und sich dann nun endlich die Mühe bezahlt macht, mit der wir so frühe lesen gelernt. Der Stil aber? des Lebens, der Rede, der Schrift? – wird er in der Stuben-Konversation über die Zeitungen, und über die Schnitzer der Feldherren und Regenten gelernt, oder im Studierzimmer, in den Büros, in den einsamen Werkstätten handwirkender, nachahmender Künste, ohne Händereichen und Gemeinschaft der Geister? – »Ich habe wenige Frauen gefunden, sagt der Verfasser des Woldemar, die ihren Anzug auf eigentümliche Weise zu besorgen wußten«; ich habe wenige Männer gefunden, füge ich hinzu, die nur im Privatleben, wohin alle ihre Sorge gerichtet war, unabhängig gewesen wären und selbständig, und frei von Manier und Ziererei. Wie sollte ich von ihnen verlangen einen Stil, ein freies Eingreifen in das öffentliche Leben, ein sich selbst Behaupten, indem man sich einer ganzen Republik von Geistern anschließt, der Denk-, Sprech- und Handlungsweise einer ganzen Korporation großer Naturen sich mit Freiheit, mit Stolz und Demut unterwirft. Dies ist das Wesen des Stils, worin wir unsere Knaben üben!

Ich glaube, ich habe in einzelnen großen, vielleicht noch allzu harten Zügen ausgedrückt, was der Anfang, was das Ende der Redekunst sei. Der einzelne kann für diese gewaltigste und gegenwärtigste unter allen Künsten nichts tun, als seinen Mund bilden; die Nation bildet im Laufe der Jahrhunderte durch die anbetende Ehrfurcht, mit der sie an ihren Helden hängt, mit der sie alles Große, was ihr Boden erzeugt, zusammenknüpft, wie in ein Pantheon zusammenstellt, das andere Hauptstück hinzu, nämlich den Stil; die Nation bildet hinzu jene gewisse harmonische Einheit unter allen Erzeugnissen ihrer Kunst, zumal der höheren Beredsamkeit, um derentwillen nun das einzelne zu bleiben, durch den Stil, durch die Feder fortzuleben verdient. Nichts bestätigt diese Darstellung so als der einzige Schauplatz echter Beredsamkeit, der diesem unserm stummen Jahrhundert verblieben ist, und den ich im Anfange meiner heutigen Vorlesung zu vergegenwärtigen suchte: das britische Parlament.

Die Grundlage der Erziehung des britischen Redners ist der Umgang mit den Alten, die nur versteht, wer sie sich sprechend, nicht aber schreibend denkt; keine Stilübungen, aber vielfältige Versuche in Versen. Die Poesie, die Quelle des Geschmacks, wird gegenwärtig erhalten, künstlich hereingeleitet in die Brust des künftigen Redners. So vorbereitet, ergreift ihn das politische Leben, und das unnachlassende Gespräch des Parlaments, der Gerichtshöfe, und zuletzt der Stil der Redner von England. Dies war die einfache Vorschule des großen William Pitt-Chatham, Burkes, des jüngeren und größeren William Pitt, und Foxens, dieser großen Heerführer der britischen Beredsamkeit, durch deren Mund England gesagt hat, was es sei. Die erhabensten ihrer Werke – eines davon habe ich zu beschreiben versucht – sind hingestorben mit ihnen selbst; – denn es muß bemerkt werden, ausdrücklich bemerkt, daß England noch besteht, nachdem diese Säulen eingestürzt sind, die es zu tragen schienen. Die erhabensten ihrer Werke sind dahin, wie die großen Veranlassungen, die sie erzeugten. Von Fox sind kaum wenige Worte erhalten, aber nichtsdestoweniger wird alle Erinnerung an seine Irrtümer und Schwächen niedergehalten, aufgewogen durch den wortlosen Nachklang dessen, was er durch die Gewalt seiner Rede für die Gegenwart gewesen ist. Stat nominis umbra, nur der Schatten seines Namens ist geblieben, und dennoch heute, mehrere Jahre nach seinem Tode, sind die Gemüter von dem Eindruck seiner Stimme noch nicht zurückgekehrt in ihre alten Fugen. Dieser Wortredner des Verderbens, gepeitscht von allen Furien des Ehrgeizes und einer Sinnlichkeit, wie sie sonst nur der tropische Himmel auszubrüten pflegt, wußte einzugehen in allen Eigensinn, in alle Unart, wie in allen Stolz seines Volkes; die ganze Vergänglichkeit von England, folglich auch alle Macht über die Gegenwart, standen ihm zu Gebote, und die ungezogene, aber im Grunde wohlwollende, schwache und immer berauschte, aber freigebige, großmütige Seele dieses Mannes spiegelte das wirkliche England mit allen seinen Einzelheiten und Sichtbarkeiten so deutlich und doch so veredelt ab, daß er der Mann des Volkes bleiben mußte bis an sein Ende.

Ihm achtzehn Jahre zur Seite, und dann fünf Jahre gegenüber stand der königliche Redner Edmund Burke, Stellvertreter des unsichtbaren Englands, der Geisterseher seiner Geschichte, der Prophet seiner Zukunft; ein rechtschaffenes, still bürgerliches Herz, das nichtsdestoweniger England ganz ausfüllte bis an den Rand; ein behaglicher, sich in alle nahen Umstände einwohnender Geist, dem nichtsdestoweniger Europa zu enge war, und eine Rede, an der selbst die Gegner nichts auszusetzen wußten, als die mitunter allzu blendende Hoheit, die allzu schlagende Kraft und den kassandrischen Trübsinn, in dem sie sich verlor, unter den Gewitterwolken, welche die letzten Jahre seines Lebens hindurch über England ruhten. Ich habe es oben angedeutet, er hatte keine Partei in dem wirklichen Parlament und dem damaligen Volk. Im Parlament, wo sich die Parteien, soviel es gehen will, auch in den Sitzen absondern und gegenüberstellen, setzte er sich unten im Grunde des Hauses allein; William Pitt, die Grenville's und alle Regierenden seiner Zeit horchten still auf ihn; – aber seine Partei war bei denen, die nicht sterben in England wie anderswo, deren Geist fortsitzt im Parlament, wo ihn keine Gegenwart, und sollte sie selbst durch Foxens Mund reden, verdrängen kann. Und so hat er mit dem Beistande dieser Partei, oder – haben sie durch seinen Mund mehr gewirkt und vollendet, als alle Parteien der Zeit durch ihre Heerführer. Wenn die weltliche Beredsamkeit, und alles, was die Kunst der Rede über derbe, tüchtige, wohlgenährte, lüsterne Weltkinder vermag, in Fox seinen Gipfel erreicht hat: so hat die heilige Beredsamkeit in diesem Jahrhundert nur durch Einen Mund geredet, durch den Mund Burkes. Wer möchte dieser Zeit predigen, ohne die teuren Überreste dieses großen Mannes, insbesondere die der letzten Epoche seines Lebens zu studieren, zu verehren, in allen feierlichen Augenblicken des Lebens; wie in einer Wallfahrt, dahin zurückzukehren. Welcher Ohnmächtige wird es wagen, über die Angelegenheiten der Völker zu reden, ohne die Gewalt über das teure Abwesende, Untergegangene, von unkeuscher Größe Verdrängte, von Burke zu lernen, ohne von ihm zu lernen die gewaltige, ihm ganz eigentümliche Waffe des tragischen Witzes.

Diese beiden großen Redner haben England ausgedrückt, der eine, wie es ist, der andre, wie es war; den beiden andern, den Pitts, den größten Staatsmännern ihres Jahrhunderts, verdankt England, daß es, wie es war, so blieb, und, indem es blieb, größer wurde, als es war. Auch sie haben mit der unmittelbaren Gewalt der Rede viel mehr, als durch schriftlichen Befehl England regiert; sie haben verdient, jener im Rednerstuhl, inmitten des Parlaments und seiner Taten, und der Denkmale seines Lebens, und bestrahlt von dem Glänze seines Vaterlandes, den er entzündet, zu sterben; dieser, der jüngere Pitt, verdient, daß, als er nach sechzehnjährigem Ministerium am Tage nach seiner Verabschiedung ins Parlament trat, und an den Sitzen der Minister vorüberging, diese, die Neuerwählten, ihm instinktartig Platz machten, und das ganze Gespräch der ersten Abende verrückt war, da man diese Stimme von einer andern Seite her vernahm.

Bin ich von meinem Gegenstande abgekommen, habe ich mich bloß überwältigen lassen von der Erinnerung an diese großen Charaktere, oder gab es wirklich keinen kürzeren Weg für die Anregung dessen, was mit diesen Vorlesungen ich eigentlich meine, als sich in die Mitte des Gegenstandes zu versetzen; – die Konzeptansichten der deutschen Redekunst, das stumme Vergnügen, eine Mosaik aus fremder Gesinnung zusammenzusetzen, die rhetorischen Adressen an die Wand, oder wenn's hoch kommt, an den Spiegel, beiseite zu werfen; – und die Meinung, als hätte ich es auf Regeln für die Abfassung und Korrektur solcher Konzepte abgesehen, zu widerlegen, durch eine Erzählung von großen Rednern und ihren Taten? – Entweder wird der Geist des lebendigen Wortes geweckt; entweder Deutschland bekennt die unermeßliche Macht der Rede, die es schlummern läßt, oder die es doch vergräbt in die Einsamkeit der Bibliotheken; entweder die Jugend erkennt, daß die Frucht alles Denkens und Lernens lebendig auf den Lippen schweben müsse, daß man wohl dichten könne für die Welt, so wie die Welt für uns, aber keiner reden könne für den andern: oder dies Geschlecht möge nur unter seinen Stilübungen, unter seinen poetischen und philosophischen Phrasen vollends ersterben und verstummen. – Vergiß nicht, möchte ich der Jugend meines Vaterlandes zurufen, die große Lehre des Demosthenes: Was du deiner Zeit etwa Großes oder Tüchtiges zu sagen hast, – und es wird sie nichts treffen, wenn du sie nicht wirklich und leibhaftig anredest, – also, was du wirklich sagst und in Schriften niederlegst, liest nicht der trefflichste Zweite so wieder, wie du es empfunden hast; er trifft deinen Ton nicht, er liest sein Gemüt hinein, seine Zeit und die Umstände seines Orts. Du kannst ihm nicht befehlen, wie er dich lesen soll, so wie es der Dichter kann. Also wirf die Feder beiseite, wo sie nicht hingehört; denke nicht früher an die Nachwelt, als bis du die Gegenwart besorgt, schreibe nicht eher, bis du reden kannst, damit du zuletzt wenigstens Gesprochenes niederschreibst, und nicht Gedanken, die schon deine Seele geschrieben hat, statt zu denken, sprechend zu denken; totgebornes, kaltes Wesen, vor dem die besser empfindende, hoffentlich warmblütigere Nachwelt zurückscheuen wird. Sieh, die reichen Saatfelder, die jene großen Redner bestellten; die üppige Frucht, welche sie gebaut, hat die Jahreszeit, hat die Gegenwart, haben die Zeitgenossen weggemäht; sie lebt in der Kraft ihres Volkes und in neuen Ernten fort. Sie haben die Ewigkeit besorgt, indem sie des Augenblicks wahrnahmen; um die Spuren ihres großen Geistes zu kosten, halten wir ängstliche Nachlese auf den Feldern. Seine Werke auf die Zukunft zu bringen, ist, wenn überhaupt eine Rücksicht des Redners, doch nur eine zweite Rücksicht: die Werke des Redners müssen eigentlich sterben, allmählich, wie der Samen in der Erde, sie werden unlesbar, ihre Farben erblassen; nur die Werke der Poesie haben ewiges Leben; nie verlöschende Farben, oder doch einen Balsam, ein Salz des Lebens in sich, welches sie erhält, solange die Völker leben, welche sie gesungen. Der Redner hat die Gegenwart, der Dichter die Zukunft; resigniere er auf die Zukunft, wie sie auf die Gegenwart Verzicht tut. Was ihnen beiden gemein ist, worin beide eigentlich leben, das ist ja doch ewig! – Seine Werke der Zukunft zu übergeben und zu erhalten, ist des großen Redners zweite, sich selbst im Ganzen, wenn auch namenlos, in der Begeisterung des Ganzen fortzusetzen, ist des Redners erste Rücksicht.


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